Editorial

Mutationen zwischen den Domänen

(08.04.2019) Mutationen müssen nicht immer Protein­domänen mit definierter 3D-Struktur treffen. Matthias Selbach schaut sich deshalb auch intrinsisch ungeordnete Regionen an.
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In unserer ersten Publikationsanalyse 2019 haben wir Ihnen die meistzitierten Protein­forscher vorgestellt. Einer von ihnen ist Matthias Selbach vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Selbachs Arbeitsgruppe untersucht Protein-Inter­aktionen und nutzt hierzu vor allem proteo­mische Ansätze. Dabei möchten die Berliner auch herausfinden, inwiefern Muta­tionen in Aminosäuren die Protein­funk­tion beein­träch­tigen und zu Krankheiten führen.

Laborjournal: Bei unserer Publikationsanalyse haben wir eine Arbeit Ihrer Gruppe über­sehen, die in die Liste der meistzitierten Artikel gehört hätte (Nature 473(7347): 337-42). Für besagte Publikation haben Sie die Kontrolle der Genexpression untersucht. Meist schaut man sich bei solchen Studien ja nur die mRNAs an; Sie haben aber neben den Transkriptomen auch Proteome unter die Lupe genommen und dabei die viel aufwen­digeren massenspektroskopischen Methoden angewendet. Was haben Sie herausgefunden?

Selbach: Uns haben zwei Dinge erstaunt: Zum einen war die Korrelation zwischen den mRNA- und den Proteinleveln in unseren Daten deutlich höher als das in vorherigen Ansätzen oft beobachtet wurde. Man kann also einen guten Teil der Variabilität der Proteinlevel durch die entsprechenden mRNAs erklären. Auf der anderen Seite war die Proteinsynthese der Faktor mit der besten Vorhersagekraft dafür, ob ein Protein in großen oder nur in geringen Mengen vorhanden ist.

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Das klingt ja erstmal nicht überraschend. Denn dann reicht es ja eigentlich, wenn man nur auf die mRNAs schaut, oder?

Selbach: Das kommt drauf an, denn man kann von der Abundanz einer mRNA nicht unmittelbar auf die Proteinsynthese und Proteinmenge in der Zelle schließen. So liegt eine schwach tran­skribierte mRNA mit nur wenigen Kopien pro Zelle vor, und eine stark tran­skribierte mRNA vielleicht mit ein paar tausend Kopien. Auf Proteinebene hingegen hat man ein paar tausend Kopien eines schwach exprimierten Transkriptionsfaktors, aber um die 10 8 Kopien bei einem Protein wie dem Aktin. Die Unterschiede zwischen den Größen­ordnungen sind also auf Ebene der Proteine viel größer als auf der Ebene der mRNAs. Daran sieht man schon: Würden jetzt alle mRNAs in derselben Weise in Proteine trans­latiert, dann könnte das zahlenmäßig gar nicht aufgehen.

Dann ist also entscheidend, wie effektiv welche mRNA translatiert wird?

Selbach: Unter unseren Bedingungen ja. Wir haben aber Zellkulturen gemessen, die sich exponentiell teilen. In anderen Modellen könnte das wieder ganz anders aussehen. Bei postmitotischen Zellen zum Beispiel spielt die Degradation der Proteine eine größere Rolle als die Synthese, wenn wir die Protein-Abundanzen vorhersagen wollen.

Kommen wir zu einer aktuellen Arbeit Ihrer Gruppe, die vor einem halben Jahr in Cell erschienen ist (175(1): 239-253; siehe auch LJ Online „Intrazellulärer Irrläufer“). Darin geht es um Mutationen in „intrinsisch ungeordneten Regionen“. Eigentlich sollte ein Amino­säure-Austausch in solch einer ohnehin „unordentlichen“ Region keine Auswirkungen haben. Offenbar sind diese Abschnitte im Protein aber wichtiger als gedacht.

Selbach: Genau. Diese Erkenntnis geht nicht auf unsere Gruppe zurück, das haben auch andere Forschergruppen in den letzten Jahren schon festgestellt. Intrinsisch ungeordnete Regionen in Proteinen bilden zwar keine definierte dreidimensionale Struktur und sind deshalb oft in Röntgen­struktur­analysen nicht darstellbar. Aber man hat trotzdem Beispiele gefunden, wo solche Regionen wichtig sind. Häufig sind sie notwendig für die Interaktion mit einem anderen Protein; oder es findet dort eine Phosphorylierung statt, die in einem späteren Schritt für eine Protein-Protein-Interaktion wichtig ist.

Aber dort, wo ein Protein eine Funktion ausübt, muss es doch eine definierte Struktur geben.

Selbach: Prinzipiell haben Sie natürlich Recht, nur geht es dann eben nicht um die dreidimensionale Form dieser Region, sondern um die Primärstruktur. Die Aminosäure-Sequenz in solchen ungeordneten Regionen kann nämlich durchaus wichtig sein. Der typische Fall ist ja eher, dass ein Protein komplett funktionsuntüchtig ist oder degradiert wird, wenn eine wichtige Aminosäure in einer Domäne aus­getauscht wird. Die intrinsisch ungeordneten Regionen sind aber häufig die Verbindungen zwischen den eigentlichen Domänen; sie bilden sogenannte Linker, die flexibel sind. Gibt es dort einen Aminosäure-Austausch, bleibt das Protein in seiner Gesamtstruktur mit seinen Domänen erhalten. Für unsere Publikation haben wir uns speziell Mutationen in ungeordneten Regionen angeschaut, die Krankheiten auslösen – und wollten die Mechanismen dahinter besser verstehen.

Eine dieser Mutationen betrifft den Glukose-Transporter GLUT1. Die Betroffenen können schon im Kindesalter Bewegungsstörungen oder epileptische Anfälle haben.

Selbach: Diese bereits bekannte Mutation führt zum GLUT1-Defizienz-Syndrom. Die wichtigste Aufgabe des GLUT1-Proteins ist es anscheinend, Glukose durch die Endo­thelzellen der Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn zu transportieren. Und genau das funktioniert beim GLUT1-Defizienz-Syndrom nicht mehr. Bei den Patienten ist dann eines der beiden Allele mutiert, so dass es zu einer Unterversorgung des Gehirns mit Glukose kommt. Das äußert sich dann in Epilepsie und anderen neuronalen Symptomen. In unserer Arbeit haben wir uns eine bestimmte GLUT1-Mutation angeschaut. Das Interessante dabei: Diese Mutation liegt im zytosolischen Teil in einer dieser ungeordneten Regionen. Infolge des Aminosäure-Austauschs entsteht eine Bindungsstelle für die Endozytose-Maschinerie. Dadurch wird GLUT1 dann endozytiert und so von der Plasmamembran entfernt – und kann somit seine Glukose-Transportfunktion nicht mehr wahrnehmen.

In Ihrer Publikation schreiben Sie, dass die veränderte GLU1-Variante an Adapterproteine bindet, die wiederum mit Clathrin interagieren. So wird GLUT1 dann durch Clathrin-beschichtete Vesikel wieder forttransportiert.

Selbach: Ja, und dafür verantwortlich ist ein Aminosäure-Motiv der ungeordneten Region, das letztlich die zelluläre Lokalisation eines Proteins bestimmt – so wie die Postleitzahl auf einem Paket. In diesem Fall führt die Mutation zu einem Dileucin, und Dileucin-Motive werden eben für die Clathrin-vermittelte Endozytose erkannt. Das Protein ist an sich also intakt und korrekt gefaltet, wird aber fehl­geleitet. Was wir nun in unseren Experimenten zeigen konnten: Wenn man diese Fehlleitung inhibiert, dann kann man die Lokalisation des Proteins korrigieren. Der Glukose-Transport funktioniert wieder besser. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Grund für die Krankheit in der Fehllokalisation von GLUT1 zu suchen ist.

Sie haben dazu eines der Adapterproteine, nämlich AP-2, herunterreguliert. Dadurch gelangt dann weniger GLUT1 in die Vesikel, und die Krankheitssymptome sind gelindert. Nun haben Sie am Mausmodell gearbeitet. Wäre solch eine Therapie denn beim Menschen denkbar?

Selbach: Also speziell im Fall der GLUT1-Defizienz glauben wir nicht, dass ein Herunter­regulieren von Adapterproteinen therapeutisch sinnvoll ist. Hierzu muss man wissen: Es gibt ja bereits eine Therapiemöglichkeit für diese Erkrankung, nämlich die ketogene Diät. Dabei verzichtet man auf Kohlenhydrate, so dass sich der Stoffwechsel auf die Verwertung von Ketonkörpern umstellt. Und die gelangen auch ohne GLUT1 ins Gehirn. In diesem Sinne kann man sagen: Das GLUT1-Defizienz-Syndrom ist eine bereits behandelbare genetische Erkrankung.

Sie haben noch weitere Mutationen anderer Transmembran­proteine beschrieben, die ebenfalls ein Dileucin-Motiv erzeugen.

Selbach: Ja, das stimmt. Und wir haben insgesamt elf Mutationen in acht verschiedenen Membranproteinen gefunden, die alle ein Dileucin-Motiv in ihrem zytosolischen Teil erzeugen. Das ist tatsächlich eine statistisch signifikante Anhäufung dieser Dileucin-Motive. Im Paper beschreiben wir die damit assoziierten Krankheiten daher auch als Dileucinopathien. Offenbar gibt es eine ganze Gruppe von Erkrankungen, deren Symptomatik lediglich auf die Fehlsortierung eines Proteins zurückzuführen ist. Grundsätzlich zeigt unsere Arbeit, dass es Therapie­möglichkeiten geben könnte. Aber man muss da sehr vorsichtig sein, weil die Nebenwirkungen einer Herunter­regulation der Endozytose natürlich sehr groß sein können.

Die Fragen stellte Mario Rembold



Letzte Änderungen: 08.04.2019