Editorial

Forschen im rechtsfreien Raum

(28.10.2019) Das muss nicht sein, deshalb fordern einige Forscher ein verbindliches Regelwerk für die Tiefsee. Denn dort könnten noch einige biologische Schätze schlummern.
editorial_bild

Auch wenn es kontraintuitiv erscheint: Tiefsee und Hochsee sind keine Gegen­sätze. Im Gegenteil: Wer sich mit der Tiefsee beschäftigt, kommt in der Regel früher oder später mit den politischen Besonder­heiten der Hochsee in Kontakt. Diese ist nämlich – im Gegen­satz zur Tiefsee, die die weitgehend lichtlosen Meeres­gebiete unterhalb von 200 Meter einschließt – eher ein politisches Konstrukt. Nach Artikel 86 des Seerechts­überein­kommens von 1982 umfasst die Hochsee „alle Teile der Meere, die nicht zu einer ausschließ­lichen Wirtschafts­zone, zum Küstenmeer, zu den Binnen­gewässern eines Staates oder den Archipel­gewässern eines Archipel­staats gehören“. Hier wird also eine Aufteilung der Meeres­oberfläche beschrieben, von der weltweit 64 Prozent Teil der Hochsee sind. Auf das Ozean­volumen umgerechnet, steigt der Anteil sogar auf 95 Prozent. Ein großer Teil der Tiefsee gehört damit zu Hochsee-Gewässern.

Editorial

Reales Konfliktpotential

Dass es bei diesen Begriffen um mehr geht als um Wortklauberei, wissen Biologen, die in der Tiefsee forschen, denn sie arbeiten oft in einem nahezu rechtsfreien Raum. So untersteht die Hochsee keiner staatlichen Hoheit und steht zur Nutzung durch alle Staaten offen. Weit­gehend gilt das auch für die Forschung.

Was in der Theorie gut klingt, birgt in der Realität Konfliktpotenzial. Denn für solche Meeres­gebiete außerhalb der nationalen Gerichtsbarkeit (Areas Beyond National Jurisdiction, ABNJ), gibt es auch keine einheitlichen Schutz­vorschriften. Eine Ausnahme ist der Meeres­boden, der immerhin einer gewissen Kontrolle durch die Interna­tional Seabed Authority unterliegt. Dafür, was in der freien Wasser­säule erlaubt und verboten ist, gibt es dagegen kein verbind­liches Regelwerk.

Um das zu ändern, treffen sich Vertreter der Mitglieds­staaten der Vereinten Nationen seit 2018 in insgesamt vier Sitzungen, in denen interna­tional bindende Instrumente zum Schutz und zur nach­haltigen Nutzung der marinen Biodiver­sität in den Meeres­gebieten außerhalb der nationalen Gerichts­barkeit erarbeitet werden sollen. Die dritte dieser Sitzungen, Ende August diesen Jahres, hat eine internationale Gruppe von Wissen­schaftlern zum Anlass genommen, eine Bestands­aufnahme der bisherigen Kenntnisse und Dis­kussions­ansätze zum Schutz der Hochsee-Gebiete zusammen­zutragen. Auf deutscher Seite haben daran Angelika Brandt vom Frankfurter Senckenberg-Forschungs­institut, die über die Vielfalt der antark­tischen Tiefsee forscht, sowie Gabriele Dröge von der Forschungs­gruppe Biodiver­sitätsinfor­matik des Botanischen Gartens der Freien Universität Berlin mitgewirkt.

Bedrohte Tiefsee

Obwohl die Tiefsee rund 88% der Ozean­fläche ausmacht, ist sie noch immer weitgehend unerforscht. Das liegt nicht zuletzt am großen technischen Aufwand für die Proben­nahme in großer Tiefe bei hohen Drücken, eisigen Tempera­turen und völliger Dunkel­heit – vor allem für ärmere Länder ist das oft uner­schwinglich. So wartet ein Großteil der Tiefsee-Arten – manchen Schät­zungen zufolge sogar 95 Prozent – noch immer auf ihre Ent­deckung. Gleichzeitig ist die Tiefsee aber trotz ihrer Abgele­genheit heute genauso bedroht wie viele andere Ökosysteme – durch den globalen Klima­wandel, der Temperatur und CO2-Gehalt des Wassers verändert und dadurch ganze Meeres­strömungen beeinflusst, aber auch durch den Abbau von Rohstoffen am Meeres­boden, der weit­reichenden Einfluss auf umliegende Öko­systeme ausüben kann.

Arten drohen also zu verschwinden, bevor sie überhaupt entdeckt werden, und damit auch ihr biotechno­logisches Potenzial. So verfügen vor allem Mikro­organismen, die im Meer haupt­sächlich zur Arten­vielfalt beitragen, über einen reichen Schatz an Sekundär­metaboliten, der noch darauf wartet, gehoben zu werden.

Im Mittelpunkt der Überlegungen zum Schutz und der nach­haltigen Nutzung der Tiefsee-Diversität steht deshalb der Zugang zu den gene­tischen Ressourcen mariner Lebewesen (marine genetic resources, MGR). Insbeson­dere muss gewähr­leistet sein, dass dieser Zugang auch Forschern aus ärmeren und weniger technolo­gisierten Ländern zur Verfügung steht und das sowohl vor Ort, in Sammlungen und in Daten­banken. Unter dem Sammel­begriff MGR versteht man allgemein Material von marinen Pflanzen, Algen, Tieren, Mikro­organismen oder anderen Orga­nismen, das Erbgut enthält sowie die isolierte DNA selbst. Da damit sowohl Proben aus Wasser, Eis oder Sand zu den MGRs zählen, ist abzusehen, dass eine Neu­regelung für Forschungs­expedi­tionen sehr weit­reichende Bedeutung haben wird.

Weltweit verbindliche Standards

Um den freien Zugang zu MGRs zu gewährleisten, verlangen die Wissen­schaftler in ihrer Veröffent­lichung, dass sich die Staaten­gemein­schaft auf die Anwendung bewährter Verfahren zur Proben­nahme und zur Archi­vierung von Proben­material einigen und den Zugang zu Proben­material und Daten verbessern solle. „Das Grund­problem mit biolo­gischem Material aus Hochsee-Gebieten ist, dass es nicht unter das Nagoya-Protokoll fällt“, erklärt Mitautorin Gabriele Dröge. „Das Ziel der Publikation ist, einen Ist-Stand über Zugangs­regelungen zu Daten und Proben aus dem marinen Bereich zu beschreiben und Möglich­keiten zur Verbes­serung aufzuzeigen, in dem zum Beispiel Koopera­tionen mit natur­historischen Samm­lungen verstärkt und Daten­standards verwendet werden.“

Neben der Erfassung von Daten in standar­disierter Form gehören zu den Forderungen die Regis­trierung von Schiffs­expeditionen, die Publikation von Daten in frei zugänglicher Form (open access), die Hinter­legung von Beleg­exemplaren in Museen und Sammlungen sowie die Verknüp­fung von Sequenz­daten mit relevanten Zusatz­daten wie dem Fundort des Organismus und dem Aufbewah­rungsort der Beleg­exemplare. Geldgeber werden aufgefordert, die funda­mentale Bedeutung der Taxonomie anzuerkennen und Museen und Sammlungen so zu unterstützen, dass die lang­fristige Verfüg­barkeit von Forschungs­objekten sicher­gestellt werden kann. Zudem solle eine Stelle eingerichtet werden, an der all diese Vorgänge zentral koordiniert werden. Zuletzt betonen die Forscher, dass die zu schaffenden Richt­linien unbedingt flexibel bleiben müssen, um sich an den Fortschritt der Technik und des Wissen­stands anzupassen.

Zum Zeitpunkt der Verhandlungen war der Artikel zwar noch nicht veröffentlicht, aber Erstautorin Muriel Rabone vom Natural History Museum in London hatte einigen Delegierten Korrektur­abzüge zugeschickt. Mit der Reaktion ist sie zufrieden: „I have had a positive response to the perspectives we put forward, i.e. the need to focus on non-monetary benefits and fundamental biological research to achieving the goals of the treaty.“ Wichtig ist nun vor allem, dass Wissenschaft und Politik im Gespräch bleiben.

Larissa Tetsch


Rabone M. et al. (2019): Access to marine genetic resources (MGR): Raising awareness of best-practice through a new agreement for biodiversity beyond national jurisdiction (BBNJ). Frontiers in Marine Science, 6: 520




Letzte Änderungen: 28.10.2019