Editorial

Gläserner Fliegen-Embryo

(12.9.17) Ein virtueller Drosophila-Embryo zeigt mit zellulärer Auflösung, an welcher Stelle welche Gene abgelesen werden. Berliner Systembiologen ermöglichen damit neue Einblicke in die Regulation der frühen Embryonalentwicklung des Modellorganismus.
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© Drosophila Virtual Expression eXplorer, BIMSB at the MDC

Es bleibt eines der größten Wunder der belebten Welt: Aus einer befruchteten Eizelle wird ein komplexer, vielzelliger Organismus mit verschiedenen Gewebetypen, die ganz unterschiedliche Eigenschaften besitzen und vielfältige Aufgaben wahrnehmen – und das, obwohl die genetische Ausstattung aller Zellen gleich ist. Eines der bewährtesten Tiermodelle zur Untersuchung der komplizierten Vorgänge in der Embryonalentwicklung ist die Taufliege Drosophila melanogaster. Schließlich wurde an ihr erstmals gezeigt, wie eine fein abgestimmte zeitliche Kaskade von Transkriptionsfaktoren zur Ausbildung räumlicher Konzentrationsgradienten von Regulatorproteinen führt,die letztlich das räumliche Muster der verschiedenen Gewebe und Organe festlegen.

Im Anschluss an die Befruchtung durchläuft der Kern der Fliegen-Eizelle dreizehn Teilungszyklen, wodurch ein Synzytium mit etwa 6.000 Zellkernen entsteht. Diese wandern anschließend an die Peripherie des Embryos und werden dort von Zellmembranen umhüllt. Ab dieser Stufe beginnen sich räumliche Genexpressionsmuster herauszubilden, indem die einzelnen Zellen Informationen über ihre Position im Embryo – zuerst entlang der Körperachsen als oben und unten sowie vorne und hinten – in ein charakteristisches Transkriptionsprofil umsetzen.

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Momentaufnahme früher Embryonalentwicklung

Dennoch ist damit natürlich noch längst nicht alles verstanden. So blieb es ein Rätsel, wie der Embryo die Synchronizität der ersten Zellteilungen durchbricht, denn nur wenn sich die Zellen zu unterschiedlichen Zeitpunkten teilen, können komplexere und funktionell verschiedene Gewebetypen entstehen. Diese und viele andere Fragen wollten Forscher um Nikolaus Rajewsky und Robert Zinzen vom Berlin Institute of Medical Systems Biology am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin lösen. Zu diesem Zweck erstellten sie ein Modell eines frühen Drosophila-Embryos, in dem in bisher ungekannter räumlicher Auflösung hinterlegt ist, welche Gene in welcher Zelle abgelesen werden (Science  31. Aug. 2017: eaan3235; DOI: 10.1126/science.aan3235).

Grob vereinfacht gingen die Forscher dazu folgendermaßen vor: Zuerst wählten sie Fliegenembryonen aus, die kurz vor der Gastrulation standen – demjenigen Vorgang, bei dem es zu einer Einstülpung des Embryos und der Ausbildung der drei Keimblätter kommt. Diese Phase schließt sich zeitlich an die oben erwähnte Entwicklungsstufe mit rund 6.000 Zellen an. Die Embryos wurden daraufhin in ihre Einzelzellen zerlegt und deren Transkriptionsprofile bestimmt. Am Ende wurde der Embryo virtuell rekonstruiert, indem jeder Zelle anhand ihres charakteristischen Expressionsprofils durch einen Computeralgorithmus ein Ort zugewiesen wurde.

Puzzeln für Fortgeschrittene

So einfach das klingt, so komplex und aufwendig war das Vorgehen in der Praxis. Im ersten Schritt wählten die Berliner per Hand mehr als 5.000 Embryonen aus, die kurz vor der Gastrulation standen, und zerlegten sie in einzelne Zellen. Mittels Methanolfixierung verhinderten sie, dass sich deren Expressionsmuster bis zur Analyse veränderte. Anschließend ermittelten sie das Transkriptionsprofil jeder einzelnen Zelle mit Tröpfchen-basierter Einzelzellsequenzierung (Drop Seq), einer Methode zur schnellen Transkriptom-Analyse tausender von Einzelzellen. Anhand ihrer Expressionsmuster konnte das Team um Rajewsky und Zinzen die analysierten Zellen in neun markante Zellcluster einteilen, deren Identität sie vor allem über die Expression bestimmter Cluster-spezifischer Gene festlegten. Bei diesen handelte es sich wenig überraschend zu einem Großteil um Transkriptionsfaktoren.

Um die Zellen nun virtuell wieder zu einem Embryo zusammenzufügen, griffen Rajewsky, Zinzen und Co. auf so genannte In-situ-Marker zurück. Dabei handelte es sich um Gene, deren räumliche Aktivitätsverteilung aus experimentellen In-situ-Hybridisierungsanalysen bekannt und entsprechend in einem Referenzatlas des Berkeley Drosophila Transcription Network Project (BDTNP) hinterlegt waren. Anhand dieser 84 Marker definierten die Forscher über 3.000 Positionen in ihrem Embryomodell und ordneten diesen die untersuchten Zellen gemäß ihrer charakteristischen Expressionsmuster zu, so dass der virtuelle Embryo eine nahezu zelluläre Auflösung besitzt.

Unerwartete Regulationswege

Auf diese Weise bietet das Embryo-Modell eine Momentaufnahme der frühen Embryogenese und bildet die Aktivität von etwa 8.000 Genen pro Zelle ab. Über die interaktive Datenbank Drosophila Virtual Expression eXplorer“ (DVEX) steht es für die Durchführung von virtuellen In-situ-Hybridisierungen (vISH) zur Verfügung. So lässt sich im Vergleich zur experimentellen ISH damit beispielsweise sehr schnell herauszufinden, wo welche Gene aktiv sind und welche Gradienten dadurch im Embryo ausgebildet werden. Die „reale“ Aussagekraft der vISH überprüften die Berliner exemplarisch durch Abgleich mit echten In-situ-Hybridisierungsanalysen.

Mit Hilfe ihres neuen Werkzeugs haben Rajewsky und Zinzen inzwischen bereits mehrere neue Transkriptionsfaktoren aufgespürt, die eine Rolle bei der Entwicklung des frühen Fliegenembryos spielen. Auch fanden sie mehr als vierzig lange, nicht-kodierende RNAs (lncRNAs) mit einem räumlichen Aktivitätsmuster – was auf eine regulatorische Rolle hindeutet. Außerdem konnte das Forscherteam nachweisen, dass der sogenannte Hippo-Signalweg, der bislang nur als „späterer“ Regulator für Organgröße, Zellzyklus und Zellwachstum bekannt war, schon in der frühen Embryogenese aktiv ist: Bereits hier werden Liganden, Rezeptoren und andere Komponenten des Signalwegs exprimiert.

Asynchronizität erklärt

Dieses Ergebnis ist besonders interessant, da das Hippo-Signal eine Möglichkeit bietet, die Synchronizität der Zellteilung zu durchbrechen. Nachdem die Zellkerne im Fliegenembryo an den Rand gewandert sind und dort von einer Membran umschlossen wurden, kommt es zunächst zu einem Zellteilungsstopp. Die weiteren Zellteilungen erfolgen dann asynchron, insbesondere mit einer Verzögerung der Mitose im anterioren (vorderen) Bereich des Embryos. Genau in den Bereichen, in denen die Mitose unterdrückt ist, muss Hippo den Analysen zufolge aktiv sein, denn dort fanden sich geringere Mengen des Transkriptionsfaktors Yorkie im Zellkern. Yorkie wird als Resultat eines aktiven Hippo-Signalwegs phosphoryliert und wandert daraufhin vom Zellkern ins Cytoplasma.

Nach diesen Proofs of Principle möchten die Berliner ihren Algorithmus jetzt zur Rekonstruktion des Gewebes weiter verbessern – beispielsweise indem bereits zugewiesene Zellen die Zuordnung weiterer Zellen vereinfachen. Dies sollte am Ende auch die Rekonstruktion deutlich komplexerer Gewebe erleichtern. Besonders interessant scheint es zudem, Fliegenembryos verschiedener Entwicklungsphasen zu rekonstruieren und miteinander zu vergleichen, so dass der hohen räumlichen Auflösung eine zeitliche Dimension hinzugefügt wird.

Larissa Tetsch



Letzte Änderungen: 04.10.2017