Wenn Forscher zu viele Ideen haben

16. September 2020 von Laborjournal


Eigentlich müssten gute Forscher diese Zeiten hassen.

Warum das?

Fangen wir an mit der Frage, was einen guten Forscher generell ausmacht. Er sollte offene Probleme erkennen, die richtigen Fragen sowie plausible Hypothesen dazu formulieren — und insbesondere Ideen generieren, wie man die Fragen und Hypothesen auf elegante Weise lösen und prüfen könnte.

Das Dumme dabei ist: Jemand, der wirklich gut darin ist, wird viel mehr Ideen produzieren, als er tatsächlich in konkreten Projekten verfolgen und zur „Erkenntnisreife“ bringen kann. Das ist die Kehrseite der immer engeren, zugleich aber immer aufwendigeren Spezialisierung der letzten Jahrzehnte. (Nicht umsonst kursiert zu diesem Dilemma schon lange der Spruch: „Wir erfahren immer mehr über immer weniger — und das wiederum wird immer teurer.“)

Nehmen wir etwa den Max Perutz, den österreichisch-britischen Nobelpreisträger des Jahres 1962. Bekanntlich arbeitete er die allermeiste Zeit seines Forscherlebens ausschließlich — und sehr erfolgreich — an Hämoglobin. Glaubt jemand tatsächlich, dieser brillante Forscher hätte nur gute „Hämoglobin-Ideen“ gehabt? Sicher nicht. Die meisten hat er selbst jedoch nicht weiter verfolgen können, weil sein Hämoglobin-Projekt schon sämtliche finanziellen, technischen und personellen Ressourcen komplett beanspruchte.

Was blieb ihm also übrig? Einen Teil seines „Ideen-Überschusses“ wird Perutz womöglich Kollegen mitgeteilt haben, von denen einige wiederum eventuell die eine oder andere tatsächlich realisierten. Ein gehöriger Teil seiner guten Ideen wird ihm jedoch vielmehr wie Sand zwischen den Fingern zerronnen sein.

Und so dürfte es heute auch vielen anderen gehen. Schließlich ist heute allzu gut bekannt, dass nur ein Bruchteil aller interessanter Ideen am Ende tatsächlich in ein konkretes Forschungsprojekt münden. Der ganze Rest ist unter den Zwängen des aktuellen Systems „gerade einfach nicht realisierbar“.

Schade, wie viele überaus fruchtbare Körner da auskeimen könnten — aber dann doch unbemerkt vertrocknen.

 

(Übrigens sah der US-Physiker David Harris dies vor einigen Jahren offenbar ganz ähnlich, als er sagte: „Gute Wissenschaftler haben in der Regel viel mehr Ideen, als sie verwerten können. Es wäre besser, wenn sie diese mit anderen teilen könnten.“ Zu eben diesem Zweck gründete er damals das Journal of Brief Ideas. Sicher eine gute Idee, die allerdings bis heute leider auch nicht wirklich zur vollen Reife erblüht ist: Das Journal läuft immer noch als Beta-Version.)

Ralf Neumann

(Illustr.: iStock / efks)

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