Editorial

Ein chronisches
Dilemma

(12.09.2022) Zellkulturen, die gar nicht die Zellen enthalten, die sie sollen. Auch nach Jahrzehnten der Aufklärung besteht diese Problematik noch immer. Warum?
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Eigentlich sollte das Problem falscher Zelllinien­modelle weitgehend bekannt sein. Auch Laborjournal und Lab Times widmeten ihm 2007, 2008, 2010 und 2013 umfang­reiche Artikel. Dennoch zeichnet auch die jüngste Analyse noch immer ein kritik­würdiges Bild: Als Editorial Assistant beim International Journal of Cancer (IJC) wertete Nicole Y. Souren gemeinsam mit Kollegen zwischen Juli 2018 und Juni 2021 die 747 zum Peer-Review angenommenen Manuskripte aus, deren Forschung auf 4.138 humanen Zelllinien beruhte. Unter ihnen fand sie 216 falsch identifizierte Zelllinien (EMBO J, 41(14): e111307).

Sowohl Forschungs­treibende als auch Wissenschafts­verlage nehmen die Konsequenzen falsch identifizierter Zelllinien für die eigene Forschung also weiterhin in Kauf. Jahrzehnte­lange Aufklärungs­arbeit hat sich als unzureichend erwiesen. Unwahrscheinlich, dass der vorliegende Laborjournal-Artikel daran etwas ändern wird. Aber vielleicht höhlt der stete Tropfen doch auch diesen Stein. Was sind die Ursachen für falsch deklarierte Zelllinien? Welchen Beitrag können Wissenschafts­verlage und Forschungs­förderer leisten?

Editorial

Ursache allen Übels

In den Augen von Hans Drexler, bis 2019 Leiter der Abteilung für menschliche und tierische Zelllinien der Deutschen Sammlung von Mikro­organismen und Zellkulturen (DSMZ), entspringen Zellirrtümer der Mentalität von Forschungs­treibenden: „Die meisten Forschenden erachten Zellen als Freeware oder Shareware. Sie geben sie sorglos von Labor zu Labor weiter. Dabei ist das illegal, denn jede Zelllinie gehört jemandem – meist Forschungs­instituten oder Zelllinien­banken. Für jede Zelllinie hat jemand am Anfang mal ein Material Transfer Agreement unterzeichnet – und dann gebrochen. Und genau dieses unkontrollierte Weitergeben unter der Hand bringt die ganzen Probleme mit sich. Bezögen Forscher ihre Zelllinien nur aus sicheren Quellen wie Zelllinien­banken, wäre das Problem gelöst.“

Eine weitere Ursache für Zellirrtümer hängt mit dem zusammen, was Zellkulturen wissenschaftlich so wertvoll macht – ihr unbändiges Wachstum. Unter den 576 Einträgen im Register des Internationalen Komitees zur Authenti­fizierung von Zelllinien sind 25 Prozent HeLa-Zellen. Auch in Sourens Analyse beim International Journal of Cancer handelte es sich in der Hälfte der 216 Fälle um HeLa-Zellen. „Das verwundert angesichts des aggressiven Wachstums der unsterblichen Krebszellen nicht”, sagt DKFZ-Forscher Christoph Plass, seit 2019 IJC-Editor-in-Chief und Seniorautor der EMBO-Journal-Analyse: „Eine rasch wachsende Zelllinie selektioniert schnell gegen eine langsam wachsende.” Infolge ihrer geringen Verdop­plungszeit kann eine einzige HeLa-Zelle, die als Verunreinigung eingebracht wird, eine Zellkultur je nach Wachstums­bedingungen binnen weniger Passagen überwachsen. „Meist geschieht das unbemerkt und über Labor- und Arbeits­gruppen­grenzen hinweg“, ergänzt Plass.

Einfache Regeln

Dabei lassen sich Kreuzkonta­minationen durch einfache Regeln vermeiden. Hexenwerk ist keine davon: Nie arbeitet mehr als eine Person unter der Sicherheits­werkbank. Nie werden mehrere Zellkulturen gleichzeitig passagiert oder die schnell wachsende vor der sich langsam teilenden Zelllinie. Alle Mitarbeitenden verwenden eigene Medien sowie Wachstums­faktoren für jede Zelllinie, passagieren Zellkulturen regelmäßig bei nicht zu geringen Zelldichten maximal zehn- bis zwanzigmal und bewahren Aliquots der Ausgangs­kultur in flüssigem Stickstoff für Gütekontrollen auf.

Die entscheidende Stellschraube bringt der ehemalige Zelllinienbank-Leiter Drexler auf den Punkt: „Sämtliche Mitarbeiter werden in guter Zellkultur­praxis geschult, und zwar nicht in Online-Kursen oder indem sie irgendwem für eine halbe Stunde über die Schulter schauen, sondern in regelmäßigen Fortbildungs­veranstaltungen, in denen sie sich bestimmte Verhaltens­muster aneignen. Schließlich sind es die oft als selbst­verständlich erachteten Alltags­fähigkeiten im Labor, wie etwa die Handhabung von Pipetten, die über Zellkonta­minationen entscheiden.“ Schulungs­material für eigene Präsenzkurse in Zellhygiene bietet die ICLAC-Website kostenlos an. „Ebenso wichtig ist es, die Identität von Zellen im Laufe eines Projekts immer wieder zu überprüfen”, ergänzt IJC-Chefredakteur Christoph Plass.

Keine Gewinner

Obwohl genau das heutzutage so einfach ist wie nie, riskieren Forschende noch immer lieber Monate ihrer Arbeitsleistung. Warum? „Weil sie Zellauthen­tifizierung eher als administrative Bürde und nicht als Hilfestellung in ihrem ureigenen Forscher­interesse begreifen”, meint Drexler. „Bewusstsein für diese Problematik zu wecken“, ist deshalb auch Plass‘ Hauptanliegen. „Stellt sich ein Projekt im Nachhinein als wertlos heraus, gewinnt schließlich niemand.”

Manche Forschungs­förderer haben das erkannt und fordern eine Zellauthen­tifizierung ein. Wissenschafts­verlage verhalten sich dagegen zögerlicher. So schlugen Plass‘ Vorgänger auf dem IJC-Chefredak­teurs-Posten bereits vor 15 Jahren anderen Zellbiologie- und Krebsjournalen eine gemeinsame Initiative vor, die Authenti­fizierung von Zelllinien als obligatorische Qualitäts­kontrolle einzuführen. Auf Interesse stieß der Vorschlag nur selten – vermutlich aufgrund des Mehraufwands. Die meisten Journale sahen die Verantwortung bei den Forschenden und ihren Gutachtern (PLoS Biol, 15(4):e2001438). Neben dem IJC verlangen heutzutage nur wenige Fachzeit­schriften wie Nature- sowie BioMed-Central-Journale Authentifi­zierungs­dokumente.

Entsprechend skeptisch bleibt Plass: „Appelle und guter Glaube daran, dass Autoren ihre Zelllinien authentifizieren, reichen in der Erfahrung des IJC nicht aus. Nur Einschränkungen kurieren die Wissenschafts­gemeinde von der stillen Gefährdung durch Kreuzkonta­minationen.” Davon ist auch Drexler überzeugt: „In meiner Erfahrung haben weder Autoren noch Journale jemals eine Publikation zurückgezogen – selbst wenn sie zugaben, dass ihre Zelllinien falsch waren. Ein Retraktions­zwang wäre ein geeigneter Ansatzpunkt, eine Änderung in der Forscher­mentalität einzuläuten.” Begeisterungs­stürme lösen diese Vorschläge sicher nicht aus.

Henrik Müller

Bild: ATCC

Dieser hier gekürzte Artikel erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 9/2022. Darin beschreibt Henrik Müller unter anderem, wie genau Sie Zelllinien authentifizieren können.


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Letzte Änderungen: 12.09.2022