Lynn Margulis: Nachruf und Interview

24. November 2011 von Laborjournal

Vorgestern starb 73-jährig Lynn Margulis, eine der ganz großen Biologinnen unserer Zeit. Man sollte Begriffe wie „visionär“ oder „revolutionär“ in der Forschung nur sehr vorsichtig verwenden, aber bei ihr sind sie sicher angebracht. Zu wild, zu abstrus waren seinerzeit dem wissenschaftlichen Establishment die Ideen der jungen Forscherin zum bakteriellen Ursprung von Zellorganellen wie Mitochondrien und Plastiden. Entsprechend wurde ihr Pionieraufsatz »On the origin of mitosing cells« laut eigener Aussage von 15 Journals abgelehnt, bevor er schließlich doch noch im J. Theor. Biol. (Bd. 14(3):255-74) erschien (damals geschrieben unter „Lynn Sagan“, nach dem Nachnamen ihres Mannes Carl Sagan). Heute gilt das theoretische Paper als der geniale Startschuss zur Entwicklung der Endosymbiontentheorie, die ja nachfolgend auch experimentell klar bestätigt wurde.

Lynn Margulis sorgte zeitlebens mit ihren wilden intellektuellen Vorstößen für Verstörung in der Forscherwelt. So formulierte sie unter anderem mit dem Briten James Lovelock die Gaia-Hypothese, die die Erde samt ihrer gesamten Biosphäre als ein Lebewesen zu betrachten versucht. Und auch in ihren letzten Jahren blieb Lynn Margulis ihrem Ruf als wilde, kontroverse, zuweilen auch schräge Denkerin mit äußerst starkem Ego treu. Das letzte Beispiel sollte ein Interview im Discover Magazine aus dem letzten Sommer bieten, in dem sie unter anderem die moderne Evolutionstheorie scharf abkanzelte sowie HIV als Ursache für AIDS verneinte (stattdessen sei AIDS nichts anderes als eine Form von Syphillis).

Klar, dass die Person Lynn Margulis daher bis zuletzt sehr kontrovers diskutiert wurde (siehe etwa hier). Selbst einmal gefragt „Do you ever get tired of being called controversial?“, antwortete sie:

I don’t consider my ideas controversial. I consider them right.

Richtig waren sie sicher nicht immer — aber das ist durchaus normal in der Wissenschaft. Andere große Köpfe haben neben ihren echten Pioniertaten bisweilen noch größeren Schrott produziert als Lynn Margulies, siehe etwa Isaac Newton oder Linus Pauling. Dennoch werden sie heute zu Recht für ihre „wahren“ Erkenntnisse gefeiert.

So wollen wir es auch mit Lynn Margulis halten und wiederholen daher an dieser Stelle als eine Art Nachruf ein Interview, das wir mit ihr im Jahr 2002 am Rande der Verleihung des Humboldt-Preises geführt hatten (Laborjournal 9/2002, S. 24). Unserer Meinung nach kommt darin sehr gut zum Ausdruck, wie Lynn Margulis wissenschaftlich (positiv) tickte — und welche Art Denkerin die Forschung mit ihr verloren hat.

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Ein Gespräch mit Lynn Margulis

„Keine Ahnung von der Vielfalt des Lebens“

Wenn Zeitreisen möglich wären — in welchem Abschnitt der Erdgeschichte würden Sie gerne forschen?

Margulis: Im späten oder mittleren Proterozoikum. Ich müsste aber erst einmal überlegen, wann genau … vermutlich vor 1,2 Milliarden Jahren oder kurz davor. Und zwar, weil wir gute Belege dafür haben, dass eukaryotische Zellen damals schon entstanden waren. Und deswegen würde ich gerne sehen, wie das Proterozoikum war, welche Umweltbedingungen herrschten und welche evolutionären Trends.

Welche Unklarheiten über die Entstehung eukaryotischer Zellen würden Sie bei dieser Gelegenheit gerne ausräumen?

Margulis: Es gibt vier entscheidende Aspekte zur Entstehung kernhaltiger Zellen, drei davon wurden bewiesen. [Anm. d. Red.: Die meisten Kollegen stimmen mit Lynn Margulis überein, dass die eukaryotische Zelle aus der symbiotischen Verschmelzung eines Archaebakteriums mit einem oder mehreren Eubakterien entstand. Der Nukleus entwickelte sich demnach in der „chimären“ Zelle aus den fusionierten Genomen; deren Nachfahren dienten dann als Wirtszellen für die endosymbiontische Entstehung von Mitochondrien und Plastiden. Nachzulesen u. a. in ihrem neuesten Buch „Acquiring Genomes: A Theory of the Origin of Species“, Basic Books 2002]. Wir arbeiten am vierten: die Entstehung von Cilien — und das wäre die Antwort auf die Frage. Wobei ich trotz allem denke, dass wir eher etwas mit den Techniken beweisen können, die wir heute haben, als alleine dadurch, dass wir plötzlich etwas beobachten können.

Ihre Hypothese ist, dass eukaryotische Cilien durch Aufnahme von einst freilebenden, beweglichen Spirochäten entstanden sind. Welche Hinweise finden sie darauf, beispielsweise im Darm von in Bernstein konservierten Termiten?

Margulis: Im Bernstein haben wir unglaublich gut erhaltene mikrobielle Gemeinschaften. Und wir finden immer wieder kernassoziierte Verbindungen an der Basis von Cilien — eine Struktur, die Karyomastigont genannt wird. Der Kern und der „Konnektor“. Die Verbindung ist so stark, dass sie sich im Fossil über 20 Millionen Jahre gehalten hat. Zudem sehen wir Sporen von den Bazillen, die in Termiten leben, und auch Spirochäten. Aber das alles ist natürlich schon ein sehr später Zeitpunkt, diese Dinge haben sich schon viel früher entwickelt. Dass sie ausgerechnet aus dieser Zeit so gut erhalten sind, ist Zufall.

Ähneln diese Lebensgemeinschaften denen heute lebender Termiten?

Margulis: Sie sind eigentlich nicht unterscheidbar. Allerdings sind diese Termiten heute auf den Norden Australiens beschränkt, wahrscheinlich waren sie bis zur Kreidezeit viel weiter verbreitet. Warum aber interessiert uns das — außer, dass sie so gut erhalten sind? Es sind sehr große Termiten, sie ähneln Schaben, die zu den primitivsten Insekten gehören. Sie legen ihre Eier in Paketen ab, wie Schaben es tun, der Rest der Termiten aber nicht. Nun, alles interessant für die Evolution der Termiten, aber nicht für das, was uns interessiert …

…nämlich die Evolution eukaryotischer Zellen…

Margulis: …Richtig. Und da interessiert uns, was wir in den Termiten beobachten. Da gibt es einen Organismus namens Mixotricha paradoxa. Das einzige Habitat auf der Welt für diesen Organismus ist der Enddarm dieser speziellen Termitenart, Mastotermes darwiniensis. Die australische Forscherin, die ihn 1930 entdeckte, schrieb, es handele sich „um die einzige der Biologie bekannte Zelle, die Flagellen und Cilien auf ein und der selben Zelle hat“. Das war falsch, aber sie konnte es damals nicht wissen. In den 50er, 60er und 70er Jahren wurde mit der Elektronenmikroskopie gezeigt, dass das, was wie Flagellen und Cilien aussah, in Wirklichkeit zwei Arten von Spirochäten waren. Etwa 250.000 Spirochäten bewegen den Organismus, eine Bewegungssymbiose. Bevor die Zelle sich teilt, vermehren sie sich auf 500.000, so ähnlich wie bei Trichomonas vaginalis. Mixotricha paradoxa ist aber hundertmal größer und schneller, weil es diese symbiotischen Spirochäten erworben hat. Und gleich nebenan, in derselben Präparation, findet man einen anderen Organismus, einen Hypermastigot, einen typischen Protisten. Wenn Sie kein Spezialist sind, können Sie die beiden nicht auseinander halten.

Wir haben ein Paper geschrieben, es heißt „Drei plus Zwei gleich Eins“ — die Arithmetik in der Biologie unterscheidet sich von der Arithmetik in der Mathematik: Wir haben Mixotricha mit seinen endosymbiontischen Bakterien, den ektosymbiontischen gramnegativen Stäbchenbakterien plus zwei Arten von Spirochäten: das macht nicht fünf, sondern eins — einen Organismus. Bei Mixotricha wissen wir, dass uns fünf Organismen vorliegen. Und bei dem anderen, dem Hypermastigot, denke ich, haben wir mindestens drei. Meine Meinung ist, dass Eukaryoten — und zwar alle Eukaryoten — sich nicht alleine durch Diversifikation entwickelt haben. Ja, natürlich, das kommt auch vor. Aber wichtig sind die Anastomosen, die Querverbindungen.

Welches war Ihre aufregendste Entdeckung in diesem Zusammenhang?

Margulis: Das ist unmöglich zu sagen. In der Wissenschaft tut man niemals etwas ohne Vorgänger. Gestern etwa im Würzburger Biozentrum haben sie uns diese fantastischen Ameisen gezeigt. Im Ei der Königin füllt ein bestimmtes Bakterium das ganze Zytoplasma aus; man kann beides nicht voneinander trennen. Warum ich das erzähle: Paul Buchner schrieb 1955 oder 56 ein Buch, es heißt — und ich werde das jetzt schrecklich falsch aussprechen — „Endosymbiose (von) Tier(en) mit pflanzlichen Mikroorganismen“. Die Leute gestern haben gesagt, dass sie immer noch versuchen, ihre Techniken so gut zu machen wie damals Buchner. Buchner hat seinerzeit die gleichen Ameisen studiert und Dinge gesehen, nach denen die Würzburger jetzt suchen, aber nicht finden können. Zum Beispiel, wie die Bakterien vom Gewebe zum Ei schwimmen. Und auch wenn sie es bisher nicht gesehen haben, glauben sie, dass Buchners Beschreibung korrekt ist, denn alles übrige sehen sie auch. Und das ist mein Punkt: Sie fragen mich: „Was haben Sie gemacht?“ Ich finde — nichts. Es beruhte alles auf Vorgängern.

Ein Beispiel dafür ist Ihre Endosymbiontenhypothese. Überlegungen in diese Richtung gab es bereits Anfang des letzten Jahrhunderts, konnten sich aber nicht durchsetzen. Auch Ihr erstes Paper zur Herkunft eukaryotischer Zellen wurde von 15 Journals abgelehnt. Woran liegt es, dass neue Ideen es in der Wissenschaft oft so schwer haben?

Margulis: Mein erstes Paper wurde abgelehnt und ging verloren. Es ging wirklich verloren. Zum großen Teil, weil die Editoren und Gutachter nur das sehen können, was genau in ihr Format passt. Und wenn es in Form und Inhalt eben nicht passt, dann sehen sie es nicht einmal. Sie legen es auf ihren Schreibtisch und vergessen es. Das Problem ist, wenn Sie versuchen, etwas wirklich Neues zu sagen, dann müssen sie es mit Worten sagen, die alt sind. Das ist sehr schwierig. Wenn Sie es in den alten Worten sagen, dann heißt es: „Was ist daran neu?“ Wenn Sie neue Worte finden, etwa Neologien machen, dann heißt es: „Was ist das für ein Unsinn?“ Es wird nicht verstanden.

Wie entsteht dann überhaupt so etwas wie Erkenntnisfortschritt?

Margulis: Es gab einen fantastischen polnischen Juden, Ludwik Fleck. Er hat auf deutsch ein Buch geschrieben, „Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“. Thomas Kuhn etwa, der später eine Art Standardwerk über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen schrieb, kannte es. Und er hat zugegeben, dass er die meisten seiner Ideen von Fleck hat. Meiner Meinung nach hat er alle Ideen von ihm. Fleck zeigt beispielsweise auf, dass jeder Wissenschaftler innerhalb seines Denk-Kollektivs arbeitet. Er zeigt, dass kontroverse Dinge vor allem dort Schlachten verursachen, wo Denkstile lange sehr ähnlich waren. Wie bei Bruderkriegen.

Als ich Studentin war, studierten beispielsweise die Botaniker Euglena als Grünalge, die Zoologen als mastigoten Protozoen. Sie klassifizierten ein und denselben Organismus einmal im Pflanzen- und einmal im Tierreich, bis hinunter zur Art, Euglena gracilis. Glauben Sie, das wäre toleriert worden, wenn es sich um eine Maispflanze oder ein irgendein höheres Tier gehandelt hätte? Natürlich nicht. Der Grund, warum sie das machen konnten, war, dass niemand verstanden hat, was sie machen. Weil die Zoologen nicht mit den Botanikern sprechen und umgekehrt. Der Grund ist die soziale Trennung.

Zum Paradigmenwechsel kommt es, wenn mehr und mehr Daten akkumulieren. Und in diesem Fall sieht die Klassifizierung absurd aus. Sie ist bizarr. Sie hat nichts mit der Wissenschaft zu tun, nur mit der sozialen Organisation der Wissenschaftler. Wenn man dann beginnt, die Wissenschaft anzuschauen und nicht die Leute und das Soziale — dann fällt das Gebäude auseinander.

In der Regel muss man dazu warten, bis jemand stirbt. Ich erinnere mich daran, als wir in Boston Plattentektonik unterrichteten. Die Senior Members der Fakultät hassten Plattentektonik. Sie fanden, es gibt keine Beweise dafür, sie hatten andere lächerliche Ideen. Ehe sie starben, war jedoch niemand in der Lage, wirklich Plattentektonik zu unterrichten. Es gibt nur wenige Beispiele dafür, dass die alten Leute ihre Meinung ändern. Es gibt ein paar Ausnahmen, aber in der Regel sind es nicht die alten Leute, die die großen Beiträge leisten.

Sie selbst waren erfolgreich, weil sie etablierte Konzepte in Frage gestellt haben. Einige Kollegen werfen Ihnen allerdings vor, nur das zu sehen, was Sie sehen wollen. Stellen Sie auch manchmal Ihre eigenen Ideen in Frage?

Margulis: Sie werfen mir vor Daten auszuwählen, ja. Nun, meine Ideen basieren vor allem auf Evidenzen. Und auf Leuten wie Buchner, Kirby, Mereschkowsky und Leidy, die allesamt Wissenschaft betrieben haben. Sicher, anhand von Beobachtung, aber sie taten es ohne jegliches kommerzielles Interesse. Die Idee von Wissenschaft war zu ihrer Zeit, etwas über die Welt zu lernen — nicht, eine bessere Mausefalle zu machen oder so etwas. Also traue ich ihren Beobachtungen.

Wenn man heute ein Paper anschaut, hat es manchmal 14 oder 15 Autoren, und es ist nur ein richtiger Wissenschaftler darunter. Oder zwei. Der Rest sind Techniker, Studenten oder potenzielle Wissenschaftler. Ich sehe mir also die Beobachtungen dieser alten Leute an — und man kann das verfolgen: Sie sind wie große Künstler, wie Picasso oder Bach; sie haben Ideen, denen sie folgen. Und das ist es, was ich bei ihnen vor allem heraushole. Wenn die Daten dann noch sehr solide sind, dann gibt es keinen Grund die Ideen in Frage zu stellen. Ich halte mich so eng wie möglich an die Daten.

Im Fall von centriolärer DNA gab es Daten auf beiden Seiten. Eine Arbeitsgruppe hat DNA im Centriol gefunden, was für eine symbiontische Herkunft sprechen würde — andere konnten dies nicht bestätigen.

Margulis: Es gab Daten auf beiden Seiten, stimmt. Da war es natürlich schwierig, sich an die Daten zu halten. Ich denke aber, das ist gelöst: In Chlamydomonas, wo wir die besten Daten haben, gibt es hochspezifische DNA mit Genen für Motilitätsproteine, und diese Struktur liegt sehr nahe am Centriol. Aber sie ist unter der Kernmembran. Sie sehen also, beide Seiten hatten recht. Die Leute, die sagten, es gäbe centrioläre DNA im Centriol, hatten sich im Ort geirrt: Sie ist nicht im Centriol, sie ist innerhalb der Kernmembran, direkt am Centriol. Diese Verbindung ist aber sehr stark. Also haben die Leute recht, die sagen, sie ist im Kern. Die Leute jedoch, die sagen, es gäbe eine spezifische DNA, die mit dem Centriol assoziiert ist, haben auch recht. Sie ist zwar nicht im Centriol, die Kernmembran ist dazwischen, aber dieses Stück des Kerns klebt am Centriol.

Werden heutige Sequenziertechniken und die Analyse immer neuer Genome zu neuen Interpretationen der Evolution führen?

Margulis: Nun, das ist schon passiert, klar. Ich meine, auf der genetischen Ebene ist die Idee der Rekombination offensichtlich. Zur Rekonstruktion insbesondere der weiter zurückliegenden Vergangenheit ist die DNA selbst allerdings viel weniger wertvoll als die Proteine. Wenn man Sequenzvergleiche machen will, sind vollständig sequenzierte Proteine sehr gut — besser als Fragmente. Vollständig sequenzierte Proteine wiederum sind schlechter als alle Proteine im Körper. Ich interessiere mich nicht für die Evolution eines Gens, ich interessiere mich für die Evolution von Organismen, und Organismen bestehen aus einer Vielzahl von Genen.

Wie auch immer, ich denke, dass die Proteinsequenzen, die jetzt erstellt werden, die meisten großen Probleme der Evolution lösen werden. Und besonders das Problem, an dem wir interessiert sind, nämlich die Entstehung der Cilien. Es wird gelöst werden. Aber nicht durch die Sequenzierung von Genen, sondern anhand der Proteine: Und zwar derjenigen, die an der Mitose beteiligt sind, anhand der Motilitätsproteine, wie auch der Proteine, die Spannungssensitivität und sensorische Aktivitäten vermitteln. Teile dieser Proteine werden konserviert sein — wahrscheinlich kleine Teile, aber solche, die miteinander interagieren müssen. Diese werden prokaryotische Vorläufer haben; ich hoffe, dass man das noch sehen kann.

Meine Hypothese ist, dass die funktionellen Proteine in den Cilien und im Mitoseapparat, die ja konservierte Proteine sein müssen, da sie seit der Enstehung des Lebens funktionieren mussten — dass diese Proteine enger mit bestimmten Spirochäten verwandt sind als mit Cyanobakterien, E. coli oder irgendeinem anderen Bakterium. Ich bin überzeugt, dass dies gezeigt werden wird. Mit diesen Techniken. Wir selbst haben gerade ein Paper fertiggestellt, es heißt „Motilitätsproteine und die Entstehung des Zellkerns“, in dem wir das sehr klar und präzise sagen und in dem wir eine Übersicht über die bisher sequenzierten Motilitätsproteine aufstellen.

Das Konzept wird sich als falsch oder richtig erweisen. Es ist mir egal, ob falsch oder richtig, obwohl ich natürlich gerne recht hätte. Aber es ist mir egal, solange es nur gezeigt wird. Und ohne Zweifel erlauben diese Techniken einen großartigen Einblick in diese Phänomene.

Und noch eine Sache dürfte damit klar werden: Es gibt nur eine Form von Leben auf der Erde. Es gibt natürlich ein paar Variationen, da hatte Darwin recht, aber es ist eine Form.

Bieten auch Mikrobenmatten, eine Möglichkeit, in die Vergangenheit des Lebens zu reisen?

Margulis: Ja. Das Wunderbare an diesen Matten ist, dass sie noch heute an der Küste die stabilsten und langlebigsten Gesellschaften sind. Sie entwickeln sich extrem extensiv. Eine dieser Matten an der Nordostküste von Amerika beginnt in Halifax, Neuschottland, und reicht bis nach South Carolina. Mittlerweile natürlich mit Unterbrechungen, zum Beispiel bei New York City. Aber grundsätzlich ist die Gemeinschaft da. Eine andere, die wir untersuchen, liegt zwischen Barcelona und Valencia. Wieder eine andere, sehr bemerkenswerte reicht von San Diego hinunter nach Baja California. Sie können vier bis fünf Stunden mit dem Auto fahren und den ganzen Weg über Mikrobenmatten neben sich haben. Man findet sie, indem man nach diesen kommerziellen Salzwerken Ausschau hält. Denn unter diesen Bedingungen fällt Salz aus, und das wird abgebaut.

Etwa 1977 haben wir angefangen zu charakterisieren, was in einem Würfel von einem Kubikmillimeter aus solch einer Matte drin ist. Wir haben heute eine Liste von etwa 200 Organismen. Der einzige Grund dafür, dass diese in dieser Liste sind, ist der, dass sie Austrocknung überstehen, und wir Bedingungen gefunden haben, unter denen sie wachsen können. Also müssen die 200 Organismen, über die wir hier sprechen, nur ein winziger Teil dessen sein, was wirklich darin steckt.

Das Konzept ist Community Potential. Sie haben eine kleine Gemeinschaft, und einige, aber nur wenige Organismen sieht man recht einfach. Manche, die als Sporen existieren, kann man herauslocken, indem man ihre Bedingungen findet. Dennoch haben wir folglich nicht einmal diesen Kubikmillimeter komplett charakterisiert.

Und dann sehen Sie die Matten selbst, nur mit den Augen. Niemand hat sie bisher untersucht. Wir sprechen hier über das „Große Unbekannte“. Es ist mikrobiell, aber es ist das „Große Unbekannte“. Und dann fangen Leute an mir Sachen zu erzählen wie „Eukaryoten haben Mitochondrien“, weil sie Mitochondriengene im Kern finden. Sie wissen nicht, was da draußen ist. Sie haben keine Ahnung von der Vielfalt des Lebens. Sie glauben, weil etwas in E. coli ist, wissen sie etwas darüber.

Interessiert Sie vor allem die Vielfalt oder hoffen Sie, in den Matten weitere Aufschlüsse über die Evolution von Zellen zu finden?

Margulis: Die Antwort auf Ihre letzte Frage ist: Ja. Es ist sehr einfach: Ich habe beschlossen, dass es keine wirklichen Missing Links gibt. Sie wissen, das ganze Linien ausgestorben sein sollen. Jemand hat letzte Woche ein Paper veröffentlicht, in dem er sagt, es gab eine Linie von Lebewesen auf der Erde, die die Motilitätsproteine hatte — alle ausgestorben. Nun, ich lehne es kategorisch ab, dass irgendeine große Gruppe, die etwas Wichtiges mit der Geschichte des Lebens zu tun hatte, ausgestorben sein soll. Es ist alles da draußen; die Leute wissen nichts darüber. Und in diesem Sinne betrachte ich die Vielfalt — auf der Suche nach Vorgängern, nach vorangegangen Schritten.

Wie eukaryotische Zellen entstanden sind, ist möglicherweise einfach interessant zu wissen. Zellsymbiosen und -parasitismus haben aber durchaus auch praktische Bedeutung, zum Beispiel in der Medizin. Müssen Sie Ihre Forschung mit solch einem potenziellem Nutzen begründen, um Fördergelder zu erhalten?

Margulis: Das tue ich nicht, und deswegen habe ich wohl auch kein Geld. Ich mache keine Kompromisse. Vor allem versuche ich nicht, Leben zu retten. Die Bevölkerungsexplosion auf der Erde gefällt mir nicht. Ich sage lediglich, was ich tue — nämlich die Theorie der Entstehung eukaryotischer Zellen testen. Die einzige Förderorganisation, die wirklich Geld hat und uns geholfen hat, ist die NASA. Die NASA ist fantastisch. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die eine Menge Geld haben. Ich hatte auch nie Postdocs. Vielleicht werde ich deswegen nicht ernst genommen. Weil ich nicht zu den Leuten gehöre, die eine Menge Geld haben.

(Das Interview führte damals Christine Kost)

 

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Lynn Margulis

Lynn Margulis, Jahrgang 1938, hat in der Biologie mehr als einmal mit ungewöhnlichen Ideen für Aufsehen gesorgt. Stets hat die gelernte Genetikerin bezweifelt, dass zufällige Mutationen allein in der Lage sind neue Arten hervorzubringen — und stattdessen die Bedeutung von Zellverschmelzungen und Symbiosen für den evolutionären Fortschritt betont. Die von ihr entwickelte Endosymbionten-Hypothese zur Entstehung von Chloroplasten und Mitochondrien ist mittlerweile in jedem neueren Biologiebuch nachzulesen. Überlegungen zur endosymbiontischen Herkunft von Zellorganellen gab es allerdings bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts. Margulis konnte ältere Beobachtungen mit neueren experimentellen Befunden in Verbindung bringen — und nicht zuletzt ihre Erkenntnisse gegen etablierte wissenschaftliche Vorstellungen durchsetzen.

Während die Endosymbiontentheorie heute kaum noch jemand ernsthaft bezweifelt, ging Margulis‘ Engagement für die GAIA-Hypothese des britischen Atmosphärenchemikers James Lovelock vielen Fachkollegen doch zu weit. Lovelock beschreibt darin die Erde als selbstregulierendes System, das genau die (zum Teil energetisch sehr unwahrscheinlichen) Bedingungen aufrecht erhält, unter denen Leben möglich ist. Seine Metapher von der Erde als „lebender Organimus“ hat Margulis selbst allerdings vermieden. Als Wissenschaftlerin hat sie es bedauert, dass die GAIA-Hypothese vor allem von Esoterikern begeistert aufgenommen wurde, während Kollegen überwiegend ablehnend reagierten.

Margulis studierte Genetik, weil ihr Genetik als der beste wissenschaftliche Zugang zur Evolution erschien. Enttäuscht musste sie jedoch feststellen, dass ihre Kollegen sich keineswegs für die Geschichte des Lebens auf der Erde interessierten, sondern vor allem dafür, „bessere Tomaten zu machen“, wie sie es ausdrückt. Am wohlsten fühlt sie sich heute unter Geologen, „den einzigen, die sich noch mit der Umwelt beschäftigen“. Ihr eigenes wissenschaftliches Interesse und ihre Begeisterung gelten vor allem den Kleinstlebewesen der Erde, den oft missachteten Protisten und Bakterien.

Seit 1988 lehrt und forscht Lynn Margulis an der University of Massachussetts in Amherst, mittlerweile als Distinguished Professor. Sie ist Autorin einer Reihe auch populärwissenschaftlicher Bücher (A Symbiotic Planet, What is Life?, What is Sex?) und erhielt 1999 nicht zuletzt für ihre „außerordentlichen Fähigkeiten, Wissenschaft zu vermitteln und in der Öffentlichkeit zu kommunizieren“ von Bill Clinton die National Medal of Science.

Eine große Bestätigung für Lynn Margulis steht aber noch aus: Die von ihr seit langem postulierte symbiontische Entstehung der eukaryotischen Cilien konnte bisher nicht bewiesen werden. Einige Kollegen haben ihr bereits geraten, aufzugeben. Doch genau das wird sie heute, angesichts neuer Methoden und Möglichkeiten, wohl weniger tun denn je.

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