Editorial

„Diese Pandemie ist für die Menschheit nicht die letzte“
Im Gespräch: Ralf Bartenschlager, Heidelberg

Gespräch: Karin Hollricher (8. Februar 2021), Laborjournal 03/2021


(08.03.2021) Ralf Bartenschlager, Leiter der Abteilung Molekulare Virologie am Zentrum für Infektiologie der Uniklinik in Heidelberg, wurde durch seine Forschung am Hepatitis-C-Virus bekannt. Seiner Arbeitsgruppe gelang es erstmalig, das Virus im Labor zu vermehren, was den Weg zu den heutigen antiviralen Therapien ebnete. Mittlerweile zählen auch Dengue- und Zikaviren zu seinem „Portfolio“ – und natürlich SARS-CoV-2. Inwiefern die Corona-Pandemie das Fach Virologie verändert hat, klärt der Präsident der Gesellschaft für Virologie im Gespräch.

Laborjournal: Täglich sind Virologen im Radio, im Fernsehen, in allen möglichen Webformaten zu sehen und zu hören. Sprechen wir also zunächst darüber, wie das Auftreten von SARS-CoV-2 die Kommunikation von Wissenschaftlern – speziell Virologen – mit der Öffentlichkeit geändert hat.

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Präsident der Gesellschaft für Virologie – Ralf Bartenschlager. Foto: DKFZ

Ralf Bartenschlager » In den vielen Talkshows, Podcasts, ja der ganzen Berichterstattung spiegelt sich das Interesse der Öffentlichkeit an der Virologie beziehungsweise dem SARS-CoV-2 wider. Was ist ein Virus, wie funktioniert das eigentlich mit einer Infektion? Das führt zu mehr öffentlicher Wahrnehmung und zu mehr Aufklärung der Öffentlichkeit. Die jüngsten Ereignisse haben aber auch das Interesse an der Wissenschaft insgesamt geweckt. Ich denke, es wurde der Öffentlichkeit bewusster, wie Wissenschaft eigentlich funktioniert: dass Wissenschaft ein schrittweiser Erkenntnisgewinn ist, dass die erste Erkenntnis noch nicht die Wahrheit sein muss, dass es ständiger Anpassungen und Diskussionen bedarf. Das ist ein wichtiger Punkt, der nicht nur für die Virologie, sondern für die gesamte Wissenschaft Gültigkeit hat.

Man hat den Eindruck, dass sich auch die wissenschaftliche Diskussion in die allgemeine Öffentlichkeit verlagert hat. Gereicht das der Disziplin Virologie zum Vorteil oder eher nicht?

Bartenschlager » Beides. Das Fach wurde hinsichtlich der Kommunikation sehr stark gefordert, manchmal auch etwas überfordert. Informationsplattformen, Fachsendungen und Podcasts bringen das Thema näher, beleuchten die Bedeutung des Fachs, wie man als Virologe arbeitet, was ein Virus ist, wie es sich verbreitet, was die Varianten sind, wie eine Immunantwort zustande kommt, was ein mRNA-Impfstoff ist, was ein R-Wert ist und so weiter. Je mehr man über eine Sache weiß, desto besser kann man auch verstehen, was die Forschung denn macht und warum das wichtig ist. Das ist für die Virologie als Fach wichtig.

Und wo war das Fach überfordert?

Bartenschlager » Nun ja, die von Medien durchaus forcierte Gegenüberstellung von Meinungen hat uns Virologen manchmal überfordert. Das habe ich auch am eigenen Leib gespürt. Man hat Zitate falsch wiedergegeben oder ganz aus dem Zusammenhang gerissen und daraus Konfrontationen hochstilisiert. Das ist weder der Sache, noch den Beteiligten, noch dem Fach an sich dienlich. Die Ursache liegt meines Erachtens darin, dass gerade am Anfang der Pandemie die Datenlage sehr dünn war. Das bedeutet, man hat einen großen Interpretationsspielraum. Auch wenn man inhaltlich gar nicht so weit auseinanderliegt, kann die Auslegung der dünnen Daten sehr unterschiedlich ausfallen. Aber dieser Diskurs wurde medial sehr stark befeuert und bis hin zum Virologenkrieg hochstilisiert. Das aber kommt den Tatsachen nicht einmal nahe.

Medial wurden und werden Hendrik Streeck und Christian Drosten als die gegensätzlichen Pole der Diskussionen hingestellt. Dem HIV-Experten Streeck unterstellt man Ahnungslosigkeit, aber Drosten steht ebenso in der Kritik.

Bartenschlager » Ja, als ob die Virologie in zwei Lager zerfallen wäre. Und als ob es so wäre, dass man entweder dem einen Lager oder dem anderen glaubt beziehungsweise zuhört. Es gab und wird auch in der Zukunft in der Virologie, wie auch in allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen, immer kontroverse Diskussionen zu vorliegenden Ergebnissen geben, gerade auch dann, wenn ein Forschungsgebiet noch sehr jung ist. Aber wie schon gesagt, war das häufig eine von manchen Medien forcierte Polarisierung. Es gibt viele Meinungen dazwischen. Diese Meinungs- oder Interpretationsvielfalt ergibt sich aus der oft noch sehr vorläufigen Datenlage. Die Polarisierung ist nicht gut. Wir von der Gesellschaft für Virologie sind in diesen Fällen deshalb auf eine Versachlichung der wissenschaftlichen Diskussionen aus.

Aber nicht mal Ihre Kollegen versachlichen wirklich, manche kritisieren einander sehr deutlich öffentlich. Wieso nur? Und was soll der Bürger davon halten?

Bartenschlager » Wissenschaft lebt nicht nur vom Erzeugen von Daten, sondern mindestens so wichtig ist der wissenschaftliche Diskurs – und da kam es auch schon lange vor SARS-CoV-2 zu kontroversen Diskussionen. Ich erinnere mich gerne an die Zeit meiner Promotion. Auch hier gab es immer wieder leidenschaftlich geführte Diskussionen im Labor zu wissenschaftlichen Ergebnissen, die man in die eine oder andere Richtung auslegen konnte. Am Ende der Diskussion aber stand eine Hypothese, die man mit einem weiteren Experiment belegen oder widerlegen konnte. Auch in meiner eigenen Arbeitsgruppe kam und kommt es zwischen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu lebendigen Meinungsaustauschen. Solange das sachlich bleibt, ist dagegen auch nichts einzuwenden; das ist im Gegenteil sehr wichtig für den weiteren Erkenntnisgewinn. Kritisch wird es nur, wenn es in das Emotionale und teilweise auch Beleidigende abrutscht. Das ist bei den Diskussionen um die aktuelle Pandemie, auch befeuert durch Äußerungen in sozialen Kommunikationsplattformen, leider mehrfach passiert.

Also versachlichen wir. Aktuell sind in Deutschland Daten zu Virus-Varianten sehr dünn. Hat die Virologie in dieser Hinsicht gepennt?

Bartenschlager » Also nein, gepennt hat die Virologie nicht. Wir hatten schon 2019 in einem Bericht moniert, dass die molekulare Surveillance in Deutschland nur unzureichend vorhanden ist und man hier wirklich deutlich investieren müsste. Und da ging es nicht um SARS-CoV-2, sondern beispielsweise um das Monitoring der Verbreitung von multiresistenten Krankheitserregern. Wir haben angemahnt, dass man Konsiliarlabore und nationale Referenzzentren braucht und entsprechend ausstatten muss. Aber dafür gibt es bis heute nicht die erforderliche Infrastruktur beziehungsweise finanzielle Unterstützung. Diese Labore zu etablieren und dauerhaft zu unterstützen, ist allerdings keine Entscheidung der Virologen, sondern der Politik.

Und hört die Politik jetzt nicht nur hin, sondern wird auch aktiv?

Bartenschlager » Ja, es hat sich etwas getan. So will man jetzt die Sequenzierung deutlich stärken, es sollen wesentlich mehr Isolate sequenziert werden, und es ist auch möglich, die Sequenzierungen der Abstrichproben abzurechnen. Diese Sequenzierungen sind aktuell wichtig, um neue Virus-Varianten zu finden. Wenn man die Mutanten kennt, kann man diese aber auch viel einfacher nachweisen, nämlich mit einer gezielten PCR, die spezifisch eine bestimmte Mutation detektieren kann. So ist ja auch die britische Variante aufgefallen. Man hat gesehen, dass eine der drei PCRs vielfach nicht mehr funktionierte. Dann hat man sequenziert und die für den PCR-Ausfall ursächliche Mutation gefunden. Das war also ein Zufallsbefund. Mit solchen gezielten PCRs kann man jetzt breitflächig diagnostizieren.

Und vermutlich wird das Virus ja weiter mutieren – Sequenzieren ist und bleibt also dringend nötig?

Bartenschlager » Natürlich, das ist keine Frage. Die britische Variante wird ja nicht die letzte gewesen sein, es werden neue Varianten kommen – je mehr sich Immunität in der Bevölkerung verbreitet, desto stärker werden Varianten selektioniert, vielleicht auch solche Varianten, die dieser Immunantwort entkommen können. Das müssen wir unbedingt verfolgen.

Varianten-diagnostische PCRs kann ja jedes Diagnostiklabor machen. Aber wer soll die ganzen Proben sequenzieren?

Bartenschlager » Das müssen wir dezentralisiert an vielen Standorten machen. Ein deutschlandweites Zentrallabor als Extrembeispiel würde nicht funktionieren, allein schon wegen des Transports der unzähligen Proben. Hier in Heidelberg gibt es am EMBL [Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie] und dem DKFZ [Deutschen Krebsforschungzentrum] dafür passende Strukturen mit Hochdurchsatz-Sequenzierkapazitäten, die die Proben aus der virologischen Diagnostik analysieren. Es gibt auch an anderen Standorten geeignete Einheiten, aber deutschlandweit ist das aktuell nicht genug ausgebaut. Wir benötigen ein großes, flexibles Netzwerk, in dem die nationalen Referenzzentren und das Robert-Koch-Institut [RKI] zentrale Rollen spielen. Dabei sollten die Daten standardisiert aus der Peripherie kommen und umgekehrt aus dem Zentrum wieder an die Expertenlabore in der Peripherie zurückfließen, damit dort Wissenschaft gemacht werden kann. Wichtig dabei ist die zentrale Datenerfassung und Auswertung, in Abstimmung mit den epidemiologischen Daten. Dafür brauchen wir eine entsprechende finanzielle Investition und einen politischen Willen. Der deutet sich jetzt ja an.

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Foto: Adobe Stock/Halfpoint

Ist das nur ein vorübergehender Effekt, oder sehen Sie eine nachhaltige Veränderung?

Bartenschlager » Die meiste Förderung, muss man sagen, war zunächst sehr hemdsärmelig. Das waren kurze Finanzspritzen, die wir oft auch erst nachträglich bekommen haben. Das ist angesichts der akuten Notsituation, die sich im März 2020 abgezeichnet hat, verständlich. Die EU und das Bundesministerium für Bildung und Forschung [BMBF] haben inzwischen Gelder bereitgestellt, aber die arbeiten ja strikt Top-Bottom, die Themen sind vorgegeben und zumeist sehr anwendungsorientiert. Man muss also mit seiner Forschung schon recht weit gekommen sein, um in diesen Programmen erfolgreich zu sein. Glücklich ist, wer mit seinem Projekt in den Call passt ...

... oder man muss es passend machen.

Bartenschlager » Ja, oder man hat halt Pech gehabt und muss sich eine andere Möglichkeit suchen. In diesem Zusammenhang können wir in Deutschland sehr froh über die DFG [Deutsche Forschungsgemeinschaft] sein, die wirklich die Grundlagenforschung fördert, die Ideen ohne Nutzenbewertung nur nach Innovation und wissenschaftlicher Qualität bewertet. Auch die DFG hat mit Beginn der Pandemie Geld bereitgestellt, wurde aber vermutlich mit einer Vielzahl an Anträgen überrannt. In diesem Fall liegt dann die Zahl an eingereichten Projekten, viele davon von sehr talentierten Forschern, weit über dem, was man finanzieren kann.

Wieso gibt es nicht mehr Geld für Corona-Grundlagenforschung?

Bartenschlager » Ich weiß nicht, wie die DFG ihren Haushalt managt, aber die schon bewilligten Projekte und Forschungsnetzwerke müssen ja weiterfinanziert werden. Die kann man nicht wegen der Pandemie aufkündigen, um auf die Schnelle Geld lockerzumachen. Es braucht also zusätzliche Mittel für neue Anträge. Aber unabhängig davon ist eine wichtige Lehre aus der aktuellen Pandemie: Grundlagenforschung braucht eine breite Förderung, die frei ist von Anwendungszwängen. Man kann heute nicht abschätzen, ob die so gewonnenen Erkenntnisse zukünftig eine wichtige Bedeutung haben. Bekannte Beispiele hierfür sind das CRISPR/Cas-System oder mRNA-Impfstoffe. Ich hoffe aber auch, dass der wissenschaftliche Rückenwind, den die Pandemie mit sich bringt, genutzt werden kann, um jetzt nachhaltige Strukturen aufzubauen. Denn ganz sicher wird die nächste Pandemie kommen, sei es Influenza, ein anderes Coronavirus oder etwas ganz anderes. Eine tatsächlich in die Zukunft gerichtete Netzwerkstruktur wurde übrigens vor kurzem geschaffen, nämlich das NUM, das nationale Universitätsnetzwerk Medizin...

... das 2020 gegründet wurde und seither vom BMBF finanziert wird.

Bartenschlager » Ja, da haben sich die deutschen Universitätskliniken zur Bewältigung der aktuellen Pandemie zusammengeschlossen. Ein Projekt, genannt B-FAST, umfasst unter anderem die Anwendung und Bewertung von Tests und Teststrategien. Da könnte man die Sequenzierungen implementieren. Eine zweite wichtige Institution ist das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung, kurz DZIF. Das spielt beispielsweise eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Impfstoffen und antiviralen Medikamenten sowie der Patienten-nahen Forschung. Diese Struktur wurde 2012 als eingetragender Verein eingerichtet und umfasst zahlreiche Standorte in Deutschland.

Zu den benötigten Strukturen gehören auch Datenbanken.

Bartenschlager » Ja, wir haben europäische Datenbanken beispielsweise zu Hepatitis-C-Viren und zu Influenza-Viren. Darin sind Sequenzen enthalten, mit deren Hilfe wir unter anderem die Verbreitung der Viren nachverfolgen können. Wichtig für die Erfassung und das Verfolgen der Verbreitung der Varianten ist ja, dass man die Daten zentral erfasst. Das passiert am RKI. Dafür müssen aber auch die IT-Strukturen deutschlandweit angepasst werden.

Wenn es eine solche Infrastruktur schon gibt, nutzt man die denn auch für Corona?

Bartenschlager » Da bin ich jetzt überfragt, aber meines Wissens werden viele Coronavirus-Sequenzen in der Influenzadatenbank GISAID archiviert. Bisher wurde in Deutschland ja nicht in hoher Intensität sequenziert. Im Übrigen haben wir nicht explizit auf das Sequenzieren verzichtet, sondern nur mit geringem Durchsatz gearbeitet, nämlich bisher nur jede etwa tausendste Probe. Dazu kommt, dass die Bearbeitungszeit recht lange war; wir hatten einen Turnaround von circa fünfzig Tagen.

Was bedeutet Turnaround hier?

Bartenschlager » Das heißt, dass es circa fünfzig Tage gedauert hat, bis man die Genomsequenz hatte. In England wird beispielsweise von jeder zehnten diagnostizierten Probe die Genomsequenz bestimmt und dort liegt die Bearbeitungszeit bei nur rund zwanzig Tagen. Ähnliche Werte gelten beispielsweise auch für Dänemark. Wie gesagt, mehr molekulare Surveillance haben wir schon vor Corona angemahnt. Jetzt zeigt sich, dass wir damit ziemlich richtig lagen.

Wie sieht denn heute der Alltag des gemeinen Virologen aus?

Bartenschlager » Virologen haben jetzt natürlich eine extrem hohe Arbeitsbelastung. Die Pandemie kam ja on top zu den üblichen Aufgaben, die viele in der Diagnostik, also der mittelbaren Patientenversorgung, in der studentischen Lehre und auch in der Forschung stemmen. Da die Forschung aktuell sehr stark auf SARS-CoV-2 fokussiert ist, haben wir auch einen Kollateralschaden. Der wird ja auch oft diskutiert etwa im Zusammenhang mit der Patientenversorgung, wenn beispielsweise die Zahl der Krebsvorsorgeuntersuchungen deutlich zurückgeht. Für die Virologie bedeutet das auch: Andere Themen werden jetzt weniger intensiv bearbeitet, als sie es angesichts der Erkrankungen, die diese Erreger verursachen, verdienen.

Brauchen wir also mehr Virologen?

Bartenschlager » Ja, aber vor allem die Stellen und Jobperspektiven dafür. Ich nehme an, dass das Interesse an dem Fach gewachsen ist. Aber das ändert ja nichts an den grundsätzlichen Problemen im Forschungs- und Bildungssystem, wie beispielsweise fehlende Perspektiven für klinische Forscher beziehungsweise forschende Mediziner. Als Kliniker auch noch zu forschen, ist in den derzeitigen Strukturen überhaupt nicht attraktiv. Ähnliches gilt auch für Naturwissenschaftler in der Virologie. Dazu kommen lange Ausbildungszeiten und viel zu wenige Stellen im Mittelbau, der über die Jahre hinweg systematisch geschrumpft wurde. Jungen talentierten Forschern wird – mit der Ausnahme, irgendwann einmal vielleicht Professor zu werden – keine echte Perspektive geboten. Dann wandern die natürlich ab oder kommen erst gar nicht in die Virologie. Das ist übrigens ein generelles Problem des deutschen Wissenschaftssystems, ist also nicht spezifisch für die Virologie.

Die Virologie ist also personell unterbesetzt?

Bartenschlager » Ja – und das, obwohl in den letzten 10 oder 15 Jahren verschiedene Viren Pandemien beziehungsweise Epidemien ausgelöst haben, wie etwa Influenzavirus, Zikavirus, Ebolavirus, SARS- und MERS-Coronavirus. Ich hoffe sehr, dass Gesellschaft und Politik jetzt begreifen, dass man da Geld reinstecken und Strukturen erzeugen muss, um auch für junge und talentierte Forscher Zukunftsperspektiven zu schaffen. Solange sich das nicht ändert, bleibt es schwierig, gute Leute für die Forschung zu interessieren.

Sollten wir denn auch medizinische Spezialisten für Virologie oder virologische Diagnostik ausbilden, einen Dr. med. virol.?

Bartenschlager » Die Virologie ist ein Querschnittsfach ohne unmittelbaren Patientenbezug und in Deutschland deshalb in anderen klinischen Bereichen verortet, etwa der Gastroenterologie oder der Hämatologie. Was ich mir am ehesten vorstellen könnte, ist die Etablierung eines eigenständigen Facharztes für Infektiologie. In Deutschland kann man meines Wissens nur die Zusatzbezeichnung „Infektiologe/in“ machen, zum Beispiel als Facharzt für Innere Medizin, aber das beinhaltet keinen eigenen anerkannten Facharzt, der dann auch einen eigenen Lehrstuhl mit Betten an einer Universitätsklinik leitet. Die Gesellschaft für Virologie bietet eine Weiterbildung mit dem Zertifikat für medizinische Virologie und Infektionsprävention an, die zum Beispiel von Naturwissenschaftlern erworben werden kann. Und Medizinern steht natürlich der Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie offen.

Noch ein Blick in die Kristallkugel: Ist eine „Zero-Covid“-Strategie realistisch?

Bartenschlager » Ich vermute, Sie meinen hier die in Deutschland sehr stark diskutierte „No-Covid“-Strategie. Hier, glaube ich, wurde das etwas unglücklich formuliert und in der Öffentlichkeit vermutlich zu wörtlich ausgelegt. Der Grundgedanke ist aus meiner Sicht richtig: Die Inzidenz so weit senken, dass man durch die Kombination von Hygienemaßnahmen und intensivem Testen Lockerungen verantwortlich durchführen kann. Dafür muss die Inzidenz aber deutlich gedrückt werden. Es wird oft die Zahl 50 genannt, aber bei einer Inzidenz von 50 kann es sehr schnell wieder zu einem rasanten Anstieg der Virusausbreitung kommen. Deshalb ist eine geringere Inzidenz aus wissenschaftlicher Sicht absolut sinnvoll. Das aber bei einem schon bestehenden und strikten Lockdown zu fordern, kann viele auch überfordern. Dazu kommt die Frage, wie lange das noch gehen soll. Aber genau da bietet diese Strategie ja einen Lösungsansatz. Das Ziel ist eine sehr niedrige Inzidenz und wenn die erreicht ist, kann man mit den Lockerungen beginnen – unter den erforderlichen Hygiene- und Testmaßnahmen und in einer dezentralisierten Art und Weise, zum Beispiel auf Landes- oder Kreisebene.

Summa summarum: Was bedeutet die Corona-Krise für die Virologie?

Bartenschlager » Die Bedeutung der Virologie als Forschungsdisziplin wird aus meiner Sicht jetzt sehr viel besser wahrgenommen, sie ist mehr als in der Vergangenheit ins Bewusstsein der Allgemeinheit und hoffentlich auch der Politik vorgedrungen. Ich hoffe, diese Krise macht deutlich, dass die Virologie wirklich ein eigenständiges und wichtiges Fach ist. Sie wird ja häufig eher als ein Nischengebiet der Mikrobiologie angesehen. Das sieht man an Standorten, wo es keinen eigenen Lehrstuhl für Virologie gibt. Ich denke, die Pandemie hat gezeigt, dass die Virologie neben der Bakteriologie eine gleichermaßen wichtige Disziplin in Forschung und Lehre ist, die man in Deutschland auf keinen Fall schwächen darf – was in der Vergangenheit ja durchaus passiert ist. Man muss sie stärken. Und ich hoffe, dass unsere beständigen Kritiken hinsichtlich der Ausbildungs- und Berufsstrukturen in der deutschen akademischen Forschungslandschaft auch irgendwann Früchte tragen. Man sollte bedenken: Diese Pandemie ist für die Menschheit nicht die letzte Pandemie.

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„Die Bedeutung der Virologie als Forschungsdisziplin wird aus meiner Sicht jetzt sehr viel besser wahrgenommen“, sagt Ralf Bartenschlager. Foto: DKFZ

Last Changed: 08.03.2021