Aus dem Leben einer Horrorwespe

1. Juni 2022 von Laborjournal

Ob sich die Imago erinnert, wie sie sich aus ihrem Opfer nach draußen fraß? Wie sich der süße Moment anfühlte, als dessen Oberleib mit einem hässlich-dumpfen Plopp aufplatzte und sie Stück für Stück aus dem Kadaver hervorkrabbelte und ihren ersten tiefen Atemzug nahm?

Eher nicht. Und eine Rolle spielt es für sie auch nicht.

Denn jetzt sitzt sie im Halbdunkel zwischen morschem Holz und feuchtem Erdreich und wartet, lauert. Ohne eine Regung sondieren ihre Facettenaugen die sich in der tropischen Schwüle wiegenden Grashalme, nehmen die winzigste Bewegung wahr. Pollenkörner tanzen in den schmalen Streifen vereinzelter Lichtstrahlen, die bis nach hier unten durchdringen. Noch im Halbschatten glänzt ihr blau-grüner Körper gefährlich metallisch. Ihre sichelförmigen Mandibeln zucken.

 

 

Instinktiv reagiert sie. Als sich der schwere Schabenkörper an ihr vorbeischiebt, verbeißt sie sich mit ihren Kauwerkzeugen und bohrt die Spitze ihres Hinterleibs in den Thorax der Kakerlake – genau an die Stelle, wo sich deren Vorderbeine treffen. Die γ-Aminobuttersäure in ihrem Gift wirkt augenblicklich. Es lähmt die Motoneuronen des Brustganglions ihres Opfers. Zwar macht das die Schabe keineswegs wehrlos. Noch bleiben ihr zwei borstenbewerte Beinpaare zur Verteidigung. Doch ihre Vorderläufe hängen jetzt schlaff herunter. Ihren Kopf kann sie nicht länger schützen.   

Darauf hat die Imago gewartet. Sie krabbelt über den Chitinpanzer ihres zwei bis drei Mal größeren Gegners, dirigiert ihren nächsten Stich gnadenlos durch die weichen Häute an dessen Kopf und durchbohrt sein Protocerebrum. Auch das Dopamin ihres Giftcocktails verfehlt seine Wirkung nicht. Die Gegenwehr der Kakerlake erlischt und mit ihr jeglicher Fluchtreflex. Vom heftig kämpfenden Todfeind verwandelt sie sich in einen fügsamen Wirt – in eine lebendige Speisekammer.

Jetzt kann sich die Imago Zeit lassen. Sie packt erst eine, später die andere Antenne ihres Opfers, setzt ihre scharfkantigen Mandibeln an und beißt ruckartig zu. Mit einem Platschen landen die noch immer zuckenden Fühler auf der besudelten Erde unter ihr. Die Stumpen am Kopf der Schabe rammt sich die Imago wie Strohhalme zwischen ihre Kauwerkzeuge und beginnt, bläulich-weißen Lebenssaft Schluck für Schluck aus dem Körper der Schabe zu saugen.

Doch das Zombie-Insekt wird ihr für so viel mehr dienen. Erfrischt packt die Imago einen Antennenstummel mit ihren Mandibeln und kriecht langsam rückwärts, zerrt die willenlose Kakerlake hinter sich her und verschwindet im Halbdunkel verwesender Baumrinde. In der Mitte ihrer Nisthöhle legt sie dann ein einzelnes, winziges Ei. Sie klebt es an eines der mittleren Beine des geschundenen Schabenkörpers und verschließt schließlich mit herumliegenden Holzstückchen, Erdklumpen und Kieselsteinen den Eingang zur Grabkammer.

Was für ein grandioser Tag!

Schon bald wird eine schmächtige Larve schlüpfen, wird beginnen zu knabbern, wird sich durch eine Schwachstelle der Cuticula ins Innere der lebenden Schabe bohren, sich von ihren saftigen Eingeweiden ernähren, in ihr wachsen und sie gemächlich von innen aushöhlen. Ist die Kakerlake nach einer Woche leer gefressen, wird die herangewachsene Larve einen Kokon spinnen, sich verpuppen und einen Monat lang schlafen.

Sobald sie erwacht, durchbricht eine ausgewachsene Ampulex compressa – eine Juwelwespe aus der paraphyletischen Gruppe der Grabwespen – die vertrocknete Hülle einer Periplaneta americana – einer Amerikanischen Großschabe –, schiebt sich Stück für Stück aus deren Überbleibseln hervor und saugt ihren ersten tiefen Atemzug durch ihre Bruststigmen.

Henrik Müller/Laborjournal

 

(Der Text erschien als Editorial unseres letzten Laborjournal-NEWSLETTERS. Wer den NEWSLETTER samt solcher Editorials regelmäßig alle zwei Wochen per E-Mail zugeschickt bekommen möchte, klicke sich bitte hier entlang!)

 

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