Editorial

Der knapp Hundertjährige

(16.04.2019) Unser Gesuchter beweist: Ein strenger Achtstundentag kann genügen, um höchste Weihen zu erreichen – und ein hohes Alter noch dazu. Kennen Sie ihn?
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„Der Hundertjährige, der aus dem Fenster sprang und verschwand“, so lautet der Titel einer der erfolgreichsten skandinavischen Romane der letzten Jahre. Unser gesuchter Skandinavier hätte den Titel fast in die Tat umsetzen können – als er starb, fehlten ihm nur noch 133 Tage dazu. Vier Jahre zuvor war sein letzter wissenschaftlicher Aufsatz in einem Fachjournal erschienen.

Seine Kindheit beschreibt der älteste Sohn eines Holz- und Kohlehändlers ziemlich idyllisch: „Meine Heimatstadt liegt nett von Hügeln umgeben am Fjord, zur Nordsee mit ihren wunderschönen Dünen und Stränden waren es nur zehn Kilometer mit dem Fahrrad. Wir selbst lebten in einem schönen großen Haus und hatten noch ein hübsches kleines Sommerhäuschen an der Nordseeküste. Unser Holzlager war ein exzellenter Spielplatz, immer waren Freunde da – und Schule war ein eher unbedeutender Teil unseres Lebens.“

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Den ersten Riss bekam die Heimatidylle durch den Tod des Vaters, als unser Gesuchter zwölf Jahre alt war. Mit 15 musste er sie dann ganz verlassen und ging in ein Internat knapp 200 Kilometer weiter im Osten des Landes. Drei Jahre später war der Hobbysegler wieder zurück und noch ohne Pläne, als er eines Tages mit einem Medizinstudenten Tennis spielte. Nach dem Spiel verkündete er seiner Mutter, dass er ebenfalls Medizin studieren wolle – und begann damit zwei Tage später an der Universität der Landes­haupt­stadt.

Das Studium verlief für den Kurzentschlossenen zunächst plangemäß – bis 1940 Hitler-Deutschland das Land besetzte. Einige seiner Uni-Lehrer gingen daraufhin in den Unter­grund; und eines Nachts musste er als Praktikant eine Blinddarm-Operation zu Ende bringen, weil der verantwortliche Assistenzarzt sich mittendrin zu einer verabredeten Waffenlieferung der Engländer verabschiedete.

In diesem Krankenhaus traf der überzeugte Sozialdemokrat schließlich auch „Kranken­schwester Nielsen“. 1948 heiratete er sie, 1952 und 1954 kamen ihre zwei Töchter auf die Welt.

Seinen Medizin-Abschluss machte er 1944 und arbeitete noch drei weitere Jahre als Chirurg. Allerdings schwand in dieser Zeit sein Interesse an der klinischen Medizin immer mehr – und er begann, sich für die physiologischen Mechanismen der Lokalanästhesie zu interessieren. Schließlich kehrte er der Klinik 1947 den Rücken und trat etwa 100 Kilo­meter östlich von seiner Heimatstadt eine Position am Institut für Medizinische Physiologie der dortigen Universität an. Es dauerte sieben Jahre, bis er seine Doktorarbeit in seiner Heimatsprache als Buch veröffentlichen konnte – dies aber nur, weil er daneben noch ganze sechs Paper auf Englisch publizierte.

Nur drei Jahre nach dem Doktortitel folgte dann sein größter Coup. In Biochimica Bio­physica Acta veröffentlichte er als alleiniger Autor eine Arbeit, die ihm ziemlich genau vierzig Jahre später einen sehr herzlichen Händedruck des schwedischen Königs einbringen sollte. Auf der Suche nach einem ATP-abbauenden Enzym war ihm ein Protein ins Netz gegangen, dass zwar tatsächlich ATP spaltete – dass diesen Vorgang aber vor allem dazu nutzte, um den grundlegenden Prozess sämtlicher Langstrecken-Informa­tionsüber­tragung und jeglicher aktiver Bewegung in unserem Körper zu bewerkstelligen.

Sechs Jahre später wurde er an derselben Universität zum Professor für Physiologie berufen. Und natürlich lieferte dieser Befund genug Stoff für all seine Schülerinnen und Schüler sowie den gesamten Rest seiner eigenen wissenschaftlichen Karriere.

Diese dauerte, wie bereits erwähnt, noch sehr lange. Dabei erklärte er eines als besonders wichtig: „Ich bin ein Familienmensch. Daher beschränkte ich meine Aktivität im Institut stets auf acht Stunden konzentrierte Arbeit – von 8 bis 16 oder von 9 bis 17 Uhr. Den Rest des Tages, wie auch die Wochenenden oder Ferien, verbrachte ich mit meiner Familie.“

Zugleich war er zeitlebens ein Gegner jeglichen Wettbewerbs um Forschungsgelder. „Dass Forscher so viel Zeit verschwenden müssen, um externe Förderung für ihre Arbeit einzu­werben, schadet der modernen Forschung enorm“, sagte er einmal. „Die Politiker, die das forcieren, haben keine Ahnung, wie Forschung funktioniert.“

Und ein anderes Mal: „Forschung ist ähnlich wie Ölbohren: Natürlich braucht die Förder­plattform die nötigen Ressourcen, aber wir alle wissen, dass das Bohrloch irgendwann trocken läuft. Also müssen wir fortwährend neu bohren – auch auf das Risiko hin, gar kein Öl zu finden. Wenn wir dann aber auf Öl stoßen, wiegt das meist sämtliche Kosten der erfolglosen Bohrungen auf.“

Wie heißt der altersweise „Ölbohrer“?

Ralf Neumann

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Letzte Änderungen: 16.04.2019