Evolution als Entrümpler

27. Januar 2011 von Laborjournal

Blog-Kollege Sebastian Reusch von Enkapsis fordert in seinem jüngsten Post seine Leser auf, in den Kommentaren „Evolution“ zu definieren. Wie so oft bei diesem Thema, quillt  sofort jede Menge Unsinn hervor.

Zum Beispiel wird das verbreitete Missverständnis weiter gepflegt, Evolution ziele gerichtet auf immer höhere Komplexität. Einer der Kommentatoren schreibt etwa:

Evolution bezieht sich auf die Pflanzen- und Tierwelt und bedeutet „Entwicklung“, geht aber auch darüber hinaus. Es ist auf der einen Seite das Herausbilden komplexer Organismen aus weniger komplexen gemeint, aber auch die Anpassung an äußere Zwänge und Gegebenheiten.

Oder, gerade mal drei Kommentare weiter, stellt ein anderer einfach, knapp (und falsch) fest:

Entwicklung vom Einfachen zum Höheren.

Dieser anthropozentrisch geprägte Irrglaube, dass Evolution ein Ziel verfolge, scheint einfach nicht auszurotten.

Bleiben wir ruhig beim Beispiel der Komplexität. Dass die Evolution mit der Zeit vermeintlich immer komplexere Organismen hervorgebracht hat, liegt ausschließlich daran, dass sie bis heute eben deutlich mehr Zeit hatte, in der belebten Welt herumzuschustern, als bis vor 1 Million oder 100.000 Jahren. Und dabei kam — da ja mit zunehmender Zeit auch die Wahrscheinlichkeit steigt — zufällig hin und wieder ein etwas komplexeres Wesen heraus, das zugleich ein wenig besser mit seiner Umwelt zurechtkam als viele Zeitgenossen.

Der Witz bei der Sache ist allerdings, dass, wenn überhaupt, eher der gegenteilige Trend zu beobachten ist — nämlich der zur Reduktion. Will heißen, die Evolution versucht stetig und gnadenlos Überflüssiges herauszuselektieren (und dabei Komplexität zu reduzieren) — sofern es dem Fortpflanzungserfolg nicht schadet.

Bereits vor Jahren beschrieben wir dieses Phänomen in dem kleinen Laborjournal-Essay „Die Regel von der Ausnahme„. Als Paradebeispiel diente hierbei Encephalitozoon cuniculi — ein eukaryotischer Einzeller, der im Laufe der Evolution nachgewiesenermaßen sein Genom auf minimale 2,9 Kilobasen abspeckte und dabei auch ganze Organellen einfach „herausschmiss“ (Nature 414: 450-3). Das Fazit damals:

Von wegen also, seit Äonen primitiv geblieben — die „Schlankheitskur“ ist das Ergebnis erst kürzlich passierter Anpassungen. Und prompt fällt einem das weit verbreitete Missverständnis ein, dass die Evolution stets auf höhere Komplexität ziele. Wie schön entlarvt Cuniculi diesen Quatsch, indem es offenbar nach völlig anderem Motto zu dem wurde, was es ist — nämlich: Sobald es geht, schmeiße ich Gene und Organellen ab. Ein herrliches Beispiel dafür, dass Evolution auf gar nichts zielt, sondern lediglich Populationen an ihre gegenwärtige Umwelt anpasst. Ganz und gar opportunistisch. Und wenn die neue Umgebung sogar komplexe Strukturen wie Mitochondrien überflüssig macht — weg damit!

Dies ist beileibe kein Einzelfall. Ein weiteres Beispiel für einen massiven Genomabbau bietet der Lepraerreger Mycobacterium leprae (Nature 409: 1007-11).

Und auch wir selbst sind von diesem starken Evolutionsprinzip „Use it or lose it“ nicht verschont. Man denke nur an die Schwänze, die wir nicht mehr brauchen — und nicht mehr haben. Doch auch im Moment geht unsere „Entrümpelung“ weiter voran. Die Gallenblase ist beispielsweise als Organ klar auf dem Rückzug. Und wie die aus Lab Times wohlbekannte „Eule“ bereits vor zwei Jahren in ihrem Essay „Goodbye, Genes!“  beschrieb, verlieren wir Menschen gerade gut 100 offenbar „überfüssige“ Gene (Am. J. Human Gen. 84(2): 224-34).

Noch schlimmer scheint es indes — sehr zum Leidwesen der „Eule“ selbst — die Vögel zu treffen. Allein der Titel des Papers „Mol. Biol. Evol. 25(12): 2681-8“ spricht Bände: „Genome Size Reduction in the Chicken Has Involved Massive Loss of Ancestral Protein-Coding Genes“.

Also, ob Einzeller oder Homo sapiens: Der Evolution scheint demnach Komplexität nicht mehr als ein notwendiges Übel, das sie sofort reduziert, wenn die Selektionsbedingungen ihr die Chance dazu bieten. Zumindest was Genome und Zellbiologie bis hin zu den Bauplänen der Organismen angeht.

Aber vielleicht meinen die oben erwähnten „Pro Komplexitäts“-Kommentatoren mit dem Begriff ja ganz was anderes…

Schlagworte: , , , , ,

4 Gedanken zu „Evolution als Entrümpler“

  1. Christian sagt:

    „Der Evolution scheint demnach Komplexität nicht mehr als ein notwendiges Übel, das sie sofort reduziert, wenn die Selektionsbedingungen ihr die Chance dazu bieten.“

    Die in einigen Bereichen zunehmende Komplexität dürfte damit zusammen hängen, dass viele Lebewesen gemäß der Red Queen Theory in einem Wettrennen miteinander standen und daher immer anspruchsvollere Lösungen brauchen. Gerade bei der Entwicklung einer gewissen „Grundintelligenz“ dürfte sich das ausgewirkt haben.

    Ansonsten kann komplexer auch einfach teurer bedeuten, was einen Nachteil bei der Anpassung bedeutet.
    Ein Beispiel ist vielleicht auch der Dodo, der die doch recht komplexe Flugfähigkeit abgegeben hat, weil er sie mangels Fressfeinden nicht mehr brauchte.

  2. Ralf Neumann sagt:

    Ansonsten kann komplexer auch einfach teurer bedeuten, was einen Nachteil bei der Anpassung bedeutet.

    Eben. Es sagte ja auch schon Stephen J. Gould:

    Complexity and persistence do not work well as partners.

    Daneben ist das Kernproblem, wie man „Komplexität“ messen und vergleichen soll. Um bei den flugunfähigen Vögeln zu bleiben: Der Pinguin hat die Komplexität „Fliegen können“ verloren und im Gegenzug die Komplexität „Tauchen wie ein Torpedo“ erworben — hat er jetzt netto an Kompexität zugelegt, oder eher umgekehrt?

    Und apropos Lab Times-„Eule“: Hierzu passt jetzt wieder dieser ihrer Aufsätze.

  3. Ralf Neumann sagt:

    Noch ein niegelnagelneues wunderschönes Beispiel für ‚Use it or lose it‘ in Aktion. Die australische Orchidee Rhizanthella gardneri ist womöglich die einzige höhere Pflanze, die ihr gesamtes Leben komplett unter der Erde verbringt. Photosynthese braucht sie daher nicht — und sie könnte sie auch gar nicht mehr, da ihre ‚Restchloroplasten‘ nur noch 37 Gene enthalten. Oder anders gesagt, 70 Prozent der Chloroplastengene hat die Evolution bereits ‚entrümpelt‘.

  4. Hans Trutnau sagt:

    Schöner Beitrag; versuche ich, seit Jahren zu ‚predigen‘.
    Teleologisch begründete Komplexitätssteigerung scheint in der Tat fast nicht auszurotten zu sein – ist sozusagen ‚gottgewollt’…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Captcha loading...