Völlig physiologisch

13. Januar 2014 von Laborjournal

„Oftmals sind die Bedingungen, die man zum Mikroskopieren verwendet, keine ‚physiologischen Bedingungen‘.“ Mit diesem Satz begann kürzlich ein Eintrag in einem Wissenschaftsblog, über den unser Redakteur eher zufällig stolperte.

„Uups“, dachte er. „Keine physiologischen Bedingungen — wie oft war genau dies das Todesurteil für ein vermeintlich sicheres Ergebnis?“ Wie viele Enzyme, die in wässriger Pufferlösung rauf und runter charakterisiert worden waren, verhielten sich plötzlich in Zellsaft-gemäß angedickter Lösung — also unter zellphysiologischen Bedingungen — ganz anders? Stichwort „Molecular Crowding“ (siehe etwa hier). Oder wie viele potentielle Wirkstoff-Kandidaten entfalteten ihre hoffnungsreichen Effekte erst in unphysiologischen Konzentrationen, die man niemals in den Körper bekommen würde (siehe etwa hier)?

Und jetzt sind womöglich sämtliche Zellen, die jemals unter dem Mikroskop lagen, unter „nicht-physiologischen Bedingungen“ studiert worden?…

Unser Redakteur las also weiter. Der Beitrag referierte frische Ergebnisse einer US-Gruppe, nach denen Bestrahlung von Hefezellen mit sichtbarem Licht die Oszillation des respiratorischen Stoffwechsels verkürzt, dazu die Amplitude des Sauerstoffverbrauchs drosselt,wie auch die Expression von Enzymen des antioxidativen Schutzsystems hochdreht (PNAS 110(52): 21130-5). Und die Schlussfolgerung? Auch ohne das Vorhandensein spezieller Photorezeptoren kann ein länger währender Einfluss von sichtbarem Licht den Stoffwechselstatus der Zelle beeinflussen. Und womöglich sorgt daher gerade die „Belichtung“ unter dem Mikroskop immer wieder für „falsche“ Ergebnisse — insbesondere, wenn man etwa Zellatmung oder oxidativen Stress studiert.

Unser Redakteur nahm sich daraufhin das Original-Paper vor. Und wie erwartet: kein Wort von „unphysiologischen Bedingungen“. In dem Paper ging es vielmehr darum, dass Hefezellen tatsächlich auch ohne spezielle Photorezeptoren über andere photosensitive Kanäle in der Lage ist, ihre zeitliche Stoffwechselrhythmik auf natürliche Lichtreize hin zu modulieren.

Was die Autoren beschreiben, ist also eher das genaue Gegenteil: eine völlig normale, physiologische Reaktion der Hefezellen auf einen Lichtreiz. Und auch wenn diese bei längerer Reizdauer oder höherer Reizintensität in eine Art Abwehrreaktion umschlägt, um die Zelle vor Photoinhibition und Licht-induzierten Oxidationsschäden zu schützen — so bleibt es immer noch eine physiologische Reaktion auf einen physiologisch wirksamen Reiz. immerhin hatten die Hefevorfahren ja auch Hunderte von Millionen Jahre Zeit, ihren Stoffwechsel auf die sicher nicht ganz seltene Situation vorzubereiten, dass sie hin und wieder mal ein Lichtstrahl trifft

Sicher macht es Sinn, den scharfen Lichtstrahl des Mikroskops nicht zu lange auf die jeweilige Probe loszulassen, da sonst tatsächlich Photoinhibition wie auch Oxidationsschäden überhandnehmen. Dennoch rätselt unser Redakteur noch immer, wie der Blog-Autor letztlich darauf gekommen ist, in diesem Zusammenhang den starken Begriff der „nicht-physiologischen Bedingungen“ zu verwenden. Dass die Zellen auf diese Weise unter ziemlichen Stress geraten können — ja, das wäre vielleicht gerechtfertigt. Aber auch Stressreaktionen gehören ja zum ganz normalen physiologischen Repertoire.

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