Editorial

Statistisch krank

(29.01.2019) Viele Daten ziehen oft eine komplexe Auswertung nach sich. Nicht immer gelingt die korrekte Interpretation von Statistiken – was fatale Folgen haben kann.
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Statistiken fassen Daten zusammen. Sie dienen dazu, Phänomene aufzudecken und zu erklären. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts verwendete man statistische Erkenntnisse als Grundlage für wichtige Entscheidungen. Damals war man sich einig – die Statistik soll möglichst objektiv neutrales, verlässliches Wissen ansammeln. „Je trockener desto besser. Statistiken sollten die trockenste Lektüre überhaupt sein,“ soll der britische Epidemiologe und Begründer der Medizinischen Statistik William Farr einmal gesagt haben.

Heute wird die Statistik als Hilfswissenschaft vielfältig verwendet. In der Medizin, der Psychologie, den Naturwissenschaften, aber auch in der Politik, der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften ist sie als Werkzeug nicht wegzudenken. Und doch birgt sie Gefahren, die allseits so geschätzte Statistik. Denn der Grad zwischen Interpretation und Fehlinterpretation ist schmal. Und so wird die Statistik schnell mal zur Unstatistik und ein völlig Gesunder schnell mal todkrank.

Editorial
In die Irre geführt

Gerd Gigerenzer, Psychologe aus Berlin, Thomas Bauer, Ökonom aus Bochum, und Walter Krämer, Statistiker aus Dortmund, haben im Jahr 2012 zusammen die Aktion „Unstatistik des Monats“ ins Leben gerufen. Jeden Monat nehmen sie sich eine gerade veröffentlichte Statistik und vor allem deren Interpretation zur Brust. Denn nur allzu oft passiert es, dass Zahlen fehlinterpretiert werden und es deshalb zu irreführenden Aussagen kommt. „Die Aktion will so dazu beitragen, mit Daten und Fakten vernünftig umzugehen, in Zahlen gefasste Abbilder der Wirklichkeit korrekt zu interpretieren und eine immer komplexere Welt und Umwelt sinnvoller zu beschreiben“, erklären die drei auf ihrer Webseite.

Die aktuell veröffentlichte Unstatistik des Monats Januar beschäftigt sich mit den seit Oktober in Apotheken und Drogerien erhältlichen HIV-Schnelltests. Jeder kann diesen Test zuhause selbstständig durchführen, völlig anonym und ohne jegliche ärztliche Betreuung. Nach 10 bis 15 Minuten hat man das Ergebnis: positiv oder negativ. Was aber bedeutet ein positives Ergebnis? Laut der Gebrauchsanweisung der Tests ist man „wahrscheinlich HIV-positiv“. Doch wie wahrscheinlich ist wahrscheinlich? Und wie zuverlässig ist der Test überhaupt? Zu letzterem findet man die folgenden Zahlen: Sensitivität 100%, Spezifität 99,8%. Ohne weiter darüber nachzudenken, glauben die meisten Menschen mit einem positiven Ergebnis, dass sie mit dem HI-Virus infiziert sind.

Sensitivität und Spezifität

Doch in Wahrheit sieht das Ergebnis ganz anders aus. Um das Ergebnis richtig zu inter­pretieren, muss man wissen, was Sensitivität und Spezifität in diesem Zusammenhang bedeutet. Die Sensitivität ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine HIV-infizierte Person auch positiv testet. Das heißt bei einer Sensitivität von 100% wird eine infizierte Person auf jeden Fall ein positives Testergebnis erhalten. Die Spezifität ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine nicht-HIV-infizierte Person negativ testet. Bei einer Spezifität von 99,8% beträgt die Falsch-Alarm-Rate also 0,2%.

Eine beeindruckende Zahl, aber die drei Unstatistiker machen eine andere Rechnung auf. „In Deutschland leben laut dem Statistischen Bundesamt etwa 69 Millionen Menschen, die älter als 18 Jahre sind. Von ihnen sind geschätzt etwa 11.400 infiziert, ohne es zu wissen (…). Von je 6.000 Deutschen ist also etwa einer infiziert (69 Millionen dividiert durch 11.400). Dieser wird mit Sicherheit (100 Prozent) positiv testen. Unter den 5.999 Personen, welche nicht infiziert sind, erwarten wir jedoch weitere 12, die ebenfalls positiv testen. Das folgt aus der Falsch-Alarm-Rate von 0,2 Prozent. Das heißt, von insgesamt 13 Personen, die positiv testen, ist nur einer tatsächlich infiziert.“ Bei einem positiven Testergebnis beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass man tatsächlich HIV-infiziert ist, also nur 8%. Noch wahrscheinlicher (92%) ist es allerdings, dass man nicht infiziert ist. „Bei Heterosexuellen ohne Risikoverhalten, dem größten Teil der Deutschen, ist die Wahrscheinlichkeit infiziert zu sein nochmals deutlich kleiner, sie liegt unter 5 Prozent“, betonen die Wissenschaftler.

Zahlen sagen eben nicht immer mehr als Worte. Die Kunst ist es, die Zahlen richtig zu interpretieren. Das ist nicht immer einfach, aber wie gesehen von größter Bedeutung.

Eva Glink



Letzte Änderungen: 29.01.2019