Editorial

Fachbuch-Rezension: Nicht nur für Odonatologen!

(12.1.17) In dieser vierpfündigen Monografie stecken rund 75 Prozent aller Libellenarten, die der Naturfreund zwischen Garmisch und Flensburg beobachten kann - sowie enormes Potenzial für die Abwehr von Einbrechern und das Erträglichmachen langer Winterabende, findet der Laborjournal-Rezensent.
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Klare Empfehlung!

Mit dieser Schwarte können Sie ihren Dozenten bewusstlos schlagen. Da Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit von Hochschul-Angestellten nach § 223 StGB jedoch mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren sanktioniert werden, empfiehlt der Laborjournal-Rezensent, die knapp zwei Kilo Kampfgewicht von Die Libellen Schleswig-Holsteins andersweitig zu nutzen. Etwa für aggressive Einbrecher (hier gilt der Notwehr-Paragraf 227 BGB) und ähnliche Gestalten.

Im Haushalt des Laborjournal-Redakteurs wiederum leistete das Rezensionsexemplar in den vergangenen Monaten hervorragende Dienste als Behelfsfußschemel beim Gitarrenspiel, als vielseitige Blatt- und Pflanzenpresse beim Botanisieren sowie als robuste Insektenklatsche, die lästiges Ungeziefer am spätsommerlichen Kaffeetisch akkurat und schmerzfrei ins Jenseits befördert. Der dabei zwangsläufig entstehende, zähe Brei aus Haemolymphe und Chitin lässt sich erfreulicherweise rückstandslos vom solide gemachten Buchumschlag abwischen.

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Libellen fielen diesem wuchtigen Prachtband bislang nicht zum Opfer, denn die stehen in Deutschland ausnahmslos unter Artenschutz – selbst jene Spezies, die nicht vom Aussterben bedroht sind wie etwa die Große Königslibelle (Anax imperator). Zudem dürfte der typische Leser dieses bibliophilen Prachtwerks ohnehin ein besonderes Interesse daran haben, die üppig beflügelten Vertreter der Ordnung Odonata leben und sich vermehren zu lassen (auch wenn ein solches Leben nicht lange währt; mit Ausnahme der Winterlibellen, Sympecma, sterben adulte Libellen bereits zwei bis höchstens acht Wochen nach dem letzten Schlüpfen den Greisentod).

Meist erwischt es die gewandten Flugkünstler früher – recht häufig bereits unmittelbar bei ihrer Wiedergeburt als fortpflanzungsfähiges Imago: nämlich dann, wenn sie sich nach der letzten Häutung aus ihrer Exuvie herausmühen. Die dabei zwangsläufig hilflosen Individuen sind in dieser Situation ein gefundenes Fressen für ihre hungrigen Widersacher zu Boden und in der Luft (etwa Vögel, Fledermäuse, Wespen, Spinnen und selbst Ameisen). Erst wenn Libellen auch diese heikle Lebenslage überstanden haben, werden sie zu jenen bewunderten und gefürchteten Meisterfliegern, die ihre Beute im Raketentempo von 30 bis 60 km/h erbeuten, ihre Flügel unabhängig voneinander manövrieren und jederzeit abrupte Richtungswechsel vollziehen können – bis hin zum Rückwärtsflug und zum Helikopter-ähnlichen Schweben an Ort und Stelle.

Das von Zoologen gerne als Bestimmungsmerkmal verwendete, dunkel gefärbte „Flügelmal“ (Pterostigma) an der Flügelspitze nutzen Libellen übrigens, um ihre Manövriereigenschaften zu verändern: Sie können es mehr oder weniger mit Hämolymphe befüllen und damit je nach Notwendigkeit blitzschnell ihr wichtigstes Körperteil den gerade herrschenden aeronautischen Notwendigkeiten anpassen.

Doch nicht nur in der Luft, sondern auch im Wasser sind Libellen als Räuber gefürchtet. Die Larven gelten zusammen mit dem Gelbrandkäfer als unumstrittene Herrscher der Süßwassertümpel – und betätigen sich dabei regelmäßig als Kannibalen. Schlecht fürs unterlegene Individuum, gut für die Art – denn wie wir dank Darwin, Dobzhansky und Dawkins wissen, überleben nur die am besten Angepassten; die aber dafür mit den optimalen Genen.

Genug abgeschweift. Das vorliegende Werk, herausgegeben vom „Arbeitskreis Libellen in der Faunistisch-Ökologischen Arbeitsgemeinschaft e.V.“, umfasst 542 Seiten, gegliedert in drei Hauptabschnitte. Zunächst gehen die Autoren auf knapp 50 Seiten auf „Körperbau und Biologie der Libellen“ ein sowie auf die „naturräumliche Gliederung Schleswig-Holsteins“. Ganz hinten im Buch findet sich Wissenswertes zu den ökologischen Lebensräumen der beschriebenen Libellen, zur Veränderung der Libellenfauna seit der letzten Eiszeit sowie den rechtlichen Schutzbestimmungen.

Dazwischen, auf rund 400 Seiten, sind die Beschreibungen der in Schleswig-Holstein vorkommenden 57 Libellenarten gepackt. Deutschlandweit sind derzeit übrigens auch nicht viel mehr, nämlich genau 81 Arten beheimatet – was bedeutet, dass dieses Buch fast alle Libellen abdeckt, die der Naturbeobachter hierzulande beobachten kann.

Dies allein macht den Erwerb dieser beeindruckend wuchtigen Schwarte natürlich noch nicht lohnend. Doch – und soviel sei vorweggenommen – jedem Biologen und Naturfreund, ob Profi oder Laie, der hierfür 49,90 Euro investiert, kann man nur gratulieren.

Allein die drucktechnische Umsetzung verdient Lob. Das verwendete Papier ist von hoher Qualität (deshalb auch die knapp vier Pfund Kampfgewicht); die Reproduktionsqualität der schätzungsweise gut 1.000 Farbfotos ist exzellent, und die sprachliche Darstellung des Inhalts nach Meinung des Rezensenten mehr als nur gelungen. Da holpert nur selten mal ein Halbsatz, und was in ähnlichen Monografien verstaubt und dröge klingt, kommt in den Libellen Schleswig-Holsteins spritzig und zum Weiterlesen anregend daher. Trotz der zweifelsohne enormen Fachkenntnis, den das sechsköpfige Herausgeber-Team in sich vereint, lesen sich die Kapitelinhalte so flüssig und elegant wie der Jagdflug einer Zweigestreiften Quelljungfer; dank des unprätentiösen Stils, der dabei nie flach oder anbiedernd wirkt.

Wo immer der Laborjournal-Redakteur auch hineinblätterte – er blieb im Text kleben und las minutenlang mit Interesse, was immer dort über „Mosaikjungfern“, „Smaragdlibellen“, „Blaupfeile“ und all die anderen in Schleswig-Holstein beheimateten Vertreter ihrer Ordnung geschrieben stand.

Er erfuhr, dass Libellen (beziehungsweise deren Vorfahren) zu den stammesgeschichtlich ältesten flugfähigen Insekten überhaupt gehören und seit rund 325 Millionen Jahren die Erde bevölkern. Dass sie gleich mehrere Superlative auf sich vereinen: Sie besitzen insektenweit die größten und komplexesten Augen, und sie sind wie oben erwähnt, neben Kolibris die gewandtesten Flieger, die man sich nur denken kann.

Er erfuhr, dass Libellen nicht nur im Flug jagen, sondern auch unbewegte Beutetiere erkennen können - und manche Arten daher ruhende Insekten, etwa Blattläuse oder Spinnen, im Flug quasi vom Untergrund "abweiden" beziehungsweise absammeln. Dass Mosaikjungfern mit ihren riesigen Komplexaugen noch aus acht Metern Entfernung in der Lage sind, ihre Beute wahrzunehmen. Dass die Eiablage gelegentlich "per Abwurf ins Wasser" vonstatten geht. Und eine Menge weiterer Dinge, die nicht nur eingefleischte Biologen interessieren.

Selbst im faunistischen Mittelteil dieses Buchs, auf dem wie erwähnt hintereinander auf 400 Seiten stur eine Art nach der anderen beschrieben wird, und der daher wirklich nur unbelehrbare Hardcore-Systematiker interessieren sollte, las er sich fest! Seltsam.

Vielleicht liegt’s ja daran, dass der Rezensent von der Ausbildung her ein Vertreter der weißbekittelten Laborbiologen ist, mit Schwerpunkt auf Schleimpilzen, pflanzlichen Wachstumshormonen und dem täglichen Umgang mit Plastikgefäßen und allerlei Laborgeräten.

Ja, es gibt tatsächlich noch eine andere Welt da draußen, außerhalb der akademischen Flachdach-Ghettos, der neonbeleuchteten Kühlkammern und der sterilen Maschinenparks! Für den Rezensenten kam die Erkenntnis recht unerwartet – aber wenn Sie, lieber Laborjournal-Leser, am wohlverdienten Feierabend zuhause gerne mal eine Natursendung im Fernsehprogramm gucken oder gar DVDs aus der exzellenten „Planet Erde“-Serie der BBC Ihr eigen nennen, dann sollten Sie auch die Lektüre von Die Libellen Schleswig-Holsteins zumindest in Erwägung ziehen. Macht Freude und erweitert dabei den Horizont ganz ungemein – und mal ehrlich: Warum haben wir denn damals eigentlich Biologie studiert? Um tagaus, tagein bei Kunstlicht im Laborkittel herumzulaufen und auf den Displays von Laborcomputern herumzutippen? Na also!

Winfried Köppelle


Arbeitskreis Libellen in der Faunistisch-Ökologischen Arbeitsgemeinschaft e. V. (Herausgeber, vertreten durch: Angela Bruens, Arne Drews, Manfred Haacks, Frank Röbbelen, Klaus Voss & Christian Winkler): Die Libellen Schleswig-Holsteins. Verlag Natur + Text, 2015. 542 Seiten, 49,90 Euro (ISBN-13: 978-3942062190).



Letzte Änderungen: 01.02.2017