Grüner Tee wirkt anders

10. November 2021 von Laborjournal

Immer wieder schön, wenn neue Ergebnisse vermeintlich lange etablierte Erkenntnisse mit einem Mal vom Kopf auf die Füße stellen.

Neues Beispiel: Die Mechanismen hinter den gesundheitsfördernden Wirkungen von Grünem Tee. Diese gelten in der Fachwelt als gesichert, seitdem mehrere klinische und epidemiologische Studien durchweg positive Effekte des Getränks bei erhöhtem Blutdruck oder Blutzucker sowie bei krankhafter Fettleibigkeit verzeichneten. Und auch die entscheidenden Inhaltsstoffe haben Ernährungsforscher schon lange im Visier: Die beiden Polyphenole Epigallocatechin-Gallat (EGCG) und Epicatechin-Gallat (ECG). Im Grünen Tee schwimmen zwar noch weitere solcher Katechine, aber diese beiden sind die häufigsten.

Besonders interessant wurden die beiden Katechine unter anderem, als man durch Zugabe von EGCG-reichen Grüntee-Extrakten ins Futter die gesunde Lebenspanne von Drosophila und auch Mäusen signifikant verlängern konnte. Bei Caenorhabditis erreichte man schließlich das Gleiche durch Beimischen von reinem EGCG in einer Konzentration von rund 200 μM.

Auch hier herrschte bald weitgehend Einigkeit über den Mechanismus, mit dem die Katechine den Alterungsprozess verzögern: Als starke Antioxidantien schützen sie die Zellen vor oxidativen Schäden, indem sie die hochreaktiven Sauerstoffradikale abfangen, die unter anderem beim Energiestoffwechsel in den Mitochondrien frei werden.

Kurz gesagt: Die Katechine aus dem Grünen Tee drosseln den oxidativen Stress in den Zellen. Dachte man. Denn eine Gruppe um Michael Ristow vom Departement Gesundheitswissenschaften der ETH Zürich und dem Institut für Ernährungsforschung der Uni Jena hat jetzt das genaue Gegenteil festgestellt: Die Katechine aus dem Grünen Tee fördern vielmehr den oxidativen Stress – wenigstens zeitweise. Im Abstract ihrer Veröffentlichung in Ageing (13(19): 22629-48) fassen sie ihre Erkenntnisse folgendermaßen zusammen:

Eine Konzentration von 2,5 μM EGCG und ECG erhöhte die Gesundheits- und Lebensspanne sowie die Stressresistenz in C. elegans. Die Katechine drosselten dabei nach 6 bis 12 Stunden die mitochondriale Atmung in C. elegans, ebenso die Aktivität von Komplex I in isolierten Maus-Mitochondrien. Die derart beeinträchtigte mitochondriale Atmung ging mit einem vorübergehenden Rückgang der ATP-Produktion sowie einem transienten Anstieg der Werte reaktiver Sauerstoffspezies (ROS) in C. elegans einher. Nach 24 Stunden waren die mitochondriale Atmung und die ATP-Werte wiederhergestellt, die ROS-Werte fielen sogar unter die Kontrollbedingungen. […] Als Langzeiteffekte verblieben ein deutlich verringerter Fettgehalt sowie erhöhte Aktivitäten der Enzyme Superoxid-Dismutase (SOD) und Catalase (CAT), die für die positiven Wirkungen der Katechine auf die Lebensspanne notwendig sind.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hemmung des Mitochondrien-Komplexes I durch EGCG und ECG einen vorübergehenden Abfall des zellulären ATP-Spiegels und einen vorübergehenden ROS-Ausbruch auslöste. […] Durch anschließende adaptive Reaktionen verringerten die Katechine schließlich den Fettgehalt, erhöhten den ROS-Schutz und erweiterten langfristig die Gesundheitsspanne.

Entgegen der bis dahin vorherrschenden Meinung erhöhen die Grüntee-Katechine also kurzfristig den oxidativen Stress, woraufhin die Zellen die Expression von Superoxid-Dismutase (SOD) und Catalase (CAT) hochfahren. Erst diese inaktivieren dann, quasi als körpereigene Antioxidantien, die freien Sauerstoffradikale – und verhelfen den Katechin-gefütterten Fadenwürmern damit zu einem längeren Leben und größerer Fitness.

Statt, wie bislang gemeint, selbst das Übel zu attackieren, verstärken die Katechine es folglich vielmehr noch, um damit die zelluläre „Abteilung Radikal-Attacke“ umso effektiver und nachhaltiger aus der Reserve zu locken.

Und wieder einmal hat sich damit gezeigt, dass man in der Forschung immer nochmal genauer nachschauen sollte – selbst wenn die meisten „die Angelegenheit“ schon lange für geklärt halten.

Ralf Neumann

(Foto: Pixabay)

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Ein Gedanke zu „Grüner Tee wirkt anders“

  1. Sven H. sagt:

    wirklich bemerkenswert, jedoch frage ich mich gerade als Laie, worin der Unterschied liegt, ob dieser Effekt von grünem Tee ausgelöst wird oder von anderen natürlichen Umweltfaktoren wie Entzündungen (durch Sport) oder andere Umweltgifte(natürlich vorkommende Schimmelpilzgifte, andere natürliche gifte aus pflanzlichen Lebensmitteln) , die ebenfalls diesen Effekt auslösen können ROS kurzfristig zu steigern, um damit die gesunde gegenreaktion auszulösen. Warum ist dieser Effekt beim trinken von grünem Tee so hervorzuheben, wo doch sogar ein zuviel an ROS, Zellen auch abtöten können?

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