Editorial

Mahlzeit! Ein Drama

Businesspläne für Gastwirtschaften - braucht man das wirklich? Man braucht das. Fragen Sie die Laborjournal-Redaktion - die war neulich beim Mittagessen: Drei Stunden, die Deutschlands Wirtschaft, zumindest eine davon, erschütterten. Lesen Sie selbst.

(27.05.2005) Herausgeber H. ist, wie alle bei Laborjournal, ein begeisterungsfähiger Charakter. Normalerweise begeistert sich H. für hochtechnisierte Apparate, in denen zahllose Mikroprozessoren und Leuchtdioden pulsen und deren Betrieb 200-seitige Anleitungen erfordert (die er nie liest). Ferner begeistern ihn seine Kinder, von ihm selbst gemachte Rockmusik, der SC Freiburg im UEFA-Cup und vieles mehr.

Mit großer Begeisterung erzählte er neulich auch von der neu eröffneten Edel-Wirtschaft unweit der Laborjournal-Redaktionsräume, und lud spontan gleich die gesamte Belegschaft zum Mittagessen ein: "Die haben ganz frisch aufgemacht. Die geben sich bestimmt viel Mühe. Haben sogar vegetarische Menüs, und das beste: Verraucht soll's auch nicht sein." Bisher war man bei solchen Gelegenheiten auf den Italiener 500 Meter stadtauswärts angewiesen gewesen (günstig, lecker, freundlich und von dicken Rauchschwaden durchzogen).

Auf in die neue Edel-Wirtschaft!

Gesagt, getan: Die Dateien geschlossen, die Computermäuse weggelegt, rein in die Frühjahrsjacken und raus in die Breisgau-Sonne. Fünf hungrige Journalisten queren die viel befahrene Hauptstraße und spazieren rüber ins benachbarte, ruhige Wohnviertel, in dem der harte Kern von Freiburgs Ökoszene siedelt. Mitten drin befindet sich eine Art Bürgerzentrum und dort, im Erdgeschoss, hatte vier Tage zuvor die besagte Gastwirtschaft eröffnet.

Schon im Vorraum anerkennendes Nicken von Reporter R.: "Tatsächlich, gar nicht verraucht." Man betritt hohe, helle Räume - loftiges Ambiente mit bequemen Stühlen. Viel los ist nicht - keine zwanzig weiteren Gäste verlieren sich in drei großen Räumen. Kaum fünfzehn Minuten nach unserem Eintreffen steht auch schon der Kellner des Etablissements am Tisch: "Was darf's denn sein?" Aus Solidariät zu Redakteur K. (Geburtsland: Bayern) bestellen drei der fünf ein ökologisch korrektes Neumarkter Lammsbräu, Layouter S. hingegen entscheidet sich für eine große Apfelsaftschorle und Redakteur K., begeisterter Radsportler im Zwangsruhestand, für ein Radler "Nullfünf".

Man schreitet zur Essenbestellung. Die Speisekarte ist übersichtlich: Schnitzel mit Salat, Gemüse gebraten mit Salat. Praktisch, da muß man sich nicht lange entscheiden! Die Wahl geht drei (Schnitzel) zu zwei (Gemüse) aus. Überraschenderweise ordert nebst K. auch Reporter R. Grünzeug. Muß wohl eine übersinnliche Eingebung sein. - Doch der Reihe nach...

Alternativ-Flyer vom PSI-Salber

Freudige Erwartung, kaum 30 Minuten später: Schon werden die Getränke geliefert. Die Mägen knurren freudig-leer; jetzt wäre was Nettes zum Lesen recht. Zeitschriften liegen leider keine aus, dafür stapeln sich in einer Ablage Flyer im gräulichen Umweltschutzpapier-Outfit. Die naturwissenschaftlich verbildetete Redaktion nutzt die Gelegenheit, sich mal wieder übers wahre Leben zu informieren. Man lernt Interessantes über die Haustierzucht ("Der Kosmos kann heilen - sanfte Astro-Medizin für Hund und Katz"), erkundet alternative Geldanlage-Möglichkeiten ("Bachblütenbrevier in 24 Einzelkursen - nur 150 Euro pro Sitzung") und sammelt Ideen für den nächsten Redaktionsausflug ("Grenzwissenschaften und darüber hinaus - ein PSI-Salber bringt Sie hin").

Irgendwann sind alle Flyer durchgelesen, die Mittagspause eigentlich auch schon vorüber, doch der Kellner hilft wohl gerade dem Koch beim Kochen. Egal, die fünf hungrigen Laborjournaler vertreiben sich nun die Zeit, indem sie die Inneneinrichtung des neu eröffneten Gastronomiebetriebs bewerten. Besonderen Anklang findet ein im Raumeck befindliches, silberglänzendes Metallkonstrukt, das vermutlich bei den Dreharbeiten zur letzten Star Trek-Staffel als Maschinenraumkulisse Anwendung fand.

"Na klar, das ist ein futuristischer Heizkörper. Irgendwas umweltfreundliches." - Für die Augen aber wohl nicht, höhö... - Nee, das ist ein postmodernes Designobjekt ohne Funktion. Bauhaus-Stil." - "Vielleicht ist's aber auch ein integrierter Wandschrank fürs Essbesteck." - "Haha, Essbesteck, sowas brauchen die hier nicht. Oder siehst Du jemanden essen...?"

Betretenes Schweigen. Knapp 90 Minuten sind vergangen seit der Bestellung, fünf Mägen knurren streitlustig. Ein kurzer Blick in den Nachbarraum - nur wenige Gäste haben Essbares auf dem Teller. Schnell einigt man sich: Das Metallkonstrukt sei eine getarnte Brutzelvorrichtung für Räucherstäbchen. Den Kellner zu fragen traut sich keiner der Laborjournaler, womöglich vergisst er dann die Bestellung ganz. - Ohnehin ist er vor einer knappen halben Stunde das letzte Mal aufgetaucht. Da hat er die leeren Gläser abgeholt. Eindreiviertel Stunden. Zwei Stunden. Chefredakteur N. murmelt was von "muß abends noch die Kinder abholen, der soll mal machen", Herausgeber H. wirbt unverdrossen mit "deren Team ist halt noch nicht eingespielt" für Verständnis.

Wie meuchelt man Kellner möglichst grausam?

Man philosophiert weiter. Nach weiteren 25 Minuten mehren sich am Laborjournal-Tisch die Meuchelmörderblicke. Der Kellner (es scheint übrigens der einzige zu sein) muß wohl gerade zusammen mit dem Koch irgendwas Wichtiges erledigen. "Ja genau", wirft Redakteur K. ein, "ein Buch lesen: Wie vergraule ich meine Gäste?" Gelächter, Schenkelklopfen. Soweit ist es schon.

"Guckt mal, die an dem Tisch da drüben, die haben auch noch nix zum Essen", sagt Layouter S. - "Na klar, sind vermutlich auch erst eine Viertelstunde vor uns gekommen", düstert Chefredakteur N. vor sich hin. Starre Blicke, hungriges Schweigen. Wie meuchelt man Kellner und Köche möglichst grausam?

Herausgeber H. ist klar: Er muß etwas unternehmen. Er zückt sein Mobiltelefon. "Soll ich uns fünf Pizzas in die Redaktion bestellen...?"

Gut gemeint, doch so schnell geben LJ-Redakteure nicht auf. Langsam schütteln alle den Kopf. Jetzt bloß keine Schwäche zeigen. Redakteur K. erinnert sich an Ullrich il Kaiser kurz vor Les Deux Alpes 1998, Chefredakteur N. sinniert über glückliche Cholesterin-Mäuse nach, und Herausgeber H. und Layouter S. widmen dem gut mit Bounty-Riegeln gefüllten Redaktionskühlschrank eine Gedenkminute.

Wo ist sie nur, die alte Flinte?

Reporter R. hingegen fällt sein früheres Hobby wieder ein. Wo liegt sie nur, die alte Vorderlader-Flinte? Ein grausam Lächeln umspielt sein abwesendes Gesicht.

"So, hier kommt schon das Essen...". Der Kellner ist mit seiner Hausrenovierung früher als erwartet fertig und reisst die Laborjournal-Mannschaft aus ihrer Lethargie. Kaum zu glauben, zwei große Teller balancieren auf seinem Unterarm. "Wer bekommt das Gemüse...?". Fünf Arme schnellen hoch, drei davon vergebens, denn mit verstecktem Grinsen winken Reporter R. und Redakteur K. die Teller zu sich.

Das vergeht ihnen alsbald wieder: Eine Handvoll angebratener Gemüsestückchen langweilt sich soßenlos auf weißem Porzellan. Nouvelle Cuisine in Freiburgs Süden. Nach einskommaacht Minuten (handgestoppt) klimpert kaum verschmutztes Besteck in zwei leere Teller. Erneut ist Warten angesagt.

"War's wenigstens gut?" Naja, ging so. Immerhin war das Brokkoli-Röschen nicht angebrannt. Wo ist der Brotkorb? Der ist seit zwei Stunden leer. Nachfüllen ist hier nicht im Programm vorgesehen, so scheint es, und der Kellner ohnehin mal wieder verschwunden.

Alles wird gut: Die Steaks sind da!

Nicht dass Sie jetzt glauben, das sei eine Übertreibung. Nein! Kaum 20 Minuten nach der Lieferung des hauseigenen Mickergemüses rumpelt der Kellner, nun plötzlich in extrem geschäftiger Manier, mit drei weiteren Tellern in Richtung unseres Tisches: "Drei Steaks...". Er ringt sich sogar ein Lächeln ab! Kaum zu glauben. Alles wird gut.

Oder etwa doch nicht? Des Layouters S. Steak entpuppt sich als hälftig gut durchgebraten (toll), hälftig noch recht blutig (weniger toll). Wir ziehen die Speisekarte zu Rate: Kein Wort von "rare" oder "saignant". Unsere schüchterne Reklamation quittiert der Kellner mit stummem, sauertöpfischem Lächeln. Problemkunden, oh Graus, was sind wir nur für kleinliche Spießer. Erneut beginnt das Ausharren vor leeren Brotkörben.

"Sollen wir noch warten mit dem Essen...?" - Layouter S. winkt ab. "Dann ist Euer Steak auch noch kalt." Da hat er recht. Binnen weniger Augenblicke sind zwei weitere Teller vom Inhalt gesäubert. Anschließend flüchtet sich unser Grüppchen in immer wütenderen Galgenhumor. Layouter S. hat eine Idee: Er begibt sich auf eine Expedition in Richtung Küche. Als er zurückkommt, weiß er Wunderliches zu berichten: "Die gucken dem Steak in der Pfanne beim Braten zu!"

"Wer?!" - "Na, der Kellner und der Koch. Stehen beide da, gucken in die Pfanne und rühren sich nicht vom Fleck.

Zehn Minuten später (also gut 180 Minuten nach ihrer Ankunft) verlassen drei suboptimal gelaunte Personen die Stätte des Gemüse-und-Steak-Dramas. Herausgeber H. und Layouter S. sind noch drinnen und warten aufs nachgebesserte Fleischteil und die Rechnung, während sich ihre drei Kollegen längst über gut gekühlte Bountys hermachen und allmählich wieder zum Tagwerk übergehen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann warten H. und S. immer noch...

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Epilog 1: Sie sind nicht gestorben, warten aber auch nicht mehr: S. verzichtete auf Bezahlung seines Steaks, beendete mit H. ebenfalls das Drama und verlegte sich auf telefonisch georderte, italienische Hausmannskost. Die Pizza war binnen 15 Minuten da, völlig unblutig und vor allem: lecker!

Epilog 2: Wir wissen nicht, was andere in solchen Situationen empfehlen. Wir empfehlen Businesspläne für Gastronomiebetriebe. Darin sollten die acht goldenen Gastro-Regeln aufgeschrieben stehen, die da lauten:

1. Lasse Deinen Gast nicht länger als 60 Minuten auf sein Essen warten. 2. Drei Stunden sind zu lang!!! 3. Fülle den Brotkorb nach spätestens 90 Minuten wieder auf. 4. Lächele Deinen Gast gelegentlich an, er könnte Kummer haben. 5. (für Köche) Steaks müssen nicht 180 Minuten lang braten. Sind sie danach trotzdem noch blutig, schlage im Kochbuch nach und wiederhole den Bratvorgang. 6. (für Kellner) Gucke dem Koch nicht beim Kochen zu. Er schafft das alleine (schafft er das?) Sehe lieber nach Deinen Gästen, der Brotkorb könnte leer sein. 7. Bringe Deinen Gästen das Essen gleichzeitig an den Tisch, nicht in halbstündigen Etappen. 8. Solltest Du gegen eine oder mehrere der oben genannten sieben goldenen Regeln verstoßen haben, so HOLE DICH DER TEUFEL!!!

Epilog 3: Die Garzeiten von Steaks - ROH (auch blau, raw oder bleu): Sie haben aussen eine dünne, braune Kruste und sind innen blutig. Sie werden bei starker Hitze von jeder Seite 1 Minute gebraten. - BLUTIG (auch rare oder saignant): Sie haben eine braune Kruste, sind innen rosa und haben einen blutigen Kern. Sie werden bei starker Hitze von jeder Seite 2 Minuten gebraten. - ROSA (auch englisch, medium, anglais oder a point): Sie sind aussen braun und innen rosa. Sie werden erst bei starker Hitze von jeder Seite 1 Minute gebraten und dann bei mittlerer Hitze von jeder Seite 3 Minuten. - GANZ DURCHGEBRATEN (auch well done oder bien cuit): Sie sind völlig grau. Sie werden 1 Minute lang bei grosser Hitze in der Pfanne gewendet und dann noch 5 Minuten von jeder Seite bei mittlerer Hitze gebraten.

Winfried Köppelle

Kommentare zu diesem Artikel

Ich denke, man darf noch nicht so hart urteilen. Möglicherweise sind der Koch und der Kellner Molekularbiologen, die keine Stelle als Taxifahrer gefunden haben. Man sollte den beiden noch eine Chance z. B. mit "Lämmli mit Böhnli" oder "Gradientendessert eisgekühlt" geben.

Hubert Hug, 01-Jun-2005 15:18:26






Letzte Änderungen: 01.06.2005