Editorial

Altersspuren durch Atompilze

Es ist vielleicht das größte Pulse-Chase-Experiment der Biologie. Und auch die Idee ist groß: Ein schwedisches Team nutzte die Folgen oberirdischer Atomwaffenversuche um das Alter von Zellen mittels Radiocarbon-Datierung zu bestimmen.

(20.07.2005) Radiocarbon-Methode? Bestimmt man damit nicht das Alter von Fossilien? Richtig. Und das geht grob folgendermaßen: Das Verhältnis des radioaktiven Kohlenstoff-Isotops C14 zum "normalen" C12 ist in der Natur seit Millionen Jahren stabil (hoffentlich). Das gilt auch für Organismen, die ja stetig die allermeisten ihrer Kohlenstoffatome immer wieder gegen diejenigen aus Luft und Nahrung austauschen - jedenfalls solange sie leben. Stirbt ein Organismus, wird nicht mehr viel ausgetauscht. Die Kohlenstoffatome bleiben, wo sie sind - und die C14-Isotope darunter zerfallen. Dies jedoch tun sie sehr langsam, C14 zerfällt alle 6.000 Jahre um die Hälfte. Eine Spitzensache also, um alte und sehr alte Fossilien zu datieren. Aber Zellen von Organismen, die vor ganz kurzem noch lebten?

Vorweg: Es funktioniert. Aber nur, weil Jonas Frisen und seine Mitarbeiter am Karolinska-Institut in Stockholm zwei Dinge im Kopf hatten - und kombinierten. Nummer eins waren die klassischen Pulse-Chase-Experimente. Dabei gibt man radioaktiv markierte Moleküle als Pulse zu einer biologischen Probe und kann über die Markierung zu verschiedenen Intervallen verfolgen, was die Zelle oder das Gewebe mit dem Molekül macht - binden, umsetzen, transportieren...

Der entscheidende Gedanke von Frisen und Co. war jedoch der zweite: Nämlich, dass die Erdatmosphäre durch die oberirdischen Atomwaffentests von 1943 bis zum Teststoppabkommen der Nuklearmächte im Jahre 1963 quasi einem gewaltigen radioaktiven Puls ausgesetzt wurde. Der C14-Gehalt der Atmosphäre hatte sich in dieser Zeit vervielfacht und halbiert sich seit dem Teststopp alle 11 Jahre. Das müsste reichen, so überlegten die Schweden, dass sich damit auch in moderner DNA Änderungen im Radiocarbongehalt messen lassen müssten.

"Die meisten Moleküle setzt die Zelle stetig um", so Frisen. "Die DNA jedoch tauscht seinen Kohlenstoff nach der Zellteilung nicht mehr aus." Zellen, deren "Geburt" samt DNA-Synthese schon einige Jahre zurückliegt, müsste man daher auf diese Weise datieren können - so die Theorie. Zellen mit hoher Teilungsaktivität, wie etwa Blutzellen, dagegen nicht.

Gesagt, getan. Frisen und Co. entnahmen Gewebeproben aus einem guten Dutzend Verstorbener, von denen die Hälfte vor Mitte der Sechziger Jahre geboren war, die andere danach. Fazit der Datierungsversuche: Die Schweden konnten die "Geburt" einzelner Zellen bis auf etwa zwei Jahre genau eingrenzen (Cell 122, S. 133). So sind nach deren Messungen die Darmzellen eines dreißigjährigen Menschen im Schnitt etwa 10 Jahre alt, Muskelzellen noch etwas älter.

Das Hauptinteresse von Erstautorin Kristy Spalding et al. galt jedoch der Hirnrinde (Cortex) - und der Streitfrage, ob sich dort nach der Geburt Nervenzellen überhaupt noch teilen. Eine solche Neurogenese findet nach deren Daten im Cortex, anders etwa als im Hippocampus, ab der Geburt nicht mehr statt. Nach den C14-Daten waren die Kerne der Nervenzellen aus der Hirnrinde so alt wie das jeweilige Individuum selbst. Nicht-neuronale Zellen der Hirnrinde dagegen waren jünger, scheinen sich also auch nach der Geburt noch zu teilen.

Die Kollegen bejubeln denn auch den methodischen Geistesblitz von Frisen und Co., da auf diese Art Zellen nicht mehr bei Geburt markiert werden müssen und somit auch retrospektiv analysiert werden können. Vor allem erwarten sie sich einiges bei der Klärung der Frage, wie rigide beziehungsweise flexibel unser Gehirn auf zellulärem Level ist.

Ein Haken allerdings bleibt: Die Chase-Phase dieses globalen Experiments läuft schon eine ganze Weile, und seitdem fällt der C14-Anteil der Atmosphäre wieder schnell. Die Empfindlichkeit der Methode wird also zwangsläufig über die Zeit abnehmen - weshalb die genauesten Daten natürlich diejenigen Individuen liefern, die um die Zeit der oberirdischen Atomwaffentests geboren wurden. Doch die Schweden bleiben gelassen: "Es gibt jede Menge Gewebebanken mit archiviertem Material, das sich für unsere Zwecke eignet", so Kristy Spalding.

Ralf Neumann



Letzte Änderungen: 20.07.2005