Editorial

Mehr als „eine“
Krankheit

(13.09.2022) Der Welt-Sepsis-Tag lenkt Aufmerksamkeit auf ein lange missverstandenes Syndrom. COVID-19 könnte seine Behandlung jedoch revolutionieren.
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Bakterielle Infektionen sind häufig und in der Regel selbst­limitierend. In seltenen Fällen können sie jedoch schwere Komplikationen hervorrufen wie die noch immer häufig tödlich endende Sepsis. Darunter versteht man eine lebens­bedrohliche Organ­dysfunktion, die durch eine gestörte Antwort des Wirts auf die Infektion verursacht wird.

Wie gefährlich eine Sepsis sein kann, hat uns die Corona-Pandemie vor Augen geführt. Denn, so Michael Bauer, Sprecher des Zentrums für Sepsis und Infektions­forschung des Universitäts­klinikums Jena und Direktor der dortigen Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin: Wer an COVID-19 gestorben ist, ist in der Regel an einer viralen Sepsis gestorben.

Editorial

Ein Problem der Intensivmedizin

Bauer erforscht die molekularen Grundlagen des Organversagens, das die Sepsis charakterisiert. Seine Hoffnung ist, dass sich auf der Grundlage dieser Forschungs­ergebnisse spezifische Methoden zur Behandlung der Sepsis entwickeln lassen. Denn bisher steht noch immer die Bekämpfung der Infektion im Vordergrund: Durch den Einsatz von Antiinfektiva und gegebenenfalls auch chirurgischen Maßnahmen wird die Erregerlast so weit wie möglich gesenkt. Zusätzlich unterstützen intensiv­medizinische Maßnahmen die Funktion von Organen und Kreislauf – durch Volumenersatz, Blutdruck-steigernde Medikamente, künstliche Beatmung oder Dialyse. „Damit erkaufen wir im Prinzip Zeit für den Körper, um selbst gesund zu werden“, so Bauer.

Dennoch ist die Sepsis noch immer eine der häufigsten Todes­ursachen auf der Intensivstation. So sind von den im Jahr 2017 weltweit rund 49 Millionen an einer Sepsis erkrankten Menschen rund 20 Prozent verstorben (Lancet, 395(10219:200-11). Trotzdem bezeichnet Bauer die Sepsis als seltene Erkrankung. „Pathogene und Infektionen sind in unserem Leben allgegenwärtig“, erklärt er. „Daran gemessen beobachten wir nur sehr selten, dass die Wirtsreaktion derart aus dem Ruder läuft, dass eine Sepsis entsteht. In der Evolution hat sich eine extrem gute Abstimmung zwischen Pathogen und Wirt entwickelt.“ In dieses Gleichgewicht greift der Mensch allerdings massiv ein: Durch Operationen und immun­suppressive Therapien steigt das Risiko für eine Sepsis stark an. Ist sie einmal ausgebrochen, ist die Sterblichkeit hoch.

Zu tolerant

Mediziner wie Bauer wünschen sich deshalb Therapien, mit denen sie gezielt in die fehlgeleitete Wirtsantwort eingreifen können. Dafür müssen sie wissen, was in einem Sepsis-Patienten als Reaktion auf eine Infektion genau passiert. Und gerade auf diesem Gebiet hat es in den letzten Jahren entscheidende Erkenntnis­fortschritte gegeben, die sogar zu einer Neudefinition der Sepsis geführt haben. Denn lange Zeit stand die Entzündungs­reaktion im Vordergrund, die zum Ziel hat, die Erregerlast zu reduzieren, bei der Sepsis jedoch übermäßig stark ausfällt. In den letzten Jahren wurde dagegen deutlich, dass nicht nur eine fehlgesteuerte Abwehr, sondern auch eine zu starke Erreger­toleranz eine Rolle bei der Entstehung der Sepsis spielt (Med Klin Intensivmed Notfmed, 115:4-9). „Gerade bei hohen Erregerdosen ist es für den Körper manchmal sinnvoller den Erreger zu tolerieren und sich darauf zu konzentrieren, trotz hoher Erregerzahlen die Zell- und Organ­funktionen aufrecht­zuerhalten“, erklärt Bauer. „Inzwischen wissen wir aber, dass eine fehlgesteuerte Krankheits­toleranz zu einer Immunparalyse führen kann, die ebenfalls eine Sepsis auslöst.“

Eine Sepsis ist also mehr als „eine“ Erkrankung mit einer einzigen Ursache. Heute gilt deshalb die Organ­dysfunktion nach einer Infektion als einziges fassbares klinisches Symptom, um eine Sepsis zu definieren. In der Vielseitigkeit der Ursachen sehen die Sepsisforscher aber auch eine Chance. Denn je nachdem, ob bei einem Patienten eine zu starke oder zu schwache Antwort auf eine Infektion vorliegt, können Entzündungs­hemmer oder Immun­stimulatoren zur Behandlung eingesetzt werden. Dabei ist das Bild noch komplexer wie Bauer darlegt: „Wir finden nicht nur entweder eine zu starke oder zu schwache Abwehrreaktion, sondern wir können sogar in verschiedenen Organen eines einzelnen Patienten Unterschiede finden. Durch Aufklärung dieser Phänomene kann es uns gelingen, auf den jeweiligen Patienten zugeschnittene, ‚personalisierte‘ Therapien zu entwickeln.“

COVID-19 als Glücksfall

Bisher funktioniert dieser gezielte Eingriff in die Abläufe des Immunsystems aber nur in wenigen Ausnahmen. Ein Hauptgrund hierfür ist das Fehlen geeigneter Biomarker, um ein bestimmtes Patienten­kollektiv zu identifizieren. In dieser Hinsicht habe die COVID-19-Pandemie die Sepsisforschung deutlich vorangebracht, ist Bauer überzeugt: „Plötzlich standen für die Forschung sehr viele, sehr ähnliche Fälle von viraler Sepsis zur Verfügung.“

Und tatsächlich wurde bei COVID-19-Patienten mit suPAR (soluble urokinase-type plasminogen activator receptor) ein Biomarker für eine durch schwere Entzündungs­reaktionen ausgelöste Sepsis gefunden (J Clin Med, 10(21):4914). Im Vergleich zu anderen Biomarkern steigt suPAR bei schweren COVID-19-Verläufen früh an, sodass sofort eine gezielte Therapie eingeleitet werden kann. Dazu gehört insbesondere die Gabe des Interleukin-1-Rezeptor-Antagonisten Anakinra bei Patienten, deren Lungen­funktion durch eine schwere Entzündung bereits eingeschränkt war. Auch durch den Einsatz von Dexamethason konnte das relative Sterblich­keitsrisiko um 30 Prozent gesenkt werden, was belegt, dass die Erkrankungs­schwere auch maßgeblich von der Wirtsreaktion abhängt. „Diese Eingriffe in die fehlgesteuerte Abwehr bei COVID-19-Patienten waren ein erster Durchbruch“, freut sich Bauer.

Die Krankheits­toleranz zu manipulieren, scheint dagegen schwieriger zu sein. „Sowohl Abwehr als auch Toleranz sind eng an den Energie­stoffwechsel des Wirts geknüpft“, so Bauer. „Hier erhoffen wir uns zukünftig weitere therapeutische Ansatzpunkte.“ Dafür müssen aber zunächst die komplexen Verbindungen zwischen Organfunktion, Immunsystem und Energie­haushalt besser verstanden werden.

Die Genetik macht den Unterschied

Festzuhalten bleibt: Die Sepsis ist primär eine Erkrankung des Wirts mit einer familiären Komponente, die sogar stärker ist als beispielsweise bei Krebs­erkrankungen. So kommen Menschen zwar im Wesentlichen mit den gleichen Krankheits­erregern in Kontakt, reagieren jedoch unterschiedlich darauf – in Abhängigkeit ihrer jeweiligen genetischen Ausstattung. Für die Behandlung kann das ein Glücksfall sein, wie Bauer noch einmal zusammenfasst: „Mit Antiinfektiva alleine können wir die Sepsis nicht bekämpfen, weil wir den Wettkampf mit der Evolution der Bakterien immer verlieren werden. Deshalb müssen wir auf Biomarker-gestützte personalisierte Strategien zum Eingriff ins Immunsystem setzen.“ Die Durchbrüche bei der Bekämpfung von COVID-19 sollen nun den Weg weisen, wie auch die bakterielle Sepsis durch personalisierte Medizin bekämpft werden kann.

Larissa Tetsch

Bild: World Sepsis Day


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Letzte Änderungen: 12.09.2022