Editorial

Schöne Biologie: Schlaflose Gene

(30.08.2019) HIGHLIGHTS AUS 25 JAHREN LABOR­JOURNAL: Vor 15 Jahren beschrieben wir das Problem des HARKings, bevor es unter diesem Namen weithin bekannt wurde. 
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Es klingt einfach zu gut, das oberste Credo der experimentellen Forschung: Man formuliere eine messerscharfe Hypothese und entwerfe zwingende Experimente, die eindeutige Aussagen über die Hypothese liefern. Nur, um Hypothesen zu formulieren, braucht man zuerst etwas, das man beobachten kann. So wie Darwin die Galapagos-Inseln, oder Mendel seine Erbsen.

Und wenn es nichts oder wenig zu beobachten gibt? Dann ist schnell Schluss mit aller wissenschaftstheoretischen Eleganz. Dann wird meist mit möglichst neuer Technik solange im Trüben gefischt, bis sich ganz langsam gewisse Konturen herausschälen, die man irgendwann einmal zum zaghaften Formulieren Hypothesen-ähnlicher Aussagen nutzen kann.

Schönes, aktuelles Beispiel: der Schlaf. Warum schlafen wir? Eigentlich ist nur der Umkehrschluss klar: Wer nicht schläft, stirbt bald. Aber wofür genau der Mensch seinen Schlaf braucht? Dazu gab es ganz lange nur dünne Spekulationen.

Es ist ja auch schwierig mit dem Schlaf: Zu beobachten gibt es erstmal fast nichts. Und wenn man gezielt Hirnaktivitäten während der Schlummereien misst, bekommt man zwar gewisse Aufzeichnungen. Doch die vernünftig zu interpretieren,...?

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Blieb nur der Versuch, eine neue Beobachtungsebene einzuschieben. Klar, dass mit den neuen Hochdurchsatz- und Microarray-Techniken irgendwann jemand auf die Idee kommen musste, zu versuchen, diejenigen Gene zu identifizieren, deren Expression während des Schlafes spezifisch hochreguliert wird. Chiara Cirelli et al. veröffentlichten jetzt erstmals entsprechende Resultate (Neuron 41, S. 35-43).

Und wie das so ist, wenn man über etwas nicht besonders viel weiß, kam jede Menge Überraschendes heraus. Zuerst die reine Menge spezifisch regulierter Gene: Von etwa 15.000 verschiedenen Transkripten im cerebralen Cortex des Rattenhirns, zeigten zehn Prozent eine differentielle Expression zwischen Tag und Nacht. Bei gut der Hälfte davon konnten die Autoren den Aktivitätswechsel tatsächlich dem Schlaf- oder Wachzustand zuschreiben, und nicht anderen Parametern wie etwa der circadianen Kontrolle. Blieben am Ende 752 Schlaf-aktive Gene. Ziemlich viele, um den Schlaf lediglich als inaktive Erholungsphase abzuqualifizieren, wie die Autoren meinen. Etwa genauso viele werden spezifisch beim Aufwachen angedreht.

Ebenso überrascht waren Cirelli und Co. von der Erkenntnis, dass diese 752 „molekularen Schlaf-Korrelate“ nicht nur im Großhirn aufleuchten, wenn Ratten schlummern, sondern genauso im Kleinhirn. Dieser Hirnteil stand nach allem, was Hirnforscher bis dahin beobachten konnten, überhaupt nicht im Verdacht, sich aktiv am Schlaf zu beteiligen.

Am spannendsten – aber klar! – war die Frage, welche Produkte die 752 Schlaf-korrelierten Gene kodieren. Vier Gruppen konnten die Autoren bilden: Am unspektakulärsten vielleicht diejenige, deren Mitglieder bei der Translation mitwerkeln. Schließlich ahnte man seit den frühen Neunzigern, dass während des Schlafes sogar vermehrt Gehirn-spezifische Proteine gebildet werden.

Die anderen drei Kategorien deuten alle in die gleiche Richtung: Gene, die Membran- und Vesikelfluss steuern; Gene für die Cholesterol-Synthese; sowie Gene, die in die synaptische Plastizität mit verwickelt sind. Alle drei passen sehr gut zu den Ergebnissen einer Studie, in der die Autoren aufgrund intrazellulärer Ableitungen von einzelnen Hirnzellen folgerten, dass das Gehirn im Schlaf aktiv Erinnerungen konsolidiert.

Dennoch sagte Chiara Cirelli zu ihrem Paper: „Das war ein reiner Fischzug aus der Verzweiflung, dass man so wenig darüber versteht, wozu der Schlaf gut ist.“ Also keine Hypothese als Motor, sondern wie man heute sagt: eher Hypothesen-generierende Forschung. Erfrischend ehrlich. Chiara Cirelli hätte auch sagen können: „Nachdem zelluläre Ableitungen eine Beteiligung des Schlafes bei der Festigung von Erinnerungen andeuteten, wollten wir die Hypothese überprüfen, ob im Schlaf Gene hochreguliert werden, die sich am Cholesterol-Stoffwechsel, am Vesikelverkehr oder sonstwie an der synaptischen Plastizität beteiligen.“

Manchmal lässt sich das mit der Hypothesen-basierten Forschung eben drehen und wenden, wie man will.

Ralf Neumann

(Wie gesagt: Heute ist dieses Problem als HARKing bekannt – von Hypothesizing After the Results are Known“. HARKing hat man inzwischen als wichtige Ursache dafür erkannt, dass Studienergebnisse immer wieder nicht reproduziert werden können. Womit wir beim nächsten Stichwort wären: Reproduzierbarkeitskrise. Aber darüber ein anderes Mal auf dieser Seite...)

 

(Sämtliche Folgen unserer Reihe "Schöne Biologie" seit 2002 gibt es hier.)

 

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Letzte Änderungen: 30.08.2019