Editorial

„Alles ist besser
als der Status quo“

(19.09.2022) Das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft nimmt kein Blatt vor den Mund, um die missliche Lage des akademischen Mittelbaus aufzuzeigen.
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„Wissenschaft ist kein Abenteuer­urlaub auf eigenes Risiko, sondern ein Beruf, der mehrheitlich von hoch qualifizierten, motivierten und engagierten Menschen ausgeübt wird“, kritisiert das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft, kurz NGAWiss. Laborjournal sprach mit Lisa Janotta, wissen­schaftliche Mitarbeiterin an der Universität Rostock und Mitglied im Koordina­tionskreis des NGAWiss über die Aktivitäten des Netzwerks.

Wie kam die Idee auf, das Netzwerk zu gründen?
Lisa Janotta: Für die Gründung einer Bewegung von Wissen­schaftler:innen hatte sich ganz besonders Politik­wissenschaftler Peter Grottian eingesetzt, Emeritus der Freien Universität Berlin, der leider inzwischen verstorben ist. Die lokalen, regionalen und fachgebundenen Mittelbau-Initiativen in der deutschen Wissenschaft sollten in einem Bündnis zusammen­geführt werden bis hin zur Streikfähigkeit. So kam es dann im Januar 2017 in Leipzig zu einem Gründungs­treffen des NGAWiss, an dem alle Statusgruppen beteiligt waren, also Privatdozenten, Lehrbeauftragte, Mittelbau und einige Professoren:innen.

Editorial

Wie viele Mitglieder haben Sie?
Janotta: Wir haben derzeit über 40 Mitglieds­initiativen, überwiegend in Deutschland, an denen sich Wissen­schaftler:innen beteiligen können. Um mit einer eigenen Initiative Teil des NGAWiss zu werden, können sich Interessierte bei uns unter mail(at)mittelbau.net melden. Die Mitarbeit im NGAWiss erfolgt weitgehend ohne Vergütung. Wir erhalten Förderung vom Verein zur Förderung von Wissenschaft und Forschung e. V., der Rosa Luxemburg Stiftung und projekt­bezogen auch von den Gewerkschaften.

Was konnten Sie seit Ihrer Gründung 2017 erreichen?
Janotta: Wir haben in einem Diskussions­prozess Forderungen für den Mittelbau aufgestellt und der größten Angestellten­gruppe an der Hochschule damit eine Stimme gegeben. In den fünf Jahren unserer Existenz sind wir außerdem zu einem Ansprech­partner geworden, den man konsultiert und ernst nimmt.
Wir haben auch eine eigene Evaluation des Wissenschafts­zeitvertrags­gesetzes (WissZeitVG) durchgeführt. Diese ist viel breiter angelegt als die Evaluation des BMBF. Wir liefern damit Argumente und Daten für die Novellierungs­debatte.

Was sind Ihre Kritikpunkte?
Janotta: Dass Wissenschaftler:innen mit akademischem Abschluss weitere zwölf Jahre lang als „Nachwuchs“ gelten und selbst nach der Promotion nahezu keine Möglichkeit auf Festanstellung haben, ist im internationalen Vergleich einmalig. Die Betroffenen empfinden die Befristungen als Belastung für ihr Leben und sind der Ansicht, dass die Befristungs­praxis Innovation und Produktivität hemmt. Häufig reicht die Befristungs­dauer nicht aus, um das formal notwendige Qualifikationsziel zu erreichen.
Wir haben zudem ein Diskussions­papier entwickelt, in dem wir ein Modell für die Personal­struktur an den Hochschulen vorstellen. Wir zeigen, wie an Universitäten in Deutschland bei gleichen Kosten und gleicher Lehrleistung dauerhafte wissen­schaftliche Beschäftigung zum Regelfall werden kann. Diese Modelle enthalten auch Berechnungen zur Personaldynamik, also dazu, in welcher Frequenz Stellen neu besetzt werden können.

Sie möchten unbefristete Stellen im Mittelbau nach dem Tenure-Track-Modell oder dem Lecturer/Reader-Modell einführen?
Janotta: Ja, es gibt verschiedene Optionen, die alle besser sind als der Status quo. Mit unseren Berechnungen zu den unterschied­lichen Personal­modellen haben wir gezeigt, dass das mit dem vorhandenen Finanzvolumen an den Hochschulen möglich ist. Wichtig wäre aber, dass ein Großteil der Drittmittel wie beispielsweise von der Deutschen Forschungs­gemeinschaft (DFG) wieder als Grundmittel an die Hochschulen fließt.
Neue Personal­strukturen würden übrigens auch bedeuten, dass etwas weniger Wissenschaftler:innen promovieren können. Die Promovierten hätten aber eine größere Chance, auf Dauerstellen in der Wissenschaft zu bleiben. Wir hätten dann neben den Promovierenden im Tenure Track-Modell mehr Professuren oder, im Lecturer-Modell, eine große Zahl festange­stellter Lecturer, die neben den Professor:innen Lehraufgaben übernehmen. Denkbar wäre auch ein Modell ohne Professuren, in dem es nach der Promotion nur noch die Lecturer-Postion gibt. Oder aber ein Modell, in dem nach der Promotion direkt die Professur kommt. Für die Modelle können die jeweiligen Vor- und Nachteile diskutiert werden. Bei jeder Variante wäre uns aber wichtig, dass die Lehrstühle zugunsten einer Department-Struktur abgeschafft werden.

Was sind weitere Forderungen Ihres Netzwerkes?
Janotta: Wir fordern die Abschaffung des Wissenschafts­zeitvertrags­gesetzes in der aktuellen Form. Wir möchten eine regelhaft entfristete Beschäftigung für Post-Docs, sozialversicherungs­pflichtige Beschäftigung als Regelfall für Promovierende und eine angemessene tarifliche Bezahlung und Mindest­vertrags­laufzeiten für studentische Hilfskräfte erreichen.
Wir sind auch der Ansicht, dass die Habilitation als Voraussetzung für eine Professur abgeschafft werden sollte. De facto ist das in vielen Fächern bereits der Fall. Es zählen für eine Berufung Publikationen und eingeworbene Drittmittel. International ist die Habilitation nicht relevant. Wir sehen keinen Nutzen darin, an diesem Relikt festzuhalten.

Wie stehen Sie zum Vorschlag der Hochschul­rektorenkonferenz, die Befristungs­grenzen von 12 auf 10 Jahre herabzusetzen?
Janotta: Das halten wir für eine maximale Katastrophe. Die Wissenschaft ist ein hoch kompetitives System, in dem man in kurzer Zeit wissenschaftlich sehr viel leisten und publizieren sowie auch Drittmittel einwerben muss. Die Verkürzung der Befristungs­grenze macht es Wissenschaftlern, die etwa chronisch krank sind oder noch andere Verpflichtungen haben wie etwa die Betreuung von Kindern oder alten Eltern, noch schwieriger, eine Dauerstelle in Form einer Professur zu erreichen. Deshalb fordern wir, bereits nach der Promotion Dauerstellen zu schaffen und Weiter­qualifikation und Aufstieg von solchen Dauerstellen aus zu ermöglichen – wie eben in allen anderen Berufsfeldern auch.

Halten Sie die Arbeitsverhältnisse im Wissenschafts­betrieb grundsätzlich für reformierbar?
Janotta: Da die gegenwärtige Situation des Mittelbaus aufgrund von Gesetzen, Geldverteilung, Machtverhält­nissen, Wettbewerbs­ideologie und fehlender Fantasie von Menschen geschaffen wurde, sollte man sie auch ändern können. Der Wissenschafts­betrieb muss reformiert werden.
Wissenschaft ist eine wichtige Basis für unsere Zivilgesellschaft und Demokratie. Sie ist nötig, um die Anforderungen der Zeit zu bewältigen, aber auch um die demokratische Gegenwart in Zeiten von Klimakrise und Kriegen zu reflektieren. Diese Verantwortung können Wissen­schaftler:innen nicht mehr wahrnehmen, wenn sie aufgrund von ewigem Existenzdruck in Selbst­beschäftigung versinken und als Berufsnomaden nirgends heimisch werden oder dann letztlich mit Mitte vierzig nochmal ganz von vorn anfangen müssen. Zudem wird Forschung im derzeitigen Wissenschafts­betrieb immer mehr von Anfängern betrieben. Die Gutausgebildeten, die sowohl ihre Disziplin in der Breite sowie ihr Spezialgebiet in der Tiefe kennen, fallen systembedingt heraus. Das ist maximale Geldverschwendung.

Welche weitere Kritik haben Sie an der derzeitigen Wissenschaftspolitik?
Janotta: Sie ist nicht auf Nachhaltigkeit im Sinne der Menschen ausgerichtet, die in der Wissenschaft arbeiten, im Sinne der produktiven Weiterarbeit mit dem erworbenen Wissen. Geld für die Wissenschaft ist vorhanden, es ist Frage der Verteilung. Wir müssen auch wegkommen von dieser neuerdings wieder diskutierten „evidenz­basierten Messbarkeit“ von wissenschaft­lichem Erfolg. Dieser ist von vielen Zufällen abhängig. Außerdem lässt sich der Nutzen von wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Gesellschaft nicht immer in Geld bemessen.

Wie können sich Wissenschaftler am NGAWiss beteiligen?
Janotta: Auf Bundesebene haben wir 14-tägig Netzwerk­treffen in Berlin, an denen man auch digital teilnehmen kann. Hier geht es vor allem um das WissZeitVG und wie der Bund für die Länder wissenschafts­politische Anreize schaffen kann, um gute Arbeits­bedingungen in der Wissenschaft zu schaffen. Wir begrüßen natürlich die Gründung neuer Hochschul­gruppen vor Ort und deren Eintritt in unser Netzwerk. Wir ermuntern besonders die Professoren und Professorinnen, zu Spendern zu werden. Man kann sich auch vor Ort bei unseren örtlichen Initiativen oder bei Gewerkschafts­gruppen einbringen oder beim NGAWiss-Verein eintreten. Wir nehmen als Netzwerk auf Einladung auch gerne an Diskussions­veranstaltungen teil.

Was sind Ihre nächsten geplanten Aktionen?
Janotta: Wir haben Argumentations­hilfen gegen die gängigen Scheinargumente zur Aufrecht­erhaltung des hohen Anteils an Befristungen in der Wissenschaft erstellt und werden diese bald veröffentlichen. Wir stellen außerdem eine E-Mail-Vorlage zur Verfügung, um Bundestags­abgeordnete des eigenen Wahlkreises und Mitglieder des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen­abschätzung anzusprechen, um mit ihnen über das WissZeitVG zu diskutieren. Zudem halten wir regelmäßig einen Diskussions-Jour-fixe ab. Am besten folgt man uns auf Twitter. Unser nächstes bundesweites Treffen wird erst im Mai oder Juni 2023 stattfinden.

Das Gespräch führte Bettina Dupont

Bild: Pixabay/revzack


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Letzte Änderungen: 19.09.2022