Editorial

Am (Zink)Finger gepackt

(17.12.2018) Transkriptionsfaktoren sind an der Entstehung vieler maligner Erkrankungen beteiligt. Durch Medikamente lassen sie sich nicht beeinflussen. Oder etwa doch?
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Der Wirkstoff Thalidomid ist für die meisten Menschen, die ihn heute überhaupt noch kennen, mit einem unangenehmen Nach­klang verbunden. Im Schlaf- und Beruhi­gungsmittel Contergan hatte das Barbiturat-Derivat in den 1950er/60er Jahren bei Ungeborenen schwere Missbildungen verursacht.

Im Zuge der Aufklärung des Contergan-Skandals zeigte sich, dass nur das (S)-Enantiomer des chiralen Moleküls für die Entwicklungsschäden, das (R)-Enantiomer dagegen für die erwünschte beruhigende und schlaffördernde Wirkung verantwortlich war. Da sich Enantiomere inzwischen trennen lassen und Thalidomid neben der sedierenden auch tumorwachstums- und gefäßbildungs­hemmende Funktionen aufweist, hat sich der totgesagte Wirkstoff inzwischen neue Einsatzgebiete erschlossen. So wird er in Deutschland seit 2009 für die Behandlung des Multiplen Myeloms und anderer bösartiger Erkrankungen des Blutsystems verwendet.

Das Multiple Myelom ist durch eine übermäßige Vermehrung Antikörper bildender Plasmazellen gekennzeichnet. Wie bei vielen Krank­heiten mit gestörten Wachstumsprozessen spielen auch beim Multiplen Myelom Transkrip­tionsfaktoren eine Rolle. „Ikaros (IKZF1) und Aiolos (IKFZ3) sind zwar nicht ursächlich für die Krankheit, aber essentiell dafür, dass die entarteten Plasmazellen überleben können“, erklärt Georg Petzold, Postdoktorand in der Gruppe von Nicolas Thomä am Friedrich-Miescher-Institut in Basel und einer von zwei Erstautoren einer Science-Veröffentlichung zur Hemmung von Transkrip­tionsfaktoren mit Hilfe von Thalidomid.

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Achillesferse Zinkfinger

Während sich Enzymaktivitäten oft mit kleinen Molekülen unterdrücken lassen, ist es ungleich schwerer, Transkriptionsfaktoren, die keine enzymatische Aktivität aufweisen, zu inhibieren. Ikaros und Aiolos haben jedoch eine Schwachstelle, die sich für einen Thera­pie­ansatz ausnutzen lässt. Beide Transkrip­tionsfaktoren besitzen eine sogenannte Zinkfinger-DNA-Bindedomäne, die essentiell ist für ihre genregulierende Funktion. Zinkfinger sind dreidimensionale Strukturmotive, welche für gewöhnlich aus einer alpha-Helix und einer Haarnadelschleife bestehen und durch ein Zinkion zusammengehalten werden. Zinkfinger-Transkrip­tionsfaktoren enthalten oft mehrere Zinkfinger-Domänen, die es erlauben, DNA sequenzspezifisch zu binden.

Thalidomid sorgt nun dafür, dass Ikaros und Aiolos über einen dieser Zinkfinger von der zellulären Müllabfuhr erkannt und für den Abbau durch das Proteasom markiert werden – was letztlich zum Absterben der Krebszellen führt. Entscheidend hierfür ist die Bindung der Transkrip­tionsfaktoren an die Substrat-Rezeptordomäne Cereblon (CRBN) der Ubiquitin­ligase CRL4 CRBN.

Erkennungssequenz ohne Erkennungsmerkmale

Das menschliche Genom kodiert mehr als 800 Proteine, die ähnlich wie Ikaros und Aiolos Zinkfinger-Domänen besitzen. Die meisten davon sind Transkriptionsfaktoren. Zinkfinger-Transkriptionsfaktoren bilden somit die zahlenmäßig größte Gruppe an genregulierenden Proteinen im Menschen. Aus diesem Grund scheint das Potenzial von Thalidomid für die Behandlung weiterer Krankheiten sehr hoch.

Thomäs Arbeitsgruppe hat in Zusammenarbeit mit internationalen Forschern zeigen können, dass Thalidomid und verwandte Wirkstoffe tatsächlich andere Zinkfinger-Transkriptionsfaktoren abbauen können. Insgesamt untersuchten die Forscher 6.572 unterschiedliche Zinkfinger-Domänen. Elf von diesen fungierten als Degron, dienten also als Erkennungssequenz für die Ubiquitinligase CRL4 CRBN und wurden degradiert. Interessanterweise konnte keine konservierte Erkennungssequenz zwischen den unterschiedlichen Degrons gefunden werden. Lediglich ein invarianter Glycinrest in der Haarnadelschleife scheint essentiell für die Degradation der elf Zinkfinger zu sein, und dieser Glycinrest ist auch im entscheidenden Zinkfinger von Ikaros und Aiolos zu finden.

Mehr Ziele als gedacht

Wie aber funktioniert nun dieses Zusammenspiel aus Transkriptionsfaktor, Cereblon und Thalidomid? Die Schweizer Forscher können dies inzwischen ziemlich genau erklären: „Wenn das Thalidomid-Derivat Pomalidomid an Cereblon bindet, bleibt ein Teil der Verbindung, die Phthalimid-Gruppe, an der Oberfläche des Proteins exponiert. Die Transkrip­tionsfaktoren interagieren mit diesem Teil des Wirkstoffs und den umliegenden Aminosäuren des Substrat-Rezeptors, weshalb der Wirkstoff ausschlaggebend für die Rekrutierung der Transkriptionsfaktoren ist.“

Außerdem konnte die Rolle des Glycins aufgeklärt werden, das in allen Zinkfinger-Degrons vorkommt. „Das Glycin ist die kleinstmögliche Aminosäure und bildet einen engen Kontakt mit der exponierten Phthalimid-Gruppe aus“, erläutert Petzold. „Die Seitenkette der nächstgrößeren Aminosäure Alanin würde mit der Verbindung kollidieren, weshalb Zinkfinger, die das Glycin nicht besitzen, auch nicht binden können.“ Da etwa 70 Prozent aller humanen Zinkfinger das Glycin an der richtigen Stelle tragen, lässt sich vermuten, dass jede Menge weitere Zinkfinger-Proteine über Thalidomid manipuliert werden können. Tatsächlich konnten computergestützte Bindungsexperimente rund 150 weitere Zinkfinger-Proteine identifizieren, die mit wirkstoff­gebundenem Cereblon interagieren können sollten. Für einige dieser Zinkfinger-Proteine konnten die Wissenschaftler auch eine Bindung an Cereblon nachweisen, allerdings wurden die meisten von ihnen in Zellen nicht effizient abgebaut.

Thalidomid als Leitstruktur für neue Wirkstoffe

Die Thalidomid-Derivate Pomalidomid und Lenalidomid unterscheiden sich nur unwesent­lich vom ursprünglichen Wirkstoff Thalidomid. Beide tragen eine Aminogruppe im Phthal­imid-Rest, die im Thalidomid nicht vorkommt. „Die zusätzliche Aminogruppe bildet einen entscheidenden Kontakt mit der Seitenkette eines Glutamins, welches in Zinkfinger 2 von Ikaros und Aiolos zu finden ist“, beschreibt Thomä. „Andere Zinkfinger besitzen andere Aminosäuren an dieser Position des Zinkfingers, weshalb wir davon ausgegangen sind, dass chemische Modifikationen in dieser Region des Wirkstoffs andere Zinkfinger rekrutieren und degradieren könnten.“

In der Tat konnte durch Veränderung des Wirkstoffs genau das erreicht werden. Einige dieser neu identifizierten Transkrip­tionsfaktoren, die durch Thalidomid-Derivate destabi­lisiert werden können, haben direkten medizinischen Bezug: BCL6 ist ein Onkoprotein in Lymphomen, ZFP91 ist am NF-kB-Signalweg beteiligt, der eine wichtige Rolle im Immun­system spielt, und ZNF827 ist wahrscheinlich bei der Verlängerung von Telomeren involviert, wodurch sich Krebszellen oft einen Überlebensvorteil verschaffen.

Gleichzeitig lieferte die Arbeit möglicherweise auch einen Hinweis auf die durch Thalidomid verursachten embryonalen Fehlbildungen: Einige der durch den Wirkstoff rekrutierten Transkriptionsfaktoren sind wichtig für eine einwandfreie Entwicklung von Embryonen im Mutterleib. Auch hier spielt die Chiralität des Wirkstoffs eine Rolle: „Das (S)-Enantiomer von Thalidomid bindet Cereblon stärker als das (R)-Enantiomer“, erklärt Thomä. „Allerdings werden – anders als bei Enantiomeren üblich – in wässriger Lösung (S)-Thalidomide und (R)-Thalidomide ineinander umgewandelt, was Untersuchungen der unterschiedlichen Enantiomere deutlich erschwert.“ Bei richtigem und umsichtigem Einsatz haben Thalidomid und seine Abkömmlinge also vielleicht entgegen aller Erwartung doch noch eine glänzende Zukunft als Krebsmedikament vor sich.

Larissa Tetsch

Sievers Q. et al. (2018): Defining the human C2H2 zinc finger degrome targeted by thalidomide analogs through CRBN. Science, DOI: 10.1126/science.aat0572



Letzte Änderungen: 17.12.2018