Editorial

Selection of the living Dead

In LJ 7-8/2004 schrieb Hans-Helmut Niller gegen den Universalanspruch der Darwinschen Selektion in den Biowissenschaften. Der Kölner Evolutionsbiologe Diethart Tautz antwortete in LJ 10/2004 Jetzt macht Niller nochmals seinen Standpunkt klar.

(15.02.2005) Pointierung und Überzeichnung sind als Stilmittel der Ironie zugelassen und als solche klar erkennbar. Evolution ist aber eine so bierernste Angelegenheit, dass sie offenbar keinen Spaß verträgt. Daher sind die persönlichen Angriffe von Diethard Tautz verständlich: Fehlendes Fachwissen, Unverständlichkeit, Fundamentalismus und Irrtümer! Es fehlte nur der Vorwurf der Verwirrung braver Schäfchen, dann wäre der Griff in die Mottenkiste komplett. Seine inhaltliche Kritik jedoch geht an meinem Essay "Darwin darf nicht sterben" (Laborjournal 7-8/2004, S. 49) vorbei. Die mir vorgeworfenen Falschaussagen sind nicht darin enthalten.

Selection tritt im allgemeinen als unbewiesenes Postulat mit universalem Anspruch auf, und wird durch das Aufzählen von mehr oder weniger konstruierten Beispielen, in denen diffus Selection am Werk geglaubt wird, nicht bewiesen, sondern lediglich illustriert. Tautz selbst präsentiert Selection als Zirkelschluss, entkräftet ihn aber nicht. Jenseits aller Ironie hat mein Essay daher den Begriff Selection in ernsthafter Weise auf den Punkt gebracht: Selection bedeutet nicht Abmurksen, Gradualismus oder punk-eek, sondern Vorteil, sonst nichts. Das Selektionspostulat sagt nicht: "Selection existiert", oder: "durch geschickte Auswahl kann man im Labor schöne neue Proteine machen" - sondern: "Vorteile verursachen in natura alles Lebendige". Im Gegensatz zum "Naturgesetz" Schwerkraft ist Vorteil aber keine Messgröße, sondern Ansichtssache, und daher als wissenschaftliches Postulat ungeeignet. Aus Fossilien und alten DNA-Sequenzen kann man ablesen, dass sie existiert haben, nicht aber, dass Vorteile in einem mehr als nur tautologischen Sinn für den beobachteten Wandel der Lebensformen verantwortlich sind.

Der Begriff evolution ist ebenfalls wissenschaftlich ungenügend und irreführend. Er ersetzt die Aussagen "Gott war's" oder "Natur war's" und sattelt materialistische Ideologie drauf. Die sogenannte Entdeckung der Selection durch Darwin, Wallace und Wilson in Form von Erweckungs- oder Bekehrungserlebnissen spricht Bände. Obwohl das Vorteilsprinzip zahlreichen Waschgängen unterzogen wurde, seit es durch Darwin in die Biologie transzendierte, ist seine puritanische Verwandtschaft nicht abzuleugnen. Die kleine Minderheit der im Voraus von Gott Auserwählten, der große Rest der Verworfenen, die Fitten und die Hinweg-Selektierten. Wer vorteilhafte Mutationen trägt, macht einen Evolutions-Schritt nach vorn. Wer reich ist, kommt in den Himmel. Calvinismus und Darwinismus sind zwei Seiten der gleichen Münze, der eine noch ganz ungeniert, der andere mit einem wissenschaftlichen Mäntelchen um seine Blöße drapiert. Darwin, das Märchen von Calvins neuen Kleidern. Das Wegwerfen muss ein Mordsspaß für Untote sein.

Richard Dawkins, einer der prominenteren Vertreter der reinen neodarwinistischen Lehre, schreibt für den Guardian aufschlussreiche Kommentare. Die historische Existenz des Römischen Imperiums zu leugnen, "Rome-denier" ist Dawkins' Bezeichnung für Kreationisten. Wer aber den Darwinismus für nicht nur sauber, sondern rein hält, mit "near-neutral" Selection herumbastelt und sympatrische Speziation als Häresie diskutieren muss, sitzt im Glashaus und sollte nicht auf seinen bucklichten älteren Bruder zeigen. Denn auch die Evolutionstheorie bleibt unreflektiert vorwissenschaftlich. Überdies hat sie die Kenntnis ihrer philosophischen und historischen Vergangenheit völlig verloren oder verdrängt.

Aus seiner Replik geht nicht hervor, dass Tautz eine differenziertere Sicht als Dawkins oder Wilson pflegt, deren ausufernde Statements ich auf die Schippe genommen habe. Aus dem Überleben einer E. coli-Kolonie im artifiziellen Laborexperiment wird gefolgert, dass die bereits existierenden Konzepte "penicillin", "penicillin binding proteins" and "beta-lactamase" in natura durch Selection entstanden, und dass der Grund für die Entstehung sämtlicher Arten Selection gewesen sei. Für den Suggestivcharakter und die Unbeweisbarkeit dieses Overstatements sind nicht große Zeiträume verantwortlich zu machen, sondern die Themaverfehlung des abgekupferten Selektionspostulats. Was ist, wenn unverstandene innere Kräfte die Entstehung der Arten treiben? Wenn Teamwork und die rege Weitergabe von Evolutionspäckchen, wie sie für pre-darwinian communities angenommen werden, auch bei komplexeren Lebewesen für neue makroevolutionäre Konzepte benötigt wurden? Oder wenn für größere Art-Übergänge das Gesetz vom Survival of the Sickest zutrifft, wenn z. B. integrierte Viren zum genetischen Korrelat neuer Organe, und virusinfizierte Pflegefälle regelhaft zum Beginn neuer Konzepte wurden? Krampfhaftes Suchen nach dem Vorteil in "paradoxical" Selection?

Im beinahe druckfrischen Review eines führenden Evolutionstheoretikers lese ich, dass die Synthetische Evolutionstheorie Jean Baptiste de Lamarck mitsamt Darwins Pangenesis für immer ad acta gelegt habe. Auf welcher experimentellen Grundlage denn? Schon wieder ein Overstatement. Unter Lamarck'scher Vererbung versteht man heute nicht Teleologie oder Politik, sondern ganz schlicht die Weitergabe individuell erworbener Eigenschaften, wobei der genaue Mechanismus der Vererbung gleichgültig ist und die Stabilität unterschiedlicher Phänotypen nicht prinzipiell von DNA-Sequenzen abhängt. Zudem ist die Keimbahn nicht DNA, sondern eine Zellgruppe. Ich hatte nicht von RNAi als Mutation gesprochen, und darin auch nicht geirrt, wie Tautz grundlos unterstellt. Was wäre denn nun, wenn RNAi als Mutation im Genom auftauchte - z. B. jedes zillionste mal, z. B. regelmäßig bei erprobten Neuheiten? Laut Tautz wäre das ein x-beliebiger weiterer Mutationsmechanismus. Ich höre aber, dass Dawkins angeboten hat, seinen Hut aufzuessen, falls jemand das Backfeeding erworbener Eigenschaften in die Keimbahn durch Mutationen im Genom nachweisen könne. Ist Dawkins in der jüngsten Fachliteratur so diskret revidiert worden, dass es mir entgangen ist? Weiters lese ich in jenem beinahe druckfrischen Evolutions-Review, Neodarwinismus und Synthetische Evolutionslehre seien historisch und inhaltlich verschiedene Dinge, würden aber aus mangelnder Sachkenntnis leider häufig gleichgesetzt. Die Gleichsetzung meines Essays - spöttisch, so als sei in den letzten hundert Jahren nichts Bedeutendes entdeckt worden - wurde ganz beiläufig auch von Tautz vorgenommen. Nur ein kleiner Lapsus?

Der gesamte Darwinismus fällt mit dem Universalanspruch der Selection, nicht mit ihrer bloßen Inszenierung im Labor oder ihrer Anrufung in Beispielen. Der vom Gesamt-Darwinismus fein säuberlich zu unterscheidende Neodarwinismus beruht über die Selection hinaus zusätzlich auf "Weismann's Barrier", der hypothetisch undurchlässigen Grenze zwischen Soma und Keimbahn, die sich in natura vielfach als durchlässig erwiesen hat. RNAi, Hormone, Retroelemente, Viren und Prionen können vererbbare Information prinzipiell über Zellgrenzen hinweg tragen. Ich hatte die Vererbung einer erworbenen Eigenschaft über mehrere Generationen wörtlich als "Lamarck'schen Aspekt der RNAi" bezeichnet. Das ist sachlich nicht falsch und fördert die längst überfällige Trennung des Neodarwinismus von seinem Overstatement (schon wieder eins) "Weismann's Barrier". Simple Mengenlehre: Das bedeutet nicht, dass im Umkehrschluss Lamarck bewiesen ist. Backfeeding von Erworbenem ins Keimbahn-Genom führt auch nicht zum sofortigen Sturz des Selektionsprinzips, sondern relativiert zunächst die Zufälligkeit der Mutationen. Selection ist tatsächlich primär unabhängig von den exakten Mechanismen der Vererbung. Auch darin hatte ich nicht geirrt, wie Tautz wiederum grundlos unterstellt. Meine Aussage ist ja gerade: Selection schwebt losgelöst von der Natur in Raum und Zeit, hat jedoch Abhängigkeiten ideologischer Art, die nicht in der Wissenschaft zu suchen sind. Die etwas cätschige Formulierung meines Leserbriefs "Darwin ist tot" (LJ 04/2004) verschleiert nicht, dass darin "Weismann's Barrier" gemeint ist.

Difficile satiram non scribere: Die Evolutionäre Erkenntnistheorie ist in der langen Reihe der abendländischen Philosophie eine der jüngeren Fußnoten zu Platon. Ihre wichtigste Prämisse ist, dass man ein menschliches Hirn nicht zu sehr durch Lernen, Üben und Denken belasten solle, Selbst-Bewusstsein sei völlig ausreichend. War es nicht geplant, bis zum Vordiplom eine Semesterwochenstunde in Grundlagen der Philosophie und Logik ins Curriculum der Life Sciences aufzunehmen? Lieber nicht! Um ein glücklicher transzendentaler Vorteilsverehrer zu bleiben, sollte man Allgemeinbildung bei seinen Forschern tunlichst vermeiden. Der ganze altmodische Schotter kostet Geld und stört nur. Würde es doch die Freude des Entdeckers zum Deja vu-Erlebnis degradieren, wenn dieser herausfinden müsste, dass Mainstream-Evolution seit 150 Jahren brav das nachbetet, was Mainstream-Interessensgruppen vorpredigen.

Inzwischen meldet ergebenst auch die Hirnforschung in einem bemerkenswerten intellektuellen Höhenflug, zukünftige Forschungsergebnisse erforderten die weitere Vertiefung der darwinistischen Transformation unserer Gesellschaft. Darwinism for Germany. Wer war der X-Club? Darwins Spezl'n, die Nature als eigenes Publikationsorgan und Kampfblatt des Darwinismus installierten. Die Regensburger Obdachlosenzeitung Donaustrudl ist nicht schlechter als naiv-unkritische Journale, die bei jeder noch so unpassenden Gelegenheit Evolution und Selection als Mantra sowie infektiöse Synapsen-Verstopfung als Folge heraufbeschwören. Und jetzt bitte alle, zur ersten allgemeinen Verhirnwurmerung, im Brummbasso continuo-Singsang: Selection, Selection, Selection, Selection, Selection, Selection, Selection,... Eine wissenschaftliche Erklärung für die Entstehung des Lebens und der Arten? Wir haben nicht einmal eine schlechte.

Ich stehe für weiteres Ping-Pong zur Verfügung. Noch professioneller wär's vielleicht, wenn prospektive Replikanten einen eigenen Essay verfassten. Es gäb so schöne Fragen: Was ist Zufall, was Selection? Was ist der Gegenstand der Selection, bzw. welches zu wieviel Prozent, zu welcher Zeit und unter welchen Bedingungen? Ist Gott Gewichtheber oder Fabrikantinnengatte? Was ist ein Fortschritt, was eine Degeneration? Wie begründen Sie complexity, wie Konvergenz, wie das molecular clock paradoxon der RNA-Viren? Wie unterscheidet sich Ihr eigener Ansatz von Aristoteles, Jürgen Brosius, Richard Dawkins, Niles Eldredge, Stephen Jay Gould, Stuart Kauffman, Lynn Margulis, Ernst Mayr, Lenny Moss, Rupert Riedl, Arbogast Schmitt, John Maynard Smith, Eörs Szathmary, Diethard Tautz oder Edward O. Wilson? Wo sind die Gemeinsamkeiten? Oder verblasst vor Darwin alles andere als bloßes Hintergrundrauschen?

Solch ein Essay müsste kein Schnellschuss aus der Hüfte sein, täte nicht nur mich erfreuen, sondern wäre auch noch von allgemeinem Interesse.

(Hans-Helmut Niller ist Privatdozent und Arbeitsgruppenleiter am Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Uni Regensburg)



Letzte Änderungen: 16.02.2005