Editorial

Freiburg ist nicht Kingston

LJ-Autor Siegfried Bär tanzt. Als dann eines Tages Nature auf der Titelseite einen Artikel über genetische Faktoren bei der Tanzfähigkeit ankündigte, konnte er folglich nicht anders: Er musste das Paper mit seinen "Studien" vergleichen.

(15.01.2006) Tanzen erleichtert den Kontakt zum anderen Geschlecht. Dies gilt vor allem für Zeitgenossen, denen die Fähigkeit zum belanglosen Geplauder samt Zivilcourage abgeht, es zwanglos einer Unbekannten zu Gehör zu bringen. Es ist einfacher, die Dame zum Walzer aufzufordern. Dies ist formalisiert, und man muss sich nur einen Satz merken. Die Dame hat es noch einfacher: Sie sitzt und wartet. Während des Tanzens stellen sich dann Nähe- und -- falls man besser tanzt als die Dame -- auch Überlegenheitsgefühle ein, was zwanglos zum Gespräch führt: Über die besuchten Kurse, andere Paare oder die Musik. Kenner machen der Dame Komplimente für Ihre elegante Haltung. Das wird gerne geglaubt, auch wenns nicht stimmt.

Leider dauert es Jahre, bis man tanzen kann, und viele lernen es nie. Zwar ist Übung so unerlässlich wie Anleitung aber beides reicht nicht für einen guten Tänzer. Herr und Frau Stöpsel beispielsweise tanzen schon seit zehn Jahren miteinander. Man sieht sie auf jeder Veranstaltung, sie haben sämtliche Kurse absolviert. Dennoch wirken sie wie zwei mit einem kurzen Fädchen aneinander gebundene Korken, die auf einer leise vor sich hin brodelnden Gemüsesuppe schwimmen. Gut, die Stöpsels sind klein und dick, aber die Statur macht es nicht: Silke ist groß und schlank und ebenfalls seit Jahren am Üben -- und trotzdem tanzt sie wie ein Storch mit Darmwürmern. Dies bei ChaCha wie Rumba, und beim Slowfox muss man die Augen abwenden, weil es weh tut.

Höchstens einer von zehn bringt es mit der Zeit so weit, dass das Auge des Betrachters in Wohlgefallen schmilzt. Die Tanzart ist gleichgültig. Wer gut Samba tanzt, springt auch beim Jive im Takt. Man kann zwar Latein- von Standardmenschen unterscheiden. Den ersteren liegt ChaCha, Samba, Jive, die letzteren brillieren in Walzer und SlowFox. Jedoch ist ein guter ChaCha-Tänzer nie ein schlechter Walzertänzer, obwohl Rhythmus und Bewegungsabläufe verschieden sind.

Die Fähigkeit, gut tanzen zu können, scheint daher eine genetische Komponente zu haben. Diese Fähigkeit, das zeigt die Erfahrung, erleichtert die Partnersuche. Tanzen können gibt also einen Selektionsvorteil. Da Tanzen indes selber keinen Selektionsvorteil bietet, sollte die Fähigkeit dazu mit anderen Qualitäten des Tänzers korrelieren -- ähnlich wie ein prächtiger Pfauenschwanz auf Parasitenresistenz hindeutet.

Dem sei in der Tat so, behaupten Brown et al. in Nature (Bd. 438, S. 1148) und belegen das mit einem Experiment, in dem sie genetische Qualität mit Tanzfähigkeit korrelieren. Die genetische Qualität erfassen sie mit einem Parameter, der "fluktuierende Asymmetrie" (FA) heißt. Dazu werden die Längen oder Umfänge doppelt vorhandener Körperteile gemessen, also Ellbogen, Zeigefinger, Füße,.... Die Länge des linken Gliedes wird dann von der Länge des rechten Gliedes abgezogen und die Differenz normiert (vielleicht durch Division mit der durchschnittlichen Länge des Gliedes). Die Werte der verschiedenen Körperteile werden addiert und die Summe gibt FA. Banal gesagt: je höher FA, desto schiefer der Mensch. Dieser Schiefheitsindex, so die Meinung unter Anthropologen, soll umgekehrt korrelieren mit der Entwicklungsstabilität -- das heißt, mit der Fähigkeit störende Einflüsse wie Hunger oder Parasiten während der Wachstums zu überwinden. Die FA somit hänge zusammen mit erhöhter Sterblichkeit und niedriger Fruchtbarkeit.

Ob dem wirklich so ist, will ich mal dahin gestellt lassen, die FA ist aber auf jeden Fall eine leicht messbare Zahl -- was vermutlich auch ihren Reiz ausmacht. Brown et al. haben sie in Beziehung gesetzt zum "Tanzen können".

Wie misst man das? Im wirklichen Leben gibt ein Kollegium von Juroren ein subjektives Urteil in Form einer Zahl ab. Brown et al. machen das ebenso. Sie objektivieren jedoch das Urteil, indem sie die Tänzer mit Videokameras aufnehmen und die Filme so anonymisieren, dass der Betrachter nicht einmal erkennt, ob Männlein oder Weiblein tanzt. Geschlecht, Physiognomie, Kleidung etc. haben also keinen Einfluss auf das Urteil der Juroren. Getanzt wurde -- vermutlich der einfacheren Auslegung der Ergebnisse wegen -- einzeln: jeder hüpfte für sich und zur gleichen Musik eine Minute lang auf vier Quadratmeter Tanzfläche. Die Filme wurden einem Publikum von 155 Juroren vorgeführt, die mit Hilfe von Yardstöcken ihr Urteil in einer Zahl ausdrückten. Sowohl bei den 40 Tänzern (20 schiefe und 20 gerade) als auch bei den Juroren handelte es sich um etwa 18 Jahre alte Jugendliche aus Jamaica. Die Insel wurde gewählt, weil dort das Tanzen wichtig für die Partnerwahl sei. Bei der Musik wird es sich um Reggae gehandelt haben. Aus den Ergebnissen dieses Experimentes schließen Brown et al.:

-- Je symmetrischer jemand sei, desto besser könne er tanzen. Dies sei unabhängig vom Geschlecht.

-- Besonders stark ausgeprägt sei der Zusammenhang jedoch bei Männern. Auch könnten symmetrische Männer besser tanzen als symmetrische Frauen.

-- Frauen bevorzugen den Tanz symmetrischer Männer. Dies noch mehr als Männer das tun.

-- Symmetrische Männer bevorzugen den Tanz symmetrischer Frauen mehr als asymmetrische Männer dies tun.

Die Fähigkeit gut zu tanzen spiele daher wahrscheinlich eine Rolle bei der Wahl des Sexualpartners. Alles ist statistisch abgesichert mit P Werten meistens kleiner 0,001.

Aber warum erinnert diese Studie so fatal an Psychologietests in Frauenzeitschriften? Warum drängt sich einem der Verdacht auf, dass sie es nur des exotischen Themas wegen in Nature geschafft hat? Sind Turniertänzer wirklich symmetrischer als gewöhnliche Leute? Warum ist mir bisher nur ein Unterschied zwischen guten und schlechten Tänzern aufgefallen: Dass Erstere fast nie rauchen?

Bei näherem Hinschauen zeigt die Studie denn auch Schwächen. So haben die Autoren die Tanzerfahrung der Probanden nicht berücksichtigt. Auch die Qualität der Juroren ist zweifelhaft. Stellen Sie sich 155 Jugendliche in einem Kino vor. Die wird der Ernst der Forschung nur marginal berühren. Die werden schwätzen, die Yardstöcke durch die Gegend werfen, einander beeinflussen ("Nee der war doch Käse, der andre war viel besser"), aus Jux sich die Marker auf dem Yardstöcken verschieben. Und schließlich die Reproduzierbarkeit! Hätte man mit Jugendlichen aus dem Nachbardorf die gleichen Werte erhalten?

Meine Paartanz-Erfahrungen kann man allerdings nicht mit den Experimenten von Brown et al., vergleichen. Die haben ja Einzeltänze erfasst. Ich habe mich daher mit Redakteur R. in Freiburger Discos umgesehen. Dort zappelt ja jeder für sich, gelegentlich sogar zu Reggae.

Zuerst ging es ins "Kagan". Hier, so wurde uns gesagt, verkehre die Freiburger Prominenz. In der Tat mussten wir anstehen und wurde von zwei Schwarzgekleideten kritisch gemustert. Man ließ uns passieren. Drinnen drängten sich die Leute vor der Bar und hielten sich stumm an bunten Cocktails fest, was eigenartig zu der grauen Wolke aus Langeweile kontrastierte, die über ihnen waberte. Die Tanzfläche war leer.

"Die stehen an Eingang an, damit sie hier herumstehen können", stellte Redakteur R. verwundert fest.

"Ich möchte in Freiburg nicht prominent sein", sagte ich und so gingen wir wieder.

In drei anderen Discos ging es weniger edel zu: Statt Cocktails umklammerte man Bierflaschen. Auch waren die Gäste nicht ganz so schick angezogen und ihr Gesichtsausdruck ging eher ins bemüht lässige als ins blasierte. Die graue Wolke schwebte aber auch über ihnen und keiner tanzte -- was bei dem dicken Zigarettenqualm auch nicht zu empfehlen war.

"Wird heutzutage in Discos nicht mehr getanzt?", fragte ich einen Barmann.

"Die haben noch nicht genügend getankt. Die Hemmschwellen sind noch zu hoch", war die Antwort.

"Siehst Du, noch'n Fehler von Brown! Die hätten die Alkoholpegel bestimmen müssen", erläuterte ich Redakteur R. Dann warf ich einen besorgten Blick in den Geldbeutel. "Jetzt sind wir 23 Euro losgeworden und haben noch keinen tanzen sehen.

Letzter Versuch: Das Agar. Sonntags ist dort freier Eintritt für Leute über 30. Das Agar müssen Sie sich als einen halbdunklen Keller vorstellen: In der Mitte eine große ovale Tanzfläche und darum runde Tischchen mit Hockern. Auf der Tanzfläche zuckte ein Gewühl von Körpern und die an den Tischen schienen es anzuheizen, indem sie Zigarettenrauch hinein bliesen.

"Jetzt aber ran ans Beobachten", sagte Redakteur R. und putzte sich die Brille.

Was er sah, war folgendes: Die Tanzenden wandten den Zuschauern den Rücken zu und hielten die Augen gesenkt, so als ob sie sich schämten. Sie hatten auch Grund dazu. Das "Tanzen" bestand bei den meisten aus: linkes Bein vor, rechtes Bein vor, linkes Bein vor... Und tatsächlich machten sie dabei eine schiefe Figur, was Redakteur R. als Beleg für Browns These nehmen wollte. Nur einige Frauen bewegten Hüften und Arme, machten auch mal einen Schritt mehr und eine oder zweie taten dies sogar im Takt. Dies sah gut aus -- wenn auch nicht lange, weil sich die Figuren endlos wiederholten. Es herrschte eine Bewegungsarmut und Einfallslosigkeit, die besser zu den Insassen eines Altersheims gepasst hätte, als zu den rüstigen 40-Jährigen, die die Mehrzahl der Gäste ausmachten.

"Siehst Du, Frauen tanzen besser als Männer. Das widerspricht Brown et al.", stellte ich befriedigt fest.

Dann musterten wir die Zuschauer. Die stierten benommen auf die Tanzenden, als ob die einförmigen Bewegungen sie berauschen würden. Keiner redete mit dem anderen.

"Als ob heute die Psychiatrie Freigang hätte", sagte ich und sagte es in die Luft, denn Redakteur R. war zu einer Dame getreten und schien sie etwas zu fragen.

Als er zurück kam, meinte er ärgerlich: "Hier gehts nicht um Partnersuche -- wie um Gottes willen willst du hier nen Partner finden? Die gucken dich bloß erstaunt an, wenn du sie ansprichst."

"Stimmt", antwortete ich. "Die tanzen auch nicht. Die tanzen ab. Deswegen auch die einförmige Musik. Schon ne Viertelstunde hält die den gleichen Rhythmus. Die tanzen sich in Trance! Das ist ein Schamanentempel."

"Und was haben sie davon?"

" Vielleicht gehts denen schlecht. Sinnkrisen und so. Ist das Alter dafür."

"Was lernen wir daraus?"

"Freiburg ist halt nicht Kingston."



Letzte Änderungen: 16.01.2006