Editorial

Prokrastination? Aber immer!

(15.01.2019) Letzten Donnerstag hat unsere (andere) TA eine der großen Fragen der Mensch­heit beantwortet. Warum gibt es Prokras­tination?
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Prokrastination oder Aufschieberitis, also die menschliche Neigung, das Erledigen von Dingen solange vor sich her zu schieben, bis der Druck oder ein endgültiger, nicht mehr verschiebbarer Abgabetermin, einen zwingt, die Angelegenheit unter erheblichem Kaffeekonsum in einer Nachtschicht zu erledigen, gilt heutzutage als eine der größten Untugenden der Menschheit. Als moderner Mensch kann man sich kaum guten Gewissens dazu bekennen, außer vielleicht in Selbsthilfegruppen. Dabei steckt ein gewisses Maß davon in jedem Menschen – und ich denke, solange sie nicht die absolute Macht über uns erlangt, kann man damit gut leben.

Warum aber wurde die Prokrastination überhaupt erfunden? Was hat sich die Natur dabei gedacht? Wenn das Aufschieben tatsächlich so schlecht für die Menschen ist, wie ihm nachgesagt wird, warum pflegt dann jeder Mensch bis zu einem gewissen Grad diese Marotte?

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Seit Donnerstag kenne ich die Antwort: Prokrastination steigert das Erfolgserlebnis! Sie fungiert quasi als eine Art Verstärker, der die Zufriedenheit über die Erledigung banalster Aufgaben in ungeahnte Höhen zu potenzieren vermag.

Zu dieser Erkenntnis bin ich unter anderem gelangt, weil ich unsere Anabaena-Kollektion auf frischen Nährplatten überstreichen musste. Eine arbeitsintensive Aufgabe, die sich inklusive Herstellung der verschieden gearteten Platten über zwei volle Arbeitstage erstreckt.

Ich hatte diese Aufgabe in meinen Kalender eingetragen und machte mich am zweiten Tag gleich morgens unverzüglich und brav ans Überstreichen. Am frühen Nachmittag war ich fertig. Es folgten ein kurzer Moment der Freude und ein Belohnungstee in der Küche. Zurück im Labor zeigte ein Blick auf meinen Kalender, dass ich heute auch noch eine kleine Anabaena-Kultur animpfen musste, die ich nächste Woche dringend für einen Versuch brauchte.

Och nö! Bitte nicht. Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann das Animpfen von einer einzigen Flüssigkultur. Keine Ahnung warum, ist aber so.

Eine Dreiviertelstunde lang zog ich daher alle Register, um dieser Aufgabe zu entgehen. Steht nicht vielleicht noch eine alte Kultur im Schüttler? Kann ich die nicht benutzen? MUSS ich das, wofür ich die frische Kultur brauche, denn wirklich, ganz unbedingt, in der nächsten Woche erledigen? Stehen nächste Woche nicht andere furchtbar wichtige Dinge an? Und wie steht es um die sterilen Kolben? Die sind doch bestimmt aufgebraucht. Das kommt schließlich oft genug vor.

Mir war die Irrationalität meines Handelns vollkommen bewusst. Einleuchtender wäre es gewesen, wenn ich das arbeitsintensive Überstreichen vor mir her geschoben, mich davor gedrückt hätte. Aber das Animpfen? Eine einzige Kultur? Das ist in knapp vier Minuten erledigt. Warum drücke ich mich davor? Und das bereits seit zwei Tagen, wie mir mein Kalender vorwurfsvoll zeigt? In der Zeit, in der ich versuchte, mich um die Aufgabe zu drücken, hätte ich sie mindestens neunmal erledigen können.

Hier zeigt sich das oft unterschätzte Potenzial der Prokrastination. Um der unliebsamen Aufgabe zu entgehen, entwickelt man plötzlich enorme Energien und Kreativität. Wie viele Dinge blieben wohl liegen, würde man sie nicht erledigen, um sich vor einer anderen Aufgabe zu drücken? Plötzlich macht man Inventur im Keller, räumt Fächer und Schränke auf, bearbeitet Bilder,....

Als schließlich sogar der Schrank mit den sterilen Kolben durch seine üppige Füllung die Meinung äußerte, ich solle mich gefälligst zusammenreißen, und auch noch eine Sterilbank frei war, fügte ich mich notgedrungen in mein Schicksal und fing an. Vier Minuten später war ich fertig. Ein Wahnsinnsgefühl!

Vergessen war die Erledigung der großen Aufgabe zuvor. Ein einziger Gedanke beherr­schte jetzt mein Denken. Ich wollte es herausschreien, alle sollten es wissen: „Ich habe angeimpft!!!“

Ich wollte frenetischen Applaus, Engelschöre, Konfetti, Standing Ovations und einen riesigen Blumenstrauß. Ich wollte ein T-Shirt, auf dem steht: „Animpfen – I did it!“ Im Grunde war es völlig absurd.

Auf das Erledigen einer vier Minuten währenden Aufgabe bin ich um ein Vielfaches stolzer als auf das volle zwei Tage erfordernde Plattengießen und Überstreichen unserer gesam­ten Anabaena-Kollektion. Einfach, weil ich das eine wie geplant erledigt, das andere dagegen zwei Tage lang vor mir hergeschoben habe – wodurch ich heute nicht nur eine Aufgabe erledigt, sondern mich zugleich zur Herrin über meine eigene Trägheit aufge­schwungen habe. Meine prokrastinischen Anwandlungen bescheren mir quasi ein doppeltes Erfolgserlebnis.

Wer kann da noch was gegen Prokrastination sagen?

Maike Ruprecht



Letzte Änderungen: 15.01.2019