Editorial

Das Geburtsdilemma

(11.4.16) Der aufrechte Gang des Menschen sei schuld daran, dass Geburten oft kompliziert und schmerzhaft verlaufen. Wirklich? Ein Beitrag aus der Reihe "Lehrbuchwissen hinterfragt".
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Die Geburt der Menschen-Babys war bis in die Neuzeit hinein ein hochriskantes Ereignis für Mutter und Kind. Erst die moderne Geburtshilfe konnte die Sterblichkeit von Müttern und Säuglingen auf beruhigend niedrige Werte drücken. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ging die Müttersterblichkeit, also die Zahl der Schwangerschafts-bezogenen Todesfälle pro 100.000 Geburten, in den Industrienationen von etwa 300 auf heute ungefähr 12 zurück. Auch die Chance, mit einem gesunden Säugling nach Hause gehen zu können, ist dramatisch gestiegen. Wenn's sein muss, kommen Zangen, Saugglocken und der Wehentropf zum Einsatz, um dem Baby auf die Welt zu helfen, oder auch ein Kaiserschnitt. Alles nicht sehr "natürlich". Aber die Natur meint es eben nicht immer gut mit gebärenden Frauen.

Warum war die "natürliche" Geburt beim Menschen relativ oft ein Drama um Leben und Tod? Bei den meisten anderen Säugetieren, auch bei unseren nächsten Verwandten unter den Primaten, kommen die Nachkommen offenbar problemloser auf die Welt. Menschenbabys scheinen dagegen gerade so mit Müh' und Not durch den Geburtskanal zu passen. Zudem werden sie vergleichsweise unreif und hilflos geboren, mit einem im Verhältnis zum Erwachsenen deutlich kleinerem Gehirn als bei anderen Säugetieren.

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Verhängnisvolle Beckenanatomie?

 Der Grund lag für Anthropologen lange Zeit auf der Hand – das sogenannte Geburtsdilemma ("obstetric dilemma"). Eine evolutionär gesehen sehr junge anatomische Besonderheit des Menschen, der aufrechte Gang, sei schuld.

"Es ist nicht möglich, Kinder mit großen Gehirnen auf die Welt zu bringen und gleichzeitig auf zwei Beinen zu gehen",

schrieb etwa die Evolutionsbiologin Marlene Zuk in ihrem populärwissenschaftlichen Buch "Paleofantasies".

 Nach landläufiger Erklärung haben wir es also mit einem typischen Fall widerstrebender Selektionsdrücke zu tun. Vereinfacht gesagt geht die Geschichte etwa so:

 Beides, aufrechter Gang und zunehmende Gehirngröße, erhöhte die darwinsche Fitness unserer Vorfahren – sie hatten mehr fortpflanzungsfähige Nachkommen, die vorteilhaften Merkmale setzten sich durch. Aber dieser Fitness-Vorteil ist mit Kosten verbunden. Der Geburtskanal aufrecht gehender Frauen ist wegen der veränderten Anatomie des Beckens zu eng, zumal fatalerweise die Menschen-Köpfe auch noch größer wurden. Das heutige sub-optimale Arrangement ist demnach ein Kompromiss. Menschenkinder kommen recht unreif auf die Welt und müssen lange gesäugt werden. Und trotzdem ist die Geburt riskant; das geht anatomisch vielleicht gar nicht anders, wenn man aufrecht geht wie kein anderes Tier.

Nur eine Hypothese

 Aber, wie das oft so ist mit biologischem "Allgemeinwissen": Mehr als eine Hypothese ist das "obstetric dilemma" nicht. Und gerade in den letzten Jahren sind einige Arbeiten erschienen, die Zweifel aufkommen lassen an dieser Erklärung.

 Die Anthropologin Holly Dunsworth aus Rhode Island, USA, hat beim Blog "The Mermaid's Tale" eine ganze Reihe verschiedener Szenarien durchdekliniert. Da ist zum einen die Arbeit von Anna Warrener, Humanbiologin aus Harvard, die mit Kollegen in einer PLOS-ONE-Publikation die klassische Hypothese neu aufgerollt hat, dass hypothetisch denkbare, gebärtauglichere Beckenknochen den Menschenfrauen Probleme beim aufrechten Gang bereiten würden. Dabei haben die amerikanischen Forscherinnen ein dynamisches Modell unseres Zweifüßler-Gangs untersucht, und nicht einfach, wie frühere Studien, nur die Statik verglichen.

Ihre Daten scheinen einer simplen anatomischen Erklärung zu widersprechen. Weitere Hüften, die das Gebären leichter machen würden, wären aus Bewegungsaspekten jedenfalls kein deutlicher Nachteil, schlussfolgern die Forscherinnen. Aber wenn nicht der aufrechte Gang und die dafür nötige Anatomie die Ursache für die schweren Geburten der Menschenfrauen sind – was dann?

Kann die Genetik nichts dafür?

Eine der interessanteren Alternativen ist die Idee, dass Genetik und Evolution vielleicht gar nicht schuld sind. Schließlich wird der Mensch durch "Nature" und "Nurture" geformt, durch Genetik und Umwelteinflüsse. Und in der Abteilung "Nurture" gab es in der Menschheitsgeschichte einen dramatischen, selbstgemachten Wandel: die Entdeckung der Landwirtschaft. Lebensmittel waren durch diese kulturelle Revolution regelmäßig verfügbar, Ernährungsgewohnheiten änderten sich, Unterernährung nahm ab. Vielleicht muss man die Ursache für das anatomisch un-perfekte Setup ja gar nicht in den Genen suchen?

Beeinflusst die bessere Ernährung des modernen, sesshaften Menschen die Anatomie von Mutter und Baby? Und vielleicht nicht unbedingt in einem Sinne, der die Geburt leichter macht? Babys gut ernährter Mütter sind im Verhältnis größer und es klingt nicht unplausibel, dass dadurch die Geburt erschwert wird.

Aber ob das wirklich der entscheidende Faktor war? Spekulation, natürlich. Aber nicht zwangsläufig weniger glaubwürdig als die alte Idee der genetisch und evolutionär bedingten anatomischen Zwickmühle.

 Ähnlich steht es auch um den zweiten Aspekt des "Geburtsdilemmas", die vergleichsweise kleine Gehirngröße der Neugeborenen. Vielleicht hat die Unreife der Menschensäuglinge gar nichts oder nur wenig mit dem engen Geburtskanal zu tun? Auch andere, wenig aufrecht gehende Primatenbabys haben kleine Gehirne bei ihrer Geburt. Muss man also vielleicht eher bei sozialen Faktoren nach einer Erklärung suchen? Primaten betreiben nach der Geburt intensive Brutpflege – hat sich daher die Geburt quasi vorverlegt, unabhängig von der Beckenanatomie?

 Hätte. Könnte.

 Wie so oft, wenn es um die Evolution des Menschen geht, landet man bei schönen Geschichten, deren Überprüfung schwierig ist und noch viel Arbeit bedeutet.

 

 

Hans Zauner

In der Laborjournal-Online-Reihe "Lehrbuchwissen hinterfragt" gehen wir der Frage nach, ob denn wirklich alles stimmt, was den Studenten im Studium erzählt wird. Gerne nehmen wir Themenvorschläge für diese lockere Reihe entgegen - Kontakt hier oder auch z.B. via Twitter (dort sind wir unter @lab_journal anzutreffen).

Bisher erschienen

"Die Sache mit dem Chromatin"

"Phineas Cage und die Eisenstange"
"Schwestergene und Nächstenliebe"

 

 

 



Letzte Änderungen: 31.05.2016