Editorial

Spitzenstecken ist lästig -- oder doch nicht?

(21.11.16) Pipettenspitzen aus dem Tausender-Sack fischen und jede einzeln zum Autoklavieren in Plastikboxen einsortieren: Eigentlich nix als dumpfe und lästige Fuddelarbeit für die allermeisten Bioforscher…

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Man könnte es meinen. Vor gut drei Jahren erhielt unsere Redaktion jedenfalls folgende E-Mail zum Thema:

„Sehr geehrte Laborjournal-Redaktion,

ich wende mich mit folgendem Anliegen an Sie. Während meiner gesamten Ausbildungszeit zum promovierten Biologen habe ich viel Spaß gehabt, aber eines stets nicht gerne gemacht: Selber Pipettenspitzen stecken!

Ich möchte daher jetzt eine Kampagne initiieren, die genau dieses Problem aufgreift. Und zwar möchte ich einen Großeinkauf von vorgesteckten Pipettenspitzen für viele Institute organisieren. Jeder Teilnehmer erhält somit hohe Rabatte, so dass sich im Prinzip jede Uni gesteckte Spitzen leisten kann.

Es gäbe auf diese Weise also keinen Grund mehr, Pipettenspitzen selber zu stecken.

Um zunächst in Erfahrung zu bringen, an welchen Spitzen die meisten Institute Interesse haben könnten, habe ich eine kurze Umfrage erstellt […]“

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Wir unterstützten die Initiative damals tatsächlich in unserem Laborjournal Blog – und hörten nie wieder davon.

Aus ganz anderen Gründen erinnerten wir uns jetzt wieder an die „Kampagne“ und dachten: Schauen wir doch mal nach, was daraus geworden ist.

Offenbar nicht viel. Die zugehörige Webseite spitzenkampagne.de ist heute jedenfalls inaktiv, ebenso die entsprechende Facebook-Seite. Nur die erwähnte Umfrage mit dem Titel "Steckst du noch oder forschst du schon?" kann man sich noch auf surveymonkey.com anschauen. Dennoch gibt es keinen Hinweis darauf, dass die gesamte Kampagne nennenswert über den damaligen Aufruf hinausgekommen ist. Wahrscheinlich gab es einfach viel zu wenig Rückmeldung.

Warum aber? Reine Interesselosigkeit oder Faulheit? Oder war das „Problem“ allgemein vielleicht doch nicht so groß und lästig, wie vom Initiator angenommen?

Immerhin – so fanden wir jetzt bei unserer kurzen Recherche – entstand damals auf dem Forum von chemieonline.de eine nicht ganz uninteressante Diskussion darüber. Unter anderem erklärte dort auch der Initiator der Spitzenkampagne nochmals seine Motivation:

In meiner gesamten Ausbildungszeit zum promovierten Biologen habe ich stets eine Sache nicht verstanden. Warum müssen die meisten von uns Pipettenspitzen selber stecken?

Der Grund ist, wie so häufig im öffentlichen Dienst, aus Kostengründen. Unis agieren hierbei meistens sehr unwirtschaftlich und lassen ihre Mitarbeiter lieber Spitzen selber stecken, anstelle direkt vorgesteckte Refill-Einheiten zu kaufen. Somit schonen diese ihre Sachmittelkonten, das Personal ist ja schon bezahlt“. Bei genauerer Betrachtung ist das aber eine Fehlkalkulation. Instituten gehen jährlich bis zu 1.000 Produktivstunden durch Spitzen stecken verloren. Viel wichtiger aus persönlicher Sicht: ich als Mitarbeiter bin absolut genervt.“

Okay, den emotionalen Aspekt haben wir inzwischen verstanden. Mit-Diskutant „Rosentod“ hatte jedoch sofort folgende verwaltungsrechtliche Bedenken:

„Das wird beschaffungsrechtlich nicht gehen. Bundesbehörden machen so etwas über das Kaufhaus des Bundes. Das Helmholtz-Zentrum, an dem ich mal gearbeitet habe, hatte für bestimmte Artikel ein zentrumsweites Beschaffungswesen. Aber über verschiedene Institutionen (zum Teil finanziert aus Landesmitteln, zum Teil aus Bundesmitteln) und Universitäten (verschiedene Bundesländer) hinweg wäre das ein Mammutprojekt. Und eine Vermischung von privaten Firmen und öffentlichem Dienst bei der Beschaffung geht gar nicht.“

Wozu dem Autoren dieser Zeilen unmittelbar einfiel, dass es in seinem „alten“ Uni-Institut bereits vor über 25 Jahren ähnlich geregelt war: Pipettenspitzen (wie auch anderes Verbrauchsmaterial) wurden „zentral“ in großen Mengen beschafft – und die rund 15 einzelnen Arbeitsgruppen bedienten sich daran. Allerdings gab es die Spitzen grundsätzlich auch nur lose in großen Säcken zum Selberstecken. Schließlich waren auch die aufgrund des Mengenrabatts nochmal billiger.

Die Mehrzahl der Forums-Diskutanten reagierte jedoch auf den Aspekt der „verlorenen Produktivstunden“. „Zarathustra“ schrieb etwa:

„Ich glaube nicht, dass die Sichtweise so richtig ist. Kapitalistisch betrachtet verliert man durch das Spitzenstecken keine Arbeitszeit, sondern gewinnt sie. Denn es wird wohl kein wissenschaftlicher Mitarbeiter seine Experimente ruhen lassen, nur weil er noch Spitzen stecken muss. Das wird dann nach der normalen Arbeit erledigt oder zwischendrin, wenn man eine Inkubationspause hat oder ähnliches.“

Wofür es sogleich Unterstützung durch Mit-Diskutant „Caliban“ gab:

„Die Zeitersparnis durch vorgesteckte Spitzen ist zwar da, aber Zarathustra sieht das schon richtig. Normalerweise kann man so etwas gut in Inkubationszeiten erledigen. Ich verbrauche momentan normalerweise 20 bis30 Kästen (zirka 2.000 bis 3.000 Spitzen) die Woche. Bei langsamen 2,5 Minuten pro Kasten (schlägt hier irgendjemand 1:25 für einen gelben Spitzenkasten?) sind das 50 bis 75 Minuten pro Woche. Das bringt man normalerweise ganz gut unter. Klar nervt es manchmal, wenn sich größere Kastentürme angesammelt haben. Es kann aber manchmal auch ganz entspannend sein.“

Ein Punkt, der abschließend nochmals von „ricinus“ vertieft wurde:

„Es ist doch eine fast meditative Beschäftigung. Nach der anstrengenden intellektuellen Arbeit einfach mal eine Runde Pipettenspitzen stecken... – und dabei das Gehirn im Leerlauf lassen, das Nichts in sich ausbreiten lassen oder über den Sinn des Lebens oder der Wissenschaft nachdenken. Solchen Leerlauf braucht der Denkapparat, um neue Ideen spriessen zu lassen. Meine besten Ideen habe ich nicht im Labor, sondern abends im Bett, in Zug oder Bus, im Bad oder auf dem Klo...

Japanische Manager pflegen ihre Steingärten, die es in Miniaturausgabe samt Mikrorechen für den Schreibtisch gibt (kein Witz). Wir haben eben unsere Pipettenspitzen!“

So gesehen könnte es also tatsächlich sein, dass gar nicht mal so viele das Spitzenstecken als ebenso großes und lästiges Problem sehen wie damals der Initiator der Spitzenkampagne.

Ralf Neumann



Letzte Änderungen: 07.02.2017