„Man hat schon Pferde kotzen sehen“ …

21. September 2022 von Laborjournal

…, behauptet das Sprichwort, um eigentlich Unmögliches anzudeuten. Schließlich kennt die Speiseröhre der Unpaarhufer nur eine Richtung – runterwärts. Erbrechen ist ihr fremd.

Warum eigentlich? Aus zwei Gründen: Der equine Ösophagus mündet in einen nur 12 bis 15 Liter fassenden Magen. Viel Vomitat passt dort nicht rein. Zudem bewacht ein besonders starker Schließmuskel – Musculus sphincter cardiae – den Eingang des Pferdemagens. Rückfluss lässt er ungern zu. Selbst wenn Pferde also reihern wollten, beeindruckend wäre das Schauspiel nicht.

Allein sind Equidae mit ihrem Unvermögen übrigens nicht. Die meisten Pflanzenfresser und Nagetiere können nicht kotzen. Auch Frösche, Kröten, Rochen und Haie können sich ihres Mageninhalts nicht retroperistaltisch entledigen. Um sich von unverdaulichen Futterresten und Parasiten zu befreien, würgen sie direkt ihren kompletten Magen heraus und schlucken ihn im Anschluss wieder runter.

Bei anderen Spezies erfüllt Kotzen dagegen vielfältige Aufgaben. Viele Fliegenarten beispielsweise erbrechen Verdauungsenzyme, um ihre Nahrung zu verflüssigen. Wölfe würgen kürzlich gefressenes Fleisch für ihre Welpen hoch. Auch Störche, Rabenvögel und Pinguine geben vorverdaute Nahrung oral an ihre Brut weiter. Katzen und Greifvögel werden damit Haarballen, Knochen, Federn, Chitin- und Kalkpanzer los. Aasgeier wehren mit ihrer säurehaltigen Kotze Raubtiere ab. Hyänen lieben es sogar, sich in erbrochenen Hufen, Knochen und Haaren zu suhlen. Der Grund für diese ungewöhnliche Vorliebe ist allerdings unbekannt.

Das Thema widert Sie an? Warum? Der Honig auf Ihrem Frühstücksbrot ist nichts anderes als Bienenkotze, die die Hautflügler mithilfe Zucker-spaltender Enzyme aus Blütennektar fermentieren. Ambra – exklusiver Bestandteil besonders teurer Parfüms, Gewürze und Speisen, und so viel wert wie pures Gold – ist nichts anderes als die unverdaulichen Rückstände von Sepien, Kalmaren und Kraken im Verdauungstrakt von Pottwalen. Ins Meer, an den Strand und später in menschliche Hände gelangen die Verdauungsüberbleibsel durch Erbrechen oder als Kotsteine.

Weniger bekannt ist dagegen die Gefahr, die von reihernden Wirbeltieren ausgeht. Beispiel gefällig? Gern: Tod durch Giraffenkotze. Was für ein Unsinn, denken Sie? Na, dann passen Sie mal auf: Ein Giraffenbulle schaufelt täglich bis zu 70 Kilogramm Grünzeug in sich hinein. Er wird bis zu sechs Meter groß. Angenommen er erleichtert sich spontan um die Hälfte seines Mageninhalts, dann schlägt die Giraffenkotze mit einer Aufprallgeschwindigkeit von etwa 39 Kilometern pro Stunde und einer Kraft von – je nach Aufprallzeit – etwa 1.000 Newton auf den Savannenboden. Um einen menschlichen Schädel zu brechen, braucht es etwa 2.000 Newton pro Quadratzentimeter. Selbst wenn Giraffenkotze Sie also nicht direkt tötet, Spaß haben Sie damit sicherlich nicht.

Für diejenigen unter Ihnen, die diese Rechnung ganz genau nehmen: Die Luftreibung fliegender Kotze haben wir nicht berücksichtigt. Literaturwerte dazu konnten wir nicht finden. Und die Giraffen-Aficionados unter Ihnen wissen natürlich: Giraffen besitzen vier in Reihe geschaltete Mägen. Erbrechen startet im letzten davon und erreicht den Ösophagus wahrscheinlich nicht.

Zurück also zur einheimischen Fauna: dem Hausrind. Einige Pflanzenarten wie der Gift-Wasserschierling (Cicuta virosa) – im Englischen nicht ohne Grund cowbane genannt – und der ebenso giftige Rhododendron veranlassen Rinder, ihren Panseninhalt spontan zu evakuieren. Bedenken Sie dabei: Der Pansen eines erwachsenen Rindes fasst bis zu 180 Liter. Im Gegensatz zu kotzenden Pferden wäre das sicher ein beeindruckendes Schauspiel – vor allem, wenn die gesamte Rinderherde mit Rhododendronbüschen geliebäugelt hat.

„Sich mal so richtig auszukotzen“ wirkt eben nicht nur im übertragenen Sinne befreiend.

Henrik Müller

(Der Text erschien als Editorial unseres letzten Laborjournal-NEWSLETTERS. Wer den NEWSLETTER samt solcher Editorials regelmäßig alle zwei Wochen per E-Mail zugeschickt bekommen möchte, klicke sich bitte hier entlang!)

 

 

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