Editorial

Erkenntnisse des Lebens

(01.07.2019) Lernen, immer nur lernen wollte er – vor allem, wie sich aus einem simplen Ei ein komplexes Tier entwickelt. Vor 150 Jahren wurde Hans Spemann geboren.
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Spemann circa 1932 im Freiburger Zoologischen Institut

„Ich wünsche auf das Lebendige einzu­wirken, um am fremden Leben teilzuhaben und mich selbst dabei lebendiger zu fühlen“ – schrieb Zoologe und Nobelpreisträger Hans Spemann in seiner Autobiographie „Forschung und Leben“.

Über das „Lebendige“ war allerdings Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht allzu viel bekannt. Zumindest nicht über dessen wundersamen Beginn. Und so war es Spemanns Lebensaufgabe, Licht in diese ersten Stadien der Embryonalentwicklung zu bringen. Ganz nebenbei brachte er mit seiner Forschung eine neue Disziplin, die Entwick­lungsbiologie, mit ins Rollen und schuf Lehrbuchwissen für die nächsten Biologen-Generationen.

Geboren wurde Spemann in Stuttgart am 27. Juni 1869 als ältester Sohn des Verlagsbuch­händlers Wilhelm Spemann. Seine leibliche Mutter starb früh an Kindbettfieber (kurz nach der Geburt seines Bruders), da war er gerade anderthalb Jahre alt. Mit seiner Stiefmutter und den Halbgeschwistern kam er gut zurecht. Gelebt hat die Familie Spemann unter anderem in der Reinsburgstr. 42. Heute befinden sich in dem Haus eine Unternehmensberatung, eine Steuerberatungs­gesellschaft und eine Marketing-Agentur. Die Spuren Spemanns sind zumindest hier verwischt.

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Eine seltene Spezies

Schon als Kind war Spemann von der Natur um ihn herum fasziniert. Er sammelte Insekten und Pflanzen, legte ein Herbarium an. Im Italienurlaub mit seinen Eltern gelang es ihm, eine besondere Spezies zu beobachten: einen Naturforscher bei der Arbeit. „Von berufswegen im Meere herumzuwaten, um kleine Krebschen zum Untersuchen zu fangen, schien mir ein beneidenswertes Los“, bemerkte er dazu in seiner Biographie.

Das Schicksal meinte es jedoch zunächst anders mit Spemann. Denn in seiner humanis­tisch-ausgerichteten Schule kamen die Naturwissenschaften etwas kurz. Auf dem Lehrplan standen Tacitus, Cicero, Vergil und Plato, statt Chemie oder höherer Mathematik. „Für das Studium der Naturwissenschaften, welches ich später ergriff, (war ich) recht unvollkommen vorgebildet“, schrieb er später. “Der Unterricht in Biologie war kümmerlich und fesselte mich trotz meiner angeborenen Neigung so wenig, daß ich kaum übertreibe, wenn ich sage, dass Zoologie mein schlechtestes Fach war.“

Auch deshalb entschied sich Spemann wohl zunächst für einen völlig anderen Karriereweg. Nämlich den seines Vaters, als Kaufmann im Verlagsbuchwesen. Bald begannen sich jedoch ob seiner Berufswahl Zweifel zu regen. Diese wurden größer, als er beim Bücher-Einsortieren in einer Hamburger Buchhandlung auf William Preyer und Ernst Haeckel stieß. „Dort begegnete ich auch zum erstenmal, soviel ich mich erinnere, dem Begriff der Biologie als einer umfassenden Wissenschaft vom Leben, mit all ihren aufwühlenden Lehren über seine letzte Tiefe.“ Kurze Zeit später, im Jahre 1891, schrieb er sich in Heidelberg zum Medizin-Studium ein.

Bitte kein Bandwurm!

Die Wendung hin zur Biologie vollzog sich drei Jahre später in Würzburg. Hier war es auch, wo Spemann zum ersten Mal ein „entwicklungsmechanisches Experiment“ mit Froschlaich sah. Und zwar im Labor von Theodor Boveri, der nachfolgend zu seinem Mentor werden sollte. Mit dem Thema seiner Doktorarbeit war Spemann allerdings nicht einverstanden – aus recht ungewöhnlichen Gründen: „Zuerst hatte mir Boveri vorgeschla­gen, die Entwicklung der Geschlechtsorgane des Bandwurmes zu bearbeiten, und erst als ich schüchtern einwandte, daß mich das in der rein juristischen Familie meiner Braut völlig kompromittieren würde, ging er lachend auf einen anderen Wurm über, dessen klangvoller Name Strongylus paradoxus einigermaßen damit aussöhnen konnte, daß er in der Lunge des Schweins zu Hause ist.“ 1895 schloss er seine Doktorarbeit ab und hatte dabei vor allem eins gelernt – zu mikroskopieren.

Nach seiner Habilitation zur Entwicklung des Mittelohrs in Amphibien brauchte Spemann erstmal eine Auszeit. Sein Arzt hatte beim ihm eine „leichte Affektion der Lungenspitze“ diagnostiziert und eine mehrmonatige Kur empfohlen. Diese führte den angehenden Entwicklungsbiologen zuerst zur „Traubenkur“ nach Bozen, dann zur „Liegekur in der Sonne“ ins Lungensanatorium im schweizerischen Arosa. Begleitet wurde er von seiner Frau und einem einzigen wissenschaftlichen Buch: August Weismanns „Das Keimplasma: Eine Theorie der Vererbung“.

Darin stellte Weismann die These auf, dass sich Embryonalzellen eigenständig, also ohne Einfluss von außen differenzieren und Gewebe formen. Selbstdifferenzierung nannte man später diesen Prozess. Experimentelle Beweise dafür oder dagegen gab es jedoch nicht. Genau das stachelte Spemann an.

Haarige Versuche

Zurück in Würzburg begann er, Weismanns These auf den experimentellen Prüfstand zu stellen. Berühmt sind vor allem seine Schnürungsexperimente, bei dem er Molch- oder Froscheier mittels feiner Kinderhaare (zum Beispiel die seiner Kinder) einschnürte oder vollständig durchtrennte. Je nachdem wo und zu welchem Zeitpunkt in der Entwicklung die Abschnürung erfolgte, entstanden zwei völlig normale Individuen oder ein Tier mit zwei Köpfen oder zwei Schwänzen.

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Spemann als Schüler in Stuttgart, etwa 1881.

Seine Studienobjekte fing er übrigens eigen­händig in der „Umgegend von Würzburg“. Ins Netz gingen ihm Triton (heute: Triturus) taenitus, der Streifen- oder Teichmolch, und Triton (heute Triturus) cristatus, der Kammmolch.

1908 erhielt Spemann einen Ruf nach Rostock, um dort als Direktor das Zoologische Institut zu leiten. Im Herbst 1914 wurde er zweiter Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biologie in Berlin-Dahlem. 1919 schließlich, als 50-Jähriger, hatte seine akademische Wanderschaft ein Ende – er kehrte zurück in den Süden Deutschlands, nach Freiburg. Dieses Örtchen hatte er sich schon als kleiner Junge als idealen Platz für seine alten Tage auserkoren. Als gebürtiger Schwabe schätzte er den „feinen Menschenschlag des badischen Schwarzwalds“. Spemann wohnte in einem kleinen Haus am Hang des Lorettobergs.

An der Universität setzt er seine entwicklungsmechanischen Experimente an Amphibieneiern fort. Große Hilfe hatte er bei diesen mühseligen Arbeiten, für die eine gehörige Portion Fingerspitzengefühl vonnöten war, von seiner Doktorandin Hilde Mangold. Mangold hatte an der Uni Frankfurt eine Vorlesung von Spemann gehört und sofort beschlossen, ihm nach Freiburg zu folgen. 1923 schloss die gebürtige Gothaerin ihre Doktorarbeit ab und legte damit den Grundstein für Spemanns Nobelpreis 12 Jahre später.

Tragisches Schicksal

Dass sie selbst die hohe Auszeichnung nicht entgegennehmen konnte, hat einen tragischen Grund. Mangold starb 1924 bei einem Haus­haltsunfall. Auch die Veröffentlichung ihrer Doktorarbeit erlebte sie nicht mehr. Ohne Mangold wären die entscheidenden Experimente vielleicht nie durchgeführt worden. Umso trauriger zu lesen, dass ihre Grabstätte auf dem Gothaer Hauptfriedhof zurzeit in einem „desolaten Zustand“ ist. Das wird sich jedoch hoffentlich bald ändern.

Was haben die beiden mit ihren anspruchsvollen Experimenten entdeckt? Wer könnte es besser erklären, als Spemann selbst: „Am Tritonkeim zu Beginn der Gastrulation gibt es nämlich einen eng begrenzten Bezirk, dessen Zellen sich anders als die übrigen verhalten (…). Verpflanzt man aus diesem Bereich ein Stück in den indifferenten Teil des Keims, so fügt es sich dort nicht in den Gang der Entwicklung ein, (…) vielmehr behauptet es sich gegen die an dieser Stelle herrschenden Einflüsse, hält an seiner schon eingeschlagenen Entwicklungsrichtung fest und bildet am fremden Ort dieselben Teile, die es am Ort seiner Herkunft geliefert hätte, Rückenmark, Muskulatur, Achsenskelett.“ Die Rede ist natürlich vom Spemann-Organisator oder besser, dem Spemann-Mangold-Organisator, der jedem Zell- und Entwicklungsbiologie-Studenten bekannt sein sollte. Mit dieser Entdeckung waren einige der wichtigsten „Lebens“-Fragen geklärt und Weismanns Thesen endgültig widerlegt.

Spemann starb in Freiburg nach einer länger andauernden Herzerkrankung am 12. September 1941.

Kathleen Gransalke



Letzte Änderungen: 01.07.2019