„Wir simulieren ein Virus, das noch gar nicht existiert“

28. Oktober 2020 von Laborjournal

 

 

Gerade sind wir über ein Interview gestolpert, das wir in unserem Aprilheft 2009 publiziert hatten. Mitten in der zweiten Welle der aktuellen Corona-Pandemie wird einem schon ein wenig gruselig, wenn man es heute liest:

„Wir simulieren ein Virus, das noch gar nicht existiert“

 

In seiner Firma ExploSYS verbindet der Mathematiker Markus Schwehm Biologie und Medizin mit Statistik und Informatik. Heraus kam eine Simulations-Software, um Notfallszenarien wie eine Grippe-Pandemie realitätsnah durchspielen zu können.

Laborjournal: Die jüngste Grippewelle liegt gerade hinter uns. Wir leisten uns Überwachungsnetzwerke, unterhalten Gesundheitsämter und lesen ständig über viel versprechende Forschungsergebnisse. Dennoch können die Experten immer noch nicht vorhersagen, wie sich solche Epidemien verbreiten. Können Sie es?

Markus Schwehm: Die Vorhersage der alljährlich auftretenden Influenza-Epidemien ist in der Tat noch nicht möglich. Für dieses System fehlen uns nicht nur die Daten, es ist auch so kompliziert, dass wir mit unserer Software keine vernünftige Vorhersage leisten können. Stattdessen simulieren wir mit unserer Software das Auftreten einer Pandemie, also eines neuen Virustyps, gegen den in der Bevölkerung noch keine Immunität vorhanden ist und der sich weltweit verbreitet. Das macht das Modellieren einfacher als bei der saisonalen Grippe.

Was genau verkaufen Sie?

Schwehm: Ich mache im Vorfeld einer Epidemie Beratung für Gesundheitsämter. Dort will man zum Beispiel wissen, wie viele Arztbesuche im Ernstfall zu erwarten sind, wie viele Krankenhausbetten gebraucht werden, oder welche Mengen an Medikamenten vorrätig gehalten werden müssen. Zu den Kunden gehören aber auch Unternehmen, für die eine Pandemie existenzbedrohend sein kann. Hier geht es vorwiegend um Notfallmaßnahmen, um die Produktion im Ernstfall aufrecht zu erhalten.     

Woher aber weiß der Kunde, ob ihre Ratschläge und Vorhersagen zutreffen?

Schwehm: Bei der Influenza hatten wir im vergangen Jahrhundert drei Pandemien und unser Modell kann etwa die Spanische Grippe von 1918 ganz gut widerspiegeln.

Seitdem sind 90 Jahre vergangen, es hat sich vieles verändert…

Schwehm: …beispielsweise gibt es heute weniger Kinder, weil die Altersverteilung in der Bevölkerung sich geändert hat. Das Kommunikationsverhalten ist anders geworden, die medizinische Versorgung ist besser, die Mobilität viel größer. Schließlich müssen wir auch die Eigenschaften des Virus selbst simulieren, das aber noch gar nicht existiert.

Eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten?

Schwehm: Wir lösen das Problem, indem wir in unser Modell verschiedene Freiheitsgrade einbauen. Ausgehend von bestimmten Grundannahmen können wir dann die Auswirkungen unterschiedlicher Interventionsmaßnahmen miteinander vergleichen. Wir können also nicht sagen, wie viele Tote und Kranke die nächste Pandemie verursachen wird, aber wir können aus unserem Modell Empfehlungen ableiten, um den Schaden zu minimieren: Soll man die Schulen schließen? Wie verteilt man am besten einen begrenzten Vorrat von Medikamenten? Müssen wir die Grenzen dicht machen? Wofür sollten Gesundheitsämter das verfügbare Geld ausgeben, um die größte Wirkung zu erzielen?

Grundlage dieser Modellierungen ist die Software Influsim, die Sie gemeinsam mit Martin Eichner von der Universität Tübingen und Stefan Brockmann vom Gesundheitsamt Stuttgart entwickelt haben und die jeder frei im Internet herunter laden kann. Wie kann ExploSYS damit Geld verdienen?

Schwehm: Dazu muss man wissen, dass sich manche Gesundheitsämter noch vor kurzem mit Tabellenkalkulationen à la Excel behelfen mussten. Unsere Open-Source-Software ist dem gegenüber ein großer Fortschritt – sie hat uns bekannt gemacht. Unter der Oberfläche stecken mittlerweile etwa 3.000 Differentialgleichungen und dennoch ist Influsim einfach zu bedienen und für Fachleute gut nachzuvollziehen. Eben weil wir den Quellcode offen gelegt haben, konnten viele Augen darauf schauen und deshalb ist das Programm auch sicherer und weniger fehleranfällig. Heute verkaufen wir unsere Expertise im Umgang mit diesem Programm. Dazu gehören Beratung und Schulung ebenso wie massgeschneiderte und lokal angepasste Notfallszenarien unter Berücksichtigung beschränkter Ressourcen. Da wir die Software geschrieben haben, können wir solche Änderungen natürlich schneller und besser einarbeiten als andere.

Es gibt aber doch innerhalb der EU, von der Weltgesundheitsorganisation und auch in Deutschland, auf Ebene der Bundesländer bereits Pläne für die meisten Situationen. Wer zahlt da noch für ihre Expertise?

Schwehm: Ein großer Erfolg für ExploSYS war es, eine geschlossene Ausschreibung des Schweizer Bundesamts für  Gesundheit zu gewinnen. Die Schweizer hatten bereits einen Influenza-Pandemieplan, wollten aber ihre Vorsorgemaßnahmen optimieren und die Kompetenz ihrer Mitarbeiter bei der Modellierung von Epidemien verbessern. In Arbeitspaketen wie „Krankenhäuser“ oder „Prophylaxe mit antiviralen Medikamenten“ wurden dann jeweils einige der über 50 Stellgrößen von Influsim auf die Schweizer Verhältnisse abgestimmt und es entwickelte sich darüber hinaus eine rege Zusammenarbeit, bis hin zu gemeinsamen wissenschaftlichen Publikationen. Auch die südkoreanischen Centers for Disease Control nutzten Influsim im Rahmen einer Pandemieübung und ließen das deutsche Handbuch in die eigene Sprache übersetzen. Interesse gibt es auch in Neuseeland und Australien, da laufen gerade Gespräche.

Ist die mögliche Zahl der Kunden nicht begrenzt? Es gibt in den meisten Ländern nur eine zentrale Gesundheitsbehörde.

Schwehm: Wir schaffen und erweitern unseren Markt selbst. Auf Fachkonferenzen zur Modellierung komplexer System wird beispielsweise immer wieder beklagt, dass es keine Parametersensitivitäts-Analysen gebe. Sie können also ein System mit festen Vorgaben programmieren und erhalten ein valides Ergebnis für diesen einen Satz von Parametern. Wenn sie jedoch etwa für die Zahl der Menschen, die ein Virus durchschnittlich ansteckt, eine Bandbreite von Werten angeben wollen, brauchen sie zusätzlich zur Basissoftware diese Funktion der Parametersensitivitäts-Analyse – und diese Funktion kann ExploSYS für den Kunden implementieren und auf einem Parallelrechner laufen lassen. Auch, dass die aktuell kursierenden Viren zu einem guten Teil gegen die verfügbaren Arzneien resistent geworden sind, ist eine Entwicklung, die wir erfolgreich modellieren können: Wir konnten zeigen, dass diese Arzneien besser dosiert an Risikogruppen ausgegeben werden sollten, als sie unter der gesamten Bevölkerung zu verteilen.

Wieviel Umsatz macht ExploSYS?

Schwehm: Wir sind noch in einer schwierigen Anfangsphase, aber es reicht, um meine Existenz zu sichern. Das Potenzial ist groß, denn unsere Dienstleistungen ließen sich auch auf andere Krankheitserreger und Fragestellungen ausweiten. Im Auftrag einer Werbeagentur haben wir sogar schon die Ausbreitung von Gerüchten simuliert, denn die folgt ganz ähnlichen Gesetzmäßigkeiten wie eine Infektionskrankheit.

Haben sie keine Angst, durch die staatliche Forschungsförderung an die Wand gedrückt zu werden?

Schwehm: Die Universitäten sehe ich nicht als Konkurrenz. Es gibt im Gegenteil unterschiedliche Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Eine meiner Stärken ist es, als Vermittler zwischen der Wissenschaft und dem Public-Health-Sektor aufzutreten. Wir haben auch Fördermittel der EU und des Gesundheitsministeriums bekommen und wir publizieren unsere Erkenntnisse gemeinsam mit den Kollegen an den Universitäten und in den Gesundheitsämtern.

Wie wollen Sie als Einzelkämpfer gegen die internationale Konkurrenz bestehen?

Schwehm: Weltweit gibt es vielleicht 500, sicher weniger als 1000 Modellierer, die an Simulations-Szenarien arbeitenund nur ganz wenige Firmen, meist als Ausgründungen von Universitäten. Etwas anderes sind die Projekte, die in den USA im Rahmen der Terrorabwehr gefördert werden, die aber völlig andere Fragestellungen bearbeiten. Einige dieser Simulationen sind beeindruckend und ziehen zum Beispiel die aktuellen Busfahrpläne einer Großstadt heran, um die Ausbreitung von Viren zu errechnen. Aber dazu brauchen sie enorme Rechnerkapazitäten, die Ergebnisse lassen sich nicht auf andere Städte übertragen. Die Dokumentation ist schlecht, und weil kaum jemand den Quellcode dieser Programme versteht, lassen sich eventuelle Fehler nur schwer entdecken. Wir haben uns mit ExploSYS in der Marktlücke zwischen den allzu simplen und den allzu komplexen Simulationsprogrammen etabliert. Ich blicke optimistisch in die Zukunft.

Interview: Michael Simm

Illustr.: iStock / osman demir

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