Editorial

Reparieren statt bremsen

(12.06.2018) Gegen Multiple Sklerose kommen immunmodulierende Wirkstoffe zum Einsatz. Hans-Peter Hartung möchte herausfinden, ob man auch die Neu­bildung von Myelin pharmakologisch fördern kann.
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In unseren Publikationsanalysen kurz vor dem Sommer kommen die Neurowissen­schaften gleich im Doppelpack, denn wir haben das Ranking aufgesplittet in einen klinischen und einen nicht-klinischen Teil. Im Mai waren die Kliniker an der Reihe, und einer von ihnen ist Hans-Peter Hartung, in Düsseldorf Direktor der Klinik für Neurologie und des Zentrums für Neurologie und Neuropsychiatrie am LVR Klinikum und der Uniklinik.

Hartung erforscht Immunerkrankungen des peripheren und zentralen Nervensystems. Mitgeschrieben hat er an zahlreichen Publikationen zur Multiplen Sklerose (MS) und forscht hierzu sowohl im Rahmen klinischer Projekte als auch an Tier- und Zellkulturmodellen. Wie kann man therapeutisch entgegenwirken, wenn das eigene Immunsystem die Myelinschicht im zentralen Nervensystem angreift? Wir haben nachgefragt.

Editorial

Laborjournal: Zur Behandlung der Multiplen Sklerose versucht man, auf das Immunsystem einzuwirken. Nun gibt es gegen MS einerseits Medikamente, die das Immunsystem supprimieren, andererseits kann eine Interferon-Behandlung in Frage kommen. Doch Interferone können das Immunsystem ja auch aktivieren. Ist das kein Widerspruch?

Hans-Peter Hartung: Ursprünglich ging man davon aus, dass die MS eine Viruserkrankung ist. In den Anfängen der immun-modulierenden Therapien vor etwa 25 Jahren hatte man zunächst Gamma-Interferon eingesetzt, was das Immunsystem tatsächlich aktiviert. Denn man dachte, damit die Virus-Replikation zu verhindern. Spätere Studien zeigten jedoch, dass sich der Zustand der Patienten durch Gamma-Interferon verschlechtert. Doch dann kam man darauf, dass ein anderes Interferon, nämlich Beta-Interferon, eine herunterregulierende Wirkung hat. Beschriebene Effekte sind die Herunter­regulierung von MHC-Klasse-II oder die Modulation der Zytokin-Produktion mit Erhöhung Th2-regulatorischer Zytokine und Verringerung von Th1- und Th17-Zytokinen. Zusammenfassend muss man aber sagen: Obwohl es etwa 300 Arbeiten zu den Zielpunkten und deren Beeinflussung durch Beta-Interferon bei MS gibt, ist letztlich nicht wirklich bekannt, wie das Medikament wirkt.

Ist es bei MS die Regel, dass man sich auf Wirkstoffe verlassen muss, deren Wirkmechanismen man nicht im Detail kennt? Oder hat man später auch zielgerichtet Medikamente entwickelt?

Hartung: Die nächste Stufe war dann in den frühen 90er Jahren eine zielgerichtete Translation. Man wollte pharmakologisch verhindern, dass autoreaktive oder aggressive T-Zellen aus dem Blut in das Gehirn kommen. Forscher haben Integrine und Adhäsionsmoleküle identifiziert, die wechselseitig auf T-Lymphozyten und dem Endothel exprimiert sind. Das war dann auch therapeutisch interessant. Alemtuzumab zum Beispiel war der erste therapeutisch eingesetzte Antikörper überhaupt – zunächst entwickelt für die Behandlung von Lymphomen. Damals dachte man sich: Wenn dadurch T-Zellen für lange Zeit komplett in der Peripherie depletieren und nicht ins Rückenmark oder Gehirn übertreten, müsste das auch eine wirksame Therapie gegen MS sein. Andere Medikamente richten sich auf die B-Zellen. Es gab diverse Weiterentwicklungen, zum Beispiel der humanisierte Antikörper Ocrelizumab, der letztes Jahr in Deutschland zugelassen wurde. Das sind alles Wirkstoffe, die nicht ins Blaue hinein ausprobiert wurden, sondern schon zielgerichtet anhand von Daten aus der allgemeinen Immunologie.

Sie erforschen auch, ob man das Myelin um die Nervenzellen wieder aufbauen kann.

Hartung: Das ist eine andere therapeutische Strategie. Bisher haben wir über immun­modulierende oder ins Immunsystem primär eingreifende Substanzen gesprochen. Wir haben aber großes Interesse daran, auch Therapien zu entwickeln, die die Reparatur fördern. Typisch bei MS und anderen Immun-Neuropathien ist ja, dass die Myelinschicht, die das Axon oder das Neuron umgibt, geschädigt wird. Und wir suchen nach Methoden, die Remyelinisierung zu fördern.

Wie lässt sich denn verlorenes Myelin wiederherstellen?

Hartung: Im zentralen Nervensystem gibt es Oligodendrozyten-Vorläufer, die sich differenzieren in kompetente Oligodendrozyten, die Myelin produzieren. Dadurch ist eine Wiederbemarkung möglich. Wir wollten die molekularen Mechanismen verstehen, die bei MS verhindern, dass sich diese Vorläufer wieder differenzieren.

Worauf sind Sie da gestoßen?

Hartung: Wir haben gesehen, dass humane endogene Retroviren eine Rolle spielen, insbesondere bestimmte Hüllproteine dieser Viren (Trends Mol Med, 2018). Die können letztlich die Differenzierung der Myelin-produzierenden Oligodendrozyten-Vorläufer verhindern. Es gibt außerdem einen Effekt des Hüllproteins auf den Toll-like Rezeptor 4, der auf Mikroglia und Makrophagen sitzt. Hier wird also das angeborene Immunsystem aktiviert, das gerade bei der progressiven Form der MS involviert ist. Wenn man im Tiermodell diesen Rezeptor inhibiert, dann befördert das die Remyelinisierung. Wir können mit einem Antikörper das Hüllprotein bei MS-Patienten neutralisieren (J Neuroimmunol, 2015). Dazu läuft jetzt gerade eine Phase-IIb-Studie, deren Ergebnisse wir voraussichtlich im Oktober vorstellen.

Das bedeutet ja, dass Viren sehr wohl bei der Entstehung von MS eine Rolle spielen können!

Hartung: Ja, wobei das aber lange Zeit missverstanden worden ist als eine direkte Infektion. Hier geht es hingegen um genetisches Material von Retroviren, das wir seit Jahrmillionen inkorporiert haben. Retroviren machen etwa acht Prozent des humanen Genoms aus. Normalerweise sind sie inaktiv. Aber durch äußere Einwirkungen wie eine Superinfektion können sie plötzlich aktiviert werden. Dann werden auch diese Hüllproteine gebildet und können über das Immunsystem letztlich diese Auswirkungen auf das Nervensystem haben.

Ein Wirkstoff, den Sie in einer aktuellen Arbeit in vitro getestet haben, heißt Teriflunomid. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese Substanz die Differenzierung der oligodendritischen Vorläuferzellen und damit die Remyelinisierung fördert (J Neuroinflammation, 2018).

Hartung: Ja, und auch im Tierversuch haben wir das gesehen. Teriflunomid ist eine Weiterentwicklung eines Präparats, das in der Rheumatologie eingesetzt wird: Leflunomid. Im Prinzip interferiert es mit der DNA-Synthese von Lymphozyten. Dieser Effekt ist relativ spezifisch und führt nicht zu einer globalen Immunsuppression. Es werden nur sehr rezent aktivierte und sich replizierende T-Zellen blockiert.

Wissen Sie, ob sich durch Teriflunomid auch beim Menschen Myelin regeneriert?

Hartung: Das Medikament ist ja zugelassen. Man kann also bei den Behandelten nachschauen, ob es Hinweise für eine Remyelinisierung gibt. Das ist natürlich schwerer als in der Kultur oder im Tierversuch. Es gibt aber kernspintomografische Marker, an denen man auf eine Remyelinisierung schließen kann. Da müsste man dann schauen, ob der Effekt beim Patienten auch messbar ist. Wir diskutieren gerade mit der Firma, die den Wirkstoff produziert, ob man in diese Richtung weiter forschen soll.

In einer Arbeit aus 2014 diskutieren Sie und Ihre Kollegen einen Zusammenhang zwischen Vitamin D und MS (JAMA Neurol, 2014). Patienten Ihrer Studie, die stärkere Symptome zeigten und bei denen die MS schnell voranschritt, hatten geringere Konzentrationen einer Vitamin-D-Vorstufe im Blut. Umgekehrt zeigten die Patienten mit mehr Vitamin D im Körper schwächere Symptome. Ist das nur eine Korrelation oder ist Vitamin-D-Mangel Mitverursacher von MS-Symptomen?

Hartung: Sehr gute Frage. Es gibt inzwischen sicher um die einhundert Studien, die den Vitamin D-Spiegel oder die Sonnenexposition untersucht haben mit Blick auf MS-Schübe. Da wurde durch verschiedene Arbeitsgruppen einfach durch klinische Beobachtung ein solcher Zusammenhang festgestellt. Wenn die Vitamin D-Spiegel niedrig sind, haben Patienten ein höheres Risiko, einen Schub zu entwickeln. Weiterhin gibt es einige Untersuchungen, die besagen: Wenn Neugeborene sehr niedrige Vitamin D-Spiegel haben, dann ist ihr Risiko höher, später MS zu entwickeln. Somit könnte das ein Mitauslöser sein – unter zahlreichen weiteren Faktoren.

Kann man denn umgekehrt durch Vitamin D-Gabe MS verhindern oder die Symptome lindern?

Hartung: Es gibt in der Tat Kollegen in verschiedenen Ländern, die unter dem Eindruck der vielen epidemiologischen Studien MS-Patienten Vitamin D verabreichen. In Großbritannien ist das Routine. Der Beweis durch eine therapeutische Interventionsstudie ist bislang noch nicht überzeugend geführt worden. Es gibt aber viele Daten, wonach niedrige Vitamin D-Spiegel bei diversen Autoimmunerkrankungen zumindest einen Beitrag leisten. Zum Beispiel ist das für rheumatoide Arthritis untersucht. Man weiß, dass Vitamin D an verschiedenen Stellschrauben des Immunsystems arbeitet und beispielsweise Aktivität autoreaktiver T-Zellen vermindert. Dazu gibt es präklinische Daten. Ein positiver Effekt durch Vitamin D-Gabe wäre also plausibel.

Die Fragen stellte Mario Rembold



Letzte Änderungen: 12.06.2018