Die große Eierjagd

1. April 2024 von Laborjournal

 

Die Osterinsel birgt immer noch Geheimnisse und Überraschungen. Gerade erst entdeckte etwa eine Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung des Zoologen Ernest Bunnyway von der Universität Uovo in nahezu unzugänglichen Ecken im Norden der Insel eine neue Vogelart. Versteckt zwischen saftigen Grashalmen fanden Bunnyway und Co. ein Nest mit Eiern, die in allen Farben des Regenbogens gefärbt waren: blaue Eier, rote Eier, grüne Eier, Eier mit Streifen, Zickzacklinien oder Punkten – unendlich viele Varianten.

„Wir waren wochenlang in derselben Gegend im Norden unterwegs, irgendwann hatten wir uns sogar verlaufen“, erzählt Bunnyway Laborjournal. „Doch plötzlich sahen wir diesen Vogel, der aus seinem Nest flüchtete. Er war so schnell, dass wir kein Foto machen konnten. Also näherten wir uns dem Nest – und wir trauten unseren Augen nicht: Keiner von uns hatte je ein so buntes Gelege gesehen.

Im Gegensatz zu seinen Eiern hatte der Vogel selbst eine bemerkenswert unauffällige Zeichnung. Sein braunes, weiches Gefieder sah fast wie ein Fell aus; das Tier war mittelgroß, hatte fleischige Füße und einen kurzen Schnabel. „Nicht unähnlich einem Huhn“, kommentierte Bunnyway. Doch trotz der großen Ähnlichkeit mit Hühnern sind die Wissenschaftler überzeugt, dass die neue Art, die sie in Anlehnung an den bis ins 19. Jahrhundert auf der Insel praktizierten Vogelmannkult Tangata manu tauften, ein Vertreter einer neuen Vogelfamilie ist – und tauften sie Easteridae.

Zurück in ihrem Basislager in Hanga Roa begannen die Wissenschaftler mit der Beschreibung der Art. Der Expeditionsteilnehmer und Ethnologe Birdy Egglestone sprach mit einigen Eingeborenen und erfuhr von ihnen, dass sie die bunten Eier für bestimmte rituelle Zeremonien verwenden, die meist im Frühjahr stattfinden. „Ein Eingeborener berichtete, dass sie jedes Frühjahr ihre Kinder aussenden, um ein paar der schönsten Exemplare zu suchen und zu sammeln. Wenn sie zurückkommen, werden die Eier gekocht und im Rahmen eines großen Familienfestes gegessen.“ Dieser Kult würde schon seit Hunderten von Jahren praktiziert.

Der potenzielle evolutionäre Nutzen hinter dem auffälligen Aussehen der Eier ist indes noch nicht geklärt. Bunnyway vermutet eine gerissene Täuschungs- oder Verwirrungstaktik. Diesbezüglich sind jedoch weitere Untersuchungen notwendig, um zu einem zufrieden stellenden Ergebnis zu kommen. „Wir werden bald wieder in den Norden fahren“, verkündet Bunnyway. „Und vielleicht werden wir dieses Mal schnell genug sein, um ein Exemplar zu fangen.“ Der Plan ist, DNA zu sammeln und die phylogenetischen Beziehungen von Tangata manu ein für alle Mal zu klären. Für diese Analyse veranschlagen die Wissenschaftler etwa ein Jahr. Dann seien die bewilligten Fördermittel für das Projekt sowieso verbraucht, so Bunnyway.

In der Zwischenzeit wünscht Laborjournal seinen Leserinnen und Lesern eine schöne Osterzeit.

(Foto: ivabalk@Pixabay)

 

As Time Goes By …

6. Dezember 2023 von Laborjournal

Dass externe Reize in die Regulationsschleifen von Zellprozessen mit eingerechnet und oft genug sogar für deren konkrete Ausgestaltung genutzt werden, ist klar. Die prominentesten Beispiele für solche externen Faktoren sind sicherlich Licht und Temperatur; zuletzt traten in mehr und mehr Fällen auch mechanische Gegebenheiten in den Fokus.

Ein wenig stiefmütterlich scheint die Forschungsgemeinde bislang hingegen den Faktor Zeit ins Kal­kül genommen zu haben. Oder genauer gesagt: Wie vor­ge­­gebene Zeitspannen für das Einrichten konkreter Regu­la­tions­­mechanismen genutzt wer­den.

Ein nettes Beispiel, über das wir bereits an anderer Stelle berichtet hatten, dreht sich um die Transkription. Im Reagenzglas hatte man für das Aneinanderreihen der einzelnen Nukleotide zu fertigen mRNA-Strängen eine Geschwindigkeit von 30 bis 60 Nukleotid-Verknüpfungen pro Sekunde ermittelt. Doch damit stand man unverhofft vor einem Rätsel. Dieses wurzelte darin, dass die Exon-Blöcke der meisten eukaryotischen Gene bekanntlich durch nicht-codierende Intron-Abschnitte unterbrochen werden – wodurch sie teilweise weit voneinander getrennt liegen. Die Zelle jedoch muss zunächst ein Primärtranskript des gesamten Gens inklusive aller Introns erstellen, aus dem erst nachfolgend die Exons zur funktionellen mRNA zusammengespleißt werden. Und da die Primärtranskripte aufgrund ihrer Exon-Intron-Strecke – wie gesagt – bisweilen sehr lang sein können, braucht die Zelle für deren Produktion ordentlich Zeit.

Okay, und wo ist das Problem?   Diesen Beitrag weiterlesen »

Vorteilhafte „Ball-Kleider“

24. Mai 2023 von Laborjournal

Wie Evolution funktioniert, zeigt sich oft am anschaulichsten an besonders ausgefallenen Eigenschaften einzelner Organismen.

Nehmen wir als Beispiel die Zwerg- oder Kleinzikaden (Cicadellidae). Diese Insek­ten­familie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass deren 0,2 bis 3 Zentimeter großen Mitglieder die einzigen sind, die sogenannte Brochosomen bilden. Die Evolution „erfand“ solche Brochosomen also erstmals in der Vorfahrenlinie der heutigen Zwergzikaden – und bis heute offenbar nirgendwo anders in der belebten Welt.

Sehen aus wie kleine Fußbälle: Brochosomen

Doch was sind Brochosomen? Kurz gesagt sind es 0,2 bis 4 Mikrometer große „Hohl-Bällchen“. Der innere Hohlraum wird dabei von einer Oberfläche umspannt, die sich – fast wie bei alten Leder-Fußbällen – aus fünf- und sechseckigen Protein-Lipid-Einheiten zusammensetzt. Die Zwergzikaden bilden diese Mini-Bällchen im Golgi-Komplex bestimmter Zellen der Malpighischen Gefäße, scheiden sie als eine Art Granulat am Hinterleib aus und verteilen sie mit speziellen Borsten der Hinterbein-Tibien auf Körper und Flügeln.

Da die Brochosomen extrem hydrophob sind, liegt nahe, dass sie die Kleinzikaden vor Wasser schützen. Außerdem soll das „Ball-Kleid“ (Sorry, der musste jetzt sein!) verhindern, dass die kleinen Krabbler am Ende rettungslos mit dem von ihnen selbst abgesonderten, zuckrigen Honigtau verkleben.

Schön und gut, aber was lehren uns die Zikaden-Bällchen jetzt über die Evolution? Zunächst einmal: Die Evolution plant nie voraus. Es wird also nicht so gewesen sein, dass die Zwergzikaden-Vorfahren vor dem großen Problem standen, dass sie allzu nass wurden oder an ihrem eigenen Saft verklebten – und dass deren Evolution sie dann deswegen gezielt die Brochosomen entwickeln ließ, um Abhilfe zu schaffen.   Diesen Beitrag weiterlesen »

Zum Vermehren bitte zerpflücken lassen

10. Mai 2023 von Laborjournal

Immer wieder zum Staunen, was die Natur mit ihrem „Chef-Gestalter“ Evolution an skurrilen, zugleich aber raffiniert ausgefuchsten Phänomenen hervorbringt. Zum Beispiel die Vermehrung durch Sich-Zerpflücken-Lassen, die israelische Forscher im Rahmen der Symbiose zwischen Boxer-Krabben der Spezies Lybia leptochelis mit Anemonen der Gattung Alicia herausfanden (PeerJ 5: e2954).

 

Boxer-Krabbe hält ihre Lieblings-Anemone in beiden Scheren

 

Skurril genug ist ja schon, dass die Boxer-Krabben zeitlebens und obligat je eine der besagten Anemonen in beiden Scheren halten. Was haben die beiden davon? Die Anemonen helfen den Krabben bei Feindabwehr und Nahrungsaufnahme, bekommen dafür aber nur einen begrenzten Return: Zwar nutzen sie mit den Krabben ein Transportvehikel, das sie zu ansonsten unerreichbaren Futterquellen bringt – aber wenn sie dann mal futtern, wacht die Krabbe streng über die Menge der Nahrungszufuhr, damit die Anemonen sie am Ende nicht vollends überwuchern.

Doch das war es nicht, was die Israelis vor allem interessierte. Vielmehr entfernten sie die Anemone aus einer Schere – und schauten, was Lybia machte: Umgehend zerteilte diese die verbliebene Anemone, und bald darauf hatten sich in beiden Scheren wieder „vollständige“ Individuen regeneriert. Prinzipiell das Gleiche geschah, wenn die Israelis einer Krabbe beide Anemonen klauten: Diese entriss daraufhin einem Artgenossen eine Anemone, oder wenigstens ein Fragment davon – und am Ende hatten beide wieder komplett regenerierte Anemonen in jeder Schere.

Die starke genetische Homogenität innerhalb der Alicia-Anemonen brachte die Israelis am Ende zu dem Schluss, dass sie sich überhaupt nur durch dieses „Zerpflückt werden“ vermehren. Woraufhin sie verkündeten, dass dies wohl das erste Beispiel überhaupt sei, wonach eine Spezies die asexuelle Vermehrung einer anderen induziere.

Wie gesagt, immer wieder erstaunlich, welche Phänomene und Strategien die Evolution in Einzelfällen stabil etabliert.

Ralf Neumann

(Foto: DOI 10.7717/peerj.2954/fig-1)

Formvollendetes Headbanging

27. Juni 2022 von Laborjournal

Der Wolf hat große Augen, damit er Sie besser sehen kann. Er hat große Ohren, damit er Sie besser hören kann, und er hat einen großen Mund, damit er Sie besser fressen kann. Gewisse Merkmale von Tieren wurden bereits von den Gebrüdern Grimm als Anpassung an deren Überlebensbedürfnisse erkannt. Und die Grimms haben ja nur aufgeschrieben, was sich die Menschen seit Jahrhunderten erzählt haben. Eine frühe Ahnung von Evolution. Und die zugrunde liegende Erkenntnis: Form follows function.

Leider ist dieser Zusammenhang in der Evolution nicht immer eindeutig, und möglicherweise folgt die Form manchmal zwei oder noch mehr Funktionen. Und damit wären wir bei der Giraffe angekommen …

„Warum hat die Giraffe so einen langen Hals?“ – „Damit sie besser Blätter von hohen Bäumen fressen kann,“ lautete meist die Antwort. Schon Lamarck und später Charles Darwin vermuteten, der lange Giraffenhals sei eine Anpassung daran, wie hoch die Nahrung hängt. Aber schon früh kamen Zweifel auf: Warum gab es diese Anpassung nur bei Giraffen? Und: Wäre es nicht „billiger“ gewesen, einfach nur die Beine zu verlängern? Auf der anderen Seite: Wenn man bereits einen langen Hals gehabt hätte, bevor Nahrung in größeren Höhen erreichbar war, wäre das natürlich ein Vorteil gegenüber einem kurzhalsigen Dasein gewesen. Aber warum hätten die Giraffen schon vorher einen langen Hals bekommen sollen?    Diesen Beitrag weiterlesen »

Wie funktioniert horizontaler Gentransfer von einem Räuber auf seine tote Beute?

18. Mai 2022 von Laborjournal

Ein gerne bemühter Allgemeinplatz in der Wissenschaft lautet: Jedes Ergebnis öffnet die Tür zu neuen Fragen. Manchmal erscheint den Forschern jedoch die eine oder andere Frage, die ihre neusten Ergebnisse ihnen förmlich aufdrängen, zunächst als ziemlich bizarr.

Derart überrumpelt hat sich womöglich kürzlich ein internationales Biologenteam gefühlt – zumindest im ersten Moment. Den Beteiligten – unter ihnen Sven Künzel vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön sowie Miguel Vences aus dem Zoologischen Institut der Technischen Universität Braunschweig – ging es zunächst einmal nur darum, die Verbreitung eines sehr häufigen Säuger-Retrotransposons namens Bovine-B (Bov-B) in Fröschen zu prüfen. Und tatsächlich fanden sie die Bov-B-Sequenzen zuhauf im Erbgut nahezu all derjeniger Frösche, die sie auf Madagaskar eingesammelt hatten. Diese Bov-B-Sequenzen waren zuerst in Rindern aufgepürt worden, wo deren vervielfältigte Kopien teilweise mehr als 18 Prozent der gesamten Genomsequenz ausmachen. In manchen Exemplaren der Madagaskar-Frösche nahmen sie immerhin 0,5 Prozent des Genoms in Anspruch.

 

Eine Milbe als Vektor für horizontalen Gentransfer zwischen Schlangen-Räuber und Frosch-Beute? (Abb. 2(a) aus Mol. Biol. Evol. 39(4): msac052)

 

1998 hatten zwei slowenische Forscher den überraschenden Befund publiziert, dass die Vorfahren der Rinder sich die Bov-B-Retrotransposonen vor Jahrmillionen via horizontalem Gentransfer aus Schlangen eingefangen hatten (Kordis D & Gubensek F, PNAS 95(18): 10704-09). Damit waren Schlangen natürlich auch als Bov-B-Lieferanten für die Madagaskar-Frösche unter Verdacht. Und nach vergleichender Analyse etlicher Reptilien- und Amphibienarten stand schließlich fest: Die Bov-B-Sequenzen der madegassischen Frösche sind am engsten mit denen von madegassischen Schlangen verwandt (Mol. Biol. Evol. 39(4): msac052). Und mehr noch: Die Frosch-Ahnen erwarben die Bov-B-Elemente tatsächlich durch horizontalem Gentransfer aus den Vorfahren der Schlangen – und zwar in mehreren Sprüngen während des Zeitraums von vor 85 bis vor 1,3 Millionen Jahren. Diesen Beitrag weiterlesen »

Ameisen waren schon zu Dinozeiten eusozial

2. März 2022 von Laborjournal

Zum Glück tropfte vor Urzeiten viel Harz von den Bäumen. Des öfteren fror es dabei mit einem knappen „Blob“ kleine Erdbewohner mitten in ihren Alltagsverrichtungen ein, wurde anschließend zu festem Bernstein und konservierte den Urwelt-Schnappschuss auf diese Weise bis zum heutigen Tage.

Ein ebensolches Glück ist es, dass mittlerweile tolle Methoden zur Verfügung stehen, mit denen man solche Fossilien direkt im Bernstein hochauflösend untersuchen kann. Genau dies tat jetzt ein internationales Team unter Federführung von Zoologen und Evolutionsbiologen der Universität Jena: Mittels Mikro-Computertomographie durchscannte es einen Bernstein-Blob aus der Kreidezeit – und darin mit besonders hoher Auflösung vier wunderbar erhaltene Ameisen (Zool. J. Linn. Soc., doi: 10.1093/zoolinnean/zlab097).

 

Abbildung 1 aus dem im Text erwähnten Original-Paper

 

Nicht nur die äußere Morphologie, auch den Aufbau des Gehirns, die Struktur des Nervensystems und den Verlauf der Muskelstränge konnten Erstautor Brendon Boudinot et al. auf diese Weise bis ins Detail vergleichend untersuchen – sodass sie am Ende unter anderem verkünden konnten: Zwei der erwachsenen Tiere gehören zu einer bislang unbekannten Art der ausgestorbenen Ameisen-Gattung Gerontoformica. Sie firmiert nun unter dem vollen Namen Gerontoformica sternorhabda sp. nov.

Den Clou lieferten jedoch die beiden anderen Tiere. Diese gehören zwar der bereits bekannten Spezies Gerontoformica gracilis an, bei einem davon handelte es sich jedoch um die erste nicht vollständig entwickelte Ameisenpuppe, die jemals in kreidezeitlichem Bernstein gefunden wurde. Da Ameisenpuppen sich jedoch nicht fortbewegen können, erwischte der Harz-Blob das erwachsene, flügellose Weibchen damals offenbar genau in dem Moment, als es die Puppe trug. Was die Autoren als klares Indiz dafür ansehen, dass flügellose Weibchen schon in der Kreidezeit kooperativ waren – und es sich bei ihnen demnach um echte „Arbeiterinnen“ handelte.

Boudinot fasst das folgendermaßen zusammen:

Dieser sogenannte Bruttransport ist ein einzigartiges Merkmal des arbeitsteiligen Zusammenlebens von Ameisen. Das Fossil liefert somit den ersten materiellen Beweis für kooperatives Verhalten aus der Kreidezeit.

Der Bernstein-Schnappschuss aus der Kreidezeit legt daher nahe, dass Ameisen bereits damals in einem arbeitsteiligen eusozialen System lebten – mit den drei Kasten, wie wir sie von deren heutigen Nachfahren kennen: Geflügelte Weibchen legen als Königinnen die Eier, die Männchen befruchten sie, und die flügellosen Arbeiterinnen kümmern sich um Nachwuchs, Nahrung und Nestbau.

Das eusoziale Kastenwesen der Ameisen hätte sich demnach schon vor über 100 Millionen Jahren entwickelt. Zu einer Zeit also, als die Dinosaurier noch lange auf Erden wandeln sollten.

Ralf Neumann

 

Der ewige Ursprung des Lebens

12. Oktober 2021 von Laborjournal

Ende September brachte die Hiroshima University eine Pressemeldung mit dem Titel „Answering a century-old question on the origins of life“ heraus. Der Untertitel lautete: „A team of Japanese scientists found the missing link between chemistry and biology in the origins of life“. Ohne weiter auf den Inhalt oder das zugehörige Original-Paper in Nature Communications eingehen zu wollen: Was stört an dem Untertitel?

Schon der Untertitel suggeriert, dass die chemischen Reaktionen, die die Japaner beobachtet haben, sich vor Urzeiten tatsächlich als Vorstufe zur Entstehung des Lebens abgespielt hätten. Das jedoch kann die Origin-of-Life-Forschung in letzter Konsequenz gar nicht feststellen – und zwar schon rein prinzipiell.

Um dieses Dilemma, in dem die Forschung zum Ursprung des Lebens steckt, im Detail klarzumachen, bemühten wir bereits vor zwei Jahren in unserer Kolumne „Schöne Biologie“ die folgenden Beispiele: Diesen Beitrag weiterlesen »

Die Natur ist Gentechniker!

6. März 2019 von Laborjournal

„Um sich an die Umwelt anzupassen, übernehmen Gräser bestimmte Gene von verwandten Arten — und das auf direktem Weg von Pflanze zu Pflanze.“ So stand es in einer Meldung der Uni Bern, die der Redaktion vor gut zwei Wochen auf den Tisch flatterte.

„Wow, offenbar horizontaler Gentransfer at its best“, dachte unser Chefredakteur sofort. Doch komischerweise formte sich vor seinem geistigen Auge eben nicht — wie eigentlich sonst immer — zunehmend eine Idee, wie er die beschriebene Studie in Laborjournal aufgreifen könnte. Vielmehr stieß dieses Stichwort seine Gedanken umgehend mitten in die aktuelle Gentechnik-Debatte, die angesichts der jüngsten Entwicklung des „spurenfreien“ Gene Editings via CRISPR und Co. im Hamsterrad der Irrationalitäten ja nochmal ein bis zwei Gänge hochgeschaltet hatte.

Kaum etwas ist doch annähernd so umfassend erforscht, wie die verschiedenen gentechnischen Methoden inklusive der mittelfristigen Folgen und Nicht-Folgen ihrer Anwendungen — so dachte er. Entsprechend verlegen sich die Rundum-Ablehner von Ökos, Grünen, SPD und generellen Fortschrittsfeinden ja auch immer weniger auf wissenschaftliche Argumente. Stattdessen diskreditieren sie lieber gleich die ganze Wissenschaft an sich. Oder — und jetzt kommen wir langsam zur oben erwähnten Studie — sie schwurbeln aufgrund eines romantisch-falschen Naturbegriffs irgendwas von wegen „unnatürliche Methoden“ herum.

Und jetzt das! Da finden doch Forscher tatsächlich, dass die Vorfahren einer Grasart im Laufe ihrer Evolution insgesamt sechzig Gene aus neun verschiedenen, nur sehr weitläufig verwandten Gräsern stibitzt und in ihr eigenes Genom integriert haben. Einfach so, über sämtliche Artgrenzen hinweg! In freier Natur, ohne Labor — und noch viel kruder, als CRISPR und Co. es jemals könnten!

Dabei sind die Gräser beileibe nicht das erste Beispiel, wie schamlos die Natur seit jeher ohne jegliches Zutun des Menschen „Gentechnik“ betreibt. Sie sind auch nicht erst die zehnte oder zwanzigste „Ausnahme“! So scheint vielmehr in sämtlichen evolutionären Linien horizontaler Gentransfer stattgefunden zu haben. Bereits zuvor hatte die Wissenschaft beispielsweise festgestellt, dass sich Farne wichtige Gene aus Moosen holten, dass Läuse sich bei Bakterien bedienten, dass die Süßkartoffel ein natürlich gentechnisch veränderter Organismus (GVO) ist. Gleiches gilt für Fliegen, Würmer und und und… bis hin zu uns Menschen. Knapp 150 Gene übernahmen unsere Primaten-Vorfahren offenbar aus Bakterien, Einzellern und Pilzen in ihr Genom, wo sie heute wichtige Funktionen für uns erfüllen — etwa im Fettstoffwechsel oder der Immunabwehr.

Alles Natur pur also! Und das aktuell so heiß diskutierte Genome Editing sowieso. Im Darm eines jeden einzelnen von uns CRISPR’t es wahrscheinlich millionenfach — pro Tag!

Nein, die Natur ist nicht romantisch, sie ist pragmatisch. Und ihre Exekutive ist die Evolution. Komplett wertfrei probiert sie alles Mögliche aus — und wenn ein Organismus von irgendeiner evolutionären Rumprobiererei einen Nutzen hat, wird das Resultat über die nächsten Generationen in der gesamten Population fixiert. Klar, dass sie dazu als Werkzeug auch gerne den horizontalen Gentransfer über Artgrenzen hinweg benutzt. Oder Transformation via Plasmid oder Virus-Vektor. Oder Genome Editing… Schlichtweg alles, was man heute Gentechnik nennt, und noch viel mehr.

Einiges davon kriegt der Mensch inzwischen auch im Labor hin, und einiges davon inzwischen auch deutlich schneller und zielgerichteter als die Natur. Aber prinzipiell unnatürlich wird es dadurch nicht. Auch wenn die Gentechnik-Gegner es gerne so hätten. Nein, ganz im Gegenteil: Dass Gentechnik unnatürlich sei, ist ein ganz schwaches Argument — und kann nur von Leuten kommen, die die Natur nicht verstanden haben…

Ralf Neumann

(P.S.: Natürlich fragt sich unser Chefredakteur jetzt, ob er genau diese Gedanken nicht mal in Laborjournal schreiben sollte — statt diese Gräser-Studie etwa routinemäßig als Nachricht oder Journal Club zu referieren. Aber wäre das gerade den Laborjournal-Lesern gegenüber nicht lediglich „Preaching to the Converted“, wie die Engländer so schön sagen?… Hm, vielleicht aber doch nicht nur…)

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„The Scientist Who Scrambled Darwin’s Tree of Life“…

30. August 2018 von Laborjournal

… Diese Titelzeile im Magazin der New York Times machte mich neugierig. Wer das wohl sein soll? „Der wichtigste Biologe des 20. Jahrhunderts, von dem du noch nie gehört hast“, schreibt David Quammen in der NYT.

Und, wer ist es nun?

Es ist Carl Woese, der Ende 2012 verstorbene Experte für molekulare Phylogenie — obwohl dieser Begriff noch gar nicht existierte, als sich Woese mit der frühen Evolution von Bakterien zu beschäftigen begann.

 

Carl Woese, der „wichtigste unbekannte Biologe des 20. Jahrhunderts“, an Thanksgiving 2003. Er kam 1928 in Syracuse, New York, zur Welt, und promovierte an der Yale University in Biophysik. 1969 wurde er Professor für Mikrobiologie an der University of Illinois in Urbana-Champaign, wo er bis zu seiner Emeritierung blieb. Woese starb am 30. Dezember 2012.

 

Der wunderbare 7.500-Worte-Artikel stammt von David Quammen, einem mehrfach dekorierten Journalist und Buchautor. Er ist ein Exzerpt von Quammens neuestem Buch The Tangled Tree — A Radical New History of Life. Quammen liefert einen spannend zu lesenden Abriss über die Entdeckung der Archaeen samt deren Einordnung als neues Reich in den Tree of Life, über die Entstehung der molekularen Phylogenie als Forschungsdisziplin, über den horizontalen Gentransfer und seine Bedeutung für die Evolution — wie auch über die Person Carl Woese.

Quammen selber traf Woese nie, denn er begann erst zwei Jahre nach dessen Tod, sich mit dem Thema und dem Mann zu befassen. Also musste er sich seine Informationen in vielen Gesprächen mit denjenigen besorgen, die Carl Woese kannten. Aus deren Worten bekommt man ein ganz gutes Gefühl dafür, wie das war, als Woese und George Fox 1977 in einer Veröffentlichung die Archaebakterien neben den Eubakterien und den Eukaryoten als drittes Reich ankündigten.

Das Paper schaffte es zwar auf die Titelseite der New York Times und Woese stand für „15 Minuten im Rampenlicht“, so Quammen. Aber die Wissenschaftler hielten nichts von seinen Ideen. Ralph Wolfe, Mikrobiologe und ehemaliger Kollege von Woese, erinnert sich: „Wir bekamen viele Anrufe, alle negativ. Die Leute waren empört über diesen Unsinn. Was dazu führte, dass das ganze Konzept um mindestens zehn oder fünfzehn Jahre aufgehalten wurde.“ Und so verschwand der Forscher wieder in seinem Labor.

Woese hatte dennoch Recht, wie die Vergangenheit zeigte. Und obwohl seine Erkenntnisse das Bild vom Tree of Life drastisch veränderte, wurde der Forscher nie wirklich bekannt oder gar berühmt. Was, so Quammen, letztlich auch an seiner Persönlichkeit lag. Er sei ein eigensinniger Wissenschaftler gewesen — unbekannt, aber genial, schrullig, getrieben.

Was mich dann doch verwunderte. Ich selbst konnte Woese 2003 an seinem Wohnort Urbana (USA) persönlich treffen — kurz nachdem er den Crafoord-Preis (den ebenfalls ziemlich unbekannten kleinen Bruder des Nobelpreises) erhalten hatte. Carl Woese — damals mit zerzausten, weißen Haaren, knitterigem Gesicht und in legerer Kleidung — nahm sich drei Stunden Zeit für mich, obwohl es Thanksgiving war. Er wirkte weder schrullig noch eigensinnig. Entspannt, gesprächig, gut gelaunt war der Mann, er lachte viel. Ein sehr angenehmer Gesprächspartner — intelligent und dennoch geduldig, mir die Feinheiten seiner Ideen zu erklären. Und er war überzeugt, dass Darwin, wenn er denn zu der Zeit noch gelebt hätte, bei ihm — Woese — gearbeitet hätte.

(Der daraus entstandene Interviewtext samt einer kurzen Zusammenfassung von Woeses Arbeit stand übrigens Anfang 2013 anlässlich seines Ablebens auch hier im Blog.)

Nachdem ich den NYT-Artikel gelesen hatte, kaufte ich mir sofort das Buch. Ich habe zwar erst ein Viertel geschafft, kann es aber dennoch wirklich empfehlen. Und es sollte übersetzt werden für ein größeres Publikum. Denn Quammen hat eine super Schreibe. Es gelingt ihm, die Forschung von Woese und all seiner Kollegen, aber auch vieler anderer Wissenschaftler lebendig werden zu lassen. Er liefert Details, ohne langatmig zu werden; er schreibt witzig… Aber lesen Sie selber!