„Die Unis werden politisch klein gehalten“

9. Juni 2021 von Laborjournal

(In unserem Heft 4/2021 schrieben wir unter „Inkubiert“ über den latenten Unwillen der Professorenschaft, am Wissenschaftssystem etwas zu verändern – obwohl sie es bis dahin meist selbst als schlimm und bedrückend erlebt hatten. Daraufhin erhielten wir die folgende Zuschrift, die wir hier anonymisiert und leicht gekürzt bringen, um deren Inhalt zur Diskussion zu stellen.)

 

“ […] Sie haben vollkommen recht. Sowohl das Verhalten der gestandenen Professoren wie auch insbesondere das der jungen, frisch berufenen ist mir ein Rätsel. Das Ausmaß an Gelangweiltheit auf der einen Seite und Desinteresse auf der anderen Seite ist schon phänomenal. Wenn man das Thema „kranke Wissenschaftsstrukturen“ anspricht oder gar eine Initiative dagegen starten will, scheuen nahezu alle zurück. Ich habe mehrfach versucht, gerade das Thema prekäre Finanzierung des Nachwuchses samt der damit verbundenen Qualitätsprobleme wie auch die inhärente Problematik von Drittmittel-Projekten bei komplexen Fragestellungen zum Gegenstand von Initiativen und Studien zu machen – stets umsonst und mit einem erkennbaren Desinteresse der Verantwortlichen.

Wettbewerb ist gut, ohne Zweifel. Aber befristete Verträge, verzögerte Übernahmen, Projektförderungen mit aufwändigen und ruinösen Anträgen sowie eine überforderte und auch korrupte Projektträger-Bürokratie können weder einen Beitrag dazu leisten, dass der Forschungsstandort Deutschland attraktiv und interessant wird, noch die berechtigten Anliegen der jüngeren Kollegen befriedigen.

In Anlehnung an die Wissenschaft gilt der berühmt-berüchtigte Spruch:

Denk ich an deutsche Forschung in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.

[…] Weder Exzellenzinitiativen noch hektische Förderaktivitäten können verhindern, dass die strukturellen Defizite an den Hochschulen zu immer größerer Verzagtheit und mangelnder Kreativität führen. Es wird das gemacht, was man glaubt, der Vorgaben wegen machen zu müssen. Fakultäten werden aufgelöst und zusammengelegt, bewährte Strukturen eingerissen. Dabei fehlt es uns zur Bewältigung der anstehenden Probleme an kreativen und motivierten Forschern, neuen Ideen und verlässlichen Besoldungsreformen. Nur, wer soll hierzu eine Initiative starten, wenn die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das nicht selbst in die Hand nehmen? Jedes Mal wenn ich das fragte, war die Verzagtheit kaum zu überbieten.

Es ist ein Drama, das sich an den Hochschulen abspielt. Und insgeheim ist es politisch gewollt. Bereits vor zwanzig Jahren teilgenommen, gab das BMBF – unter anderem in Sitzungen, an denen ich teilgenommen hatte –  die Strategie vor:

Die Hochschulen bilden aus – die Max-Planck-Institute (MPIs) forschen – die Fraunhofer-Gesellschaft (FHG) transferiert.

Und tatsächlich läuft es so in der Realität. Jeder Forscher, der etwas auf sich hält, soll schauen, dass er in ein MPI kommt – und wer technische Ambitionen hat, suche sich ein Institut der FHG. So ist das gewollt.

Um das jedoch zu vertuschen, jagt man die Universitäten von Wettbewerb zu Wettbewerb, von Antrag zu Antrag, von Umstrukturierung zu Umstrukturierung. Und hin und wieder gibt es wieder einen Prachtbau, aber kein Hochschulausbau-Programm, Großgeräte-Erneuerung-Programm, keine Laborsanierungen et cetera pp.

Hochschulen bilden also aus. Und – wie damals ein leitender Ministerialdirektor betonte – von Infra- und Besoldungsstruktur her seien sie ja auch zu nichts anderes zu gebrauchen. Das wisse er aus seiner Vorstandstätigkeit in diversen Großforschungs- und anderen Einrichtungen.

Ohne tiefgreifende Strukturreform wird sich hier nichts zum Besseren ändern. Allerdings scheint der Verfall politisch gewollt, denn selbstständige und emanzipierte Wissenschaftler sind schließlich gefährlich!“

 

Von Schiller lernen

10. November 2020 von Laborjournal

 

Heute vor 261 Jahren wurde Friedrich Schiller geboren. In jedem Jahr hält aus diesem Anlass eine ausgewählte Person des öffentlichen Lebens eine Schillerrede vor dem Deutschen Literaturarchiv in dessen Geburtsort Marbach am Neckar. Dass diesmal der Charité-Virologe Christian Drosten dazu eingeladen wurde, bezeichnete er selbst am Anfang seiner Rede als „ausgeprochen ungewöhnliche“ und auch „mutige“ Wahl. Um dann darzulegen, was der Geist von Schiller und seinen Werken der heutigen Wissenschaft im allgemeinen wie auch für den Umgang mit der aktuellen Corona-Pandemie im besonderen mitgeben könnte. Drostens gesamte Rede ist hier nachzulesen oder hier im Video zu sehen. Es lohnt sich!

Nun ist beileibe nicht ungewöhnlich, dass man sich gerade in Krisenzeiten an das eine oder andere „alte Genie“ erinnert – und verstärkt fragt: Was können wir von ihnen lernen? Und wie können wir womöglich deren Kreativität reproduzieren, beziehungsweise die Bedingungen, unter denen sie gedeihen konnte? Also haben wir uns auch mal kurz bei Schiller umgeschaut. Der war zwar vor allem Schriftsteller, aber immerhin wurde er mit 29 Professor und hatte bis zu seinem 26. Lebensjahr bereits „Die Räuber“, „Kabale und Liebe“ sowie „Don Carlos“ geschrieben — also quasi gleich drei Habilitationsschriften.

Hängengeblieben ist uns bei unserem kurzen Screening schließlich, wie Schiller 1789 in seiner Antrittsvorlesung als Geschichtsprofessor über den „Brotgelehrten“ wetterte, der seine Fähigkeiten lediglich dazu nutzt, die Vorgaben der Obrigkeit zu erfüllen — und ihn gegen den „philosophischen Kopf“ abgrenzte. Schiller formulierte das so:

 

[…] Jede Erweiterung seiner Brotwissenschaft beunruhigt ihn, weil sie ihm neue Arbeit zusendet, oder die vergangene unnütz macht; jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so mühsam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat über Reformatoren mehr geschrieben, als der Haufe der Brotgelehrten? Wer hält den Fortgang nützlicher Revolutionen im Reich des Wissens mehr auf, als ebendiese? Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es sei, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie verteidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein fechten. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehülfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher, als der Brotgelehrte. Diesen Beitrag weiterlesen »

Langsam, aber sicher?

23. September 2020 von Laborjournal

Es ist schon eine Weile her, da erinnerte auf Twitter ein kanadischer Zellbiologe an Barbara McClintock, die Entdeckerin mobiler genetischer Elemente. Genauer gesagt, referierte er lediglich eine kleine Anekdote über die Nobelpreisträgerin von 1983. Demnach wurde sie einmal gefragt, ob es nicht ärgerlich sei, mit Maispflanzen zu arbeiten, da sie doch eine so langsame Generationszeit von sechs Monaten haben. „Nein, ganz und gar nicht“, soll die Genetikerin darauf geantwortet haben. Tatsächlich würden ihr nicht mal diese sechs Monate genug Zeit geben, um gründlich über ihre Daten nachzudenken und sorgfältig die nächsten Experimente zu planen.

Klar, dass der Twitterer die Anekdote zu einem Plädoyer für eine Entschleunigung der Forschung nutzte – für sogenannte „Slow Science“. „Es scheint, dass wir in der Wissenschaft mittlerweile das Hauptaugenmerk auf Geschwindigkeit legen“, schrieb er im nächsten Tweet. Und er sinnierte weiter: „Vielleicht sollten wir der ‚Langsamkeit‘ wieder mehr Raum geben, sowie sorgfältige Betrachtung und gründliche Aufarbeitung stärker wertschätzen. Wir sollten gerade diejenigen besonders respektieren, die sich dem Hamsterrad des Publikationsdrucks entziehen und sich stattdessen die nötige Zeit nehmen, um eingehend über ihre eigenen Daten und diejenigen anderer Gruppen nachzudenken.“ Und er schloss: „Wissenschaft ist schließlich kein Wettrennen, sondern ein Prozess – und geht auf diese Weise mal schnell und mal langsam voran.“

Natürlich erhielt der Kanadier viel wohlmeinenden Zuspruch. Der Tübinger Max-Planck-Direktor Detlef Weigel steuerte etwa noch die Anekdote bei, dass ein US-Kollege ob der langen Generationszeit von Arabidopsis mal ganz ähnlich antwortete: Er habe dadurch mehr Zeit, zwischen den Experimenten in den Bergen wandern zu gehen.

Gut gemeint, das alles. Und richtig sowieso. Dass das Forschungssystem heute mit gefährlich überdrehtem Motor läuft, ist vielen klar. Aber dennoch: Erzählen Sie das mal als Dauerstellen-Inhaber ihren befristet eingestellten Mitarbeitern, die vor drohendem Vertragsende in ein bis zwei Jahren noch dringend Daten brauchen: Dass sie zwei Gänge rausnehmen und sich auf „Slow Science“ besinnen sollen…

Ralf Neumann

Wenn Forscher zu viele Ideen haben

16. September 2020 von Laborjournal


Eigentlich müssten gute Forscher diese Zeiten hassen.

Warum das?

Fangen wir an mit der Frage, was einen guten Forscher generell ausmacht. Er sollte offene Probleme erkennen, die richtigen Fragen sowie plausible Hypothesen dazu formulieren — und insbesondere Ideen generieren, wie man die Fragen und Hypothesen auf elegante Weise lösen und prüfen könnte.

Das Dumme dabei ist: Jemand, der wirklich gut darin ist, wird viel mehr Ideen produzieren, als er tatsächlich in konkreten Projekten verfolgen und zur „Erkenntnisreife“ bringen kann. Das ist die Kehrseite der immer engeren, zugleich aber immer aufwendigeren Spezialisierung der letzten Jahrzehnte. (Nicht umsonst kursiert zu diesem Dilemma schon lange der Spruch: „Wir erfahren immer mehr über immer weniger — und das wiederum wird immer teurer.“)

Nehmen wir etwa den Max Perutz, den österreichisch-britischen Nobelpreisträger des Jahres 1962. Bekanntlich arbeitete er die allermeiste Zeit seines Forscherlebens ausschließlich — und sehr erfolgreich — an Hämoglobin. Glaubt jemand tatsächlich, dieser brillante Forscher hätte nur gute „Hämoglobin-Ideen“ gehabt? Sicher nicht. Die meisten hat er selbst jedoch nicht weiter verfolgen können, weil sein Hämoglobin-Projekt schon sämtliche finanziellen, technischen und personellen Ressourcen komplett beanspruchte.

Was blieb ihm also übrig? Einen Teil seines „Ideen-Überschusses“ wird Perutz womöglich Kollegen mitgeteilt haben, von denen einige wiederum eventuell die eine oder andere tatsächlich realisierten. Ein gehöriger Teil seiner guten Ideen wird ihm jedoch vielmehr wie Sand zwischen den Fingern zerronnen sein.

Und so dürfte es heute auch vielen anderen gehen. Schließlich ist heute allzu gut bekannt, dass nur ein Bruchteil aller interessanter Ideen am Ende tatsächlich in ein konkretes Forschungsprojekt münden. Der ganze Rest ist unter den Zwängen des aktuellen Systems „gerade einfach nicht realisierbar“.

Schade, wie viele überaus fruchtbare Körner da auskeimen könnten — aber dann doch unbemerkt vertrocknen.

 

(Übrigens sah der US-Physiker David Harris dies vor einigen Jahren offenbar ganz ähnlich, als er sagte: „Gute Wissenschaftler haben in der Regel viel mehr Ideen, als sie verwerten können. Es wäre besser, wenn sie diese mit anderen teilen könnten.“ Zu eben diesem Zweck gründete er damals das Journal of Brief Ideas. Sicher eine gute Idee, die allerdings bis heute leider auch nicht wirklich zur vollen Reife erblüht ist: Das Journal läuft immer noch als Beta-Version.)

Ralf Neumann

(Illustr.: iStock / efks)

Gutachten immer und überall

3. Dezember 2019 von Laborjournal

 

 

Wohl kaum eine andere Berufsgruppe wird derart oft und ausgiebig evaluiert wie die Forscher. Diplom- und Doktorarbeit, Bewerbungsgespräche und Berufungskommissionen — geschenkt, das gibt‘s woanders auch. Dann aber jedes einzelne Manuskript und jeder Förderantrag — das macht bisweilen Dutzende von kritischen bis kleinkarierten Gutachten im Jahr, die man erst mal schlucken muss. Dazu noch die regelmäßigen Berichte an Förderorganisationen, Verwaltung, Fakultätsleitung oder Trägergesellschaft — alles ebenfalls durchaus existentiell hinsichtlich Finanzierung, Gehalt, Verteilung von (Service-)Pflichten, Gewährung von Rechten und anderem mehr. Und wenn einer dann noch lehrender Forscher ist, muss er sich auch noch der Bewertung seiner Lehrleistung durch Studenten und Institutskollegen stellen…

Zusammen macht das eine Evaluationslast, über die eine US-Professorin einmal schrieb:

Nimmt man die Menge und Intensität all dieser Evaluationen, muss man sich wundern, ob ohne ein titanisches Ego überhaupt jemand diesen Prozess überleben kann. Allerdings, die meisten können!

Natürlich wird man bei dieser Evaluationsmasse auch immer wieder mit ungerechten, schlampigen, rüden und manchmal auch schlichtweg dummen Antworten konfrontiert. Das kann einen dann — je nach Naturell — auch mal richtig wütend oder niedergeschlagen werden lassen.

Dennoch muss man als Forscher über kurz oder lang grundsätzlich akzeptieren, dass Gutachten von ihrer reinen Intention her kritisch sein sollen. Schlussendlich sollte diese Kritik in einer idealen Welt mit perfekt funktionierendem System die Arbeit der Forscher am Ende des Tages gar verbessern helfen.

Doch gerade die Egos vieler Jungforscher müssen dies erst lernen und begreifen — vor allem den Unterschied zwischen schonungslos kritischen, aber dennoch konstruktiven Gutachten einerseits sowie rein bösartiger Gutachter-Willkür auf der anderen Seite.

Die erwähnte US-Professorin dokumentiert das sehr nett in folgender kleinen Anekdote:

Immer wieder kam einer meiner Mitarbeiter wegen eines vermeintlich absolut grausamen Gutachtens völlig zerknirscht zu mir. Und fast genauso oft habe ich dann nach eigenem Durchlesen gedacht: „Großartiges Gutachten. Mit richtig hilfreichen Kommentaren.“

Ralf Neumann

Was interessiert den Ex-Postdoc sein altes Geschwätz?

15. Oktober 2018 von Laborjournal

Wieder einmal landete eine Frage auf unserem Redaktionstisch, zwischen deren Zeilen man eine gewisse Wut förmlich riechen konnte — und die ging so:

Da gibt es etwas, das ich einfach nicht verstehe. Schon vor zwanzig Jahren habe ich Doktoranden und Postdocs immer wieder stöhnen hören, wie schlimm sich das Wissen­schaftssystem entwickelt habe und wie sehr sie unter den Instituts-Hierarchien und -Platzhirschen leiden würden. Jetzt sind die meisten von ihnen selber Gruppenleiter, Instituts-Chef oder sogar noch mehr. Aber nichts hat sich geändert, sie verhalten sich heute genauso wie diejenigen, die sie damals kritisiert haben — vielleicht sogar noch schlimmer. Dabei sind doch sie es, die heute die Dinge tatsächlich ändern könnten, über die sie damals noch so gemeckert haben — wenigstens in ihrem eigenen Umfeld. Da muss man sich schon fragen: Wollen sie das inzwischen vielleicht gar nicht mehr?

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iStock / :Lisa-Blue

Uns fiel daraufhin sofort ein Editorial ein, in dem wir vor gut drei Jahren die Ergebnisse einer Studie zu diesem Thema vorstellten (LJ 4/2015, S. 3) — und aus dem wir im Folgenden quasi als Versuch einer Antwort zitieren wollen:

[…] Zu denken geben sollte diesen aber die Doktorarbeit der Wiener Wissen­schafts­forscherin Lisa Sigl, in der sie untersuchte, wie sich die prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse junger Biowissenschaftler auf deren Forschungstätigkeit auswirken. Sigl beleuchtet zunächst die verschiedenen Unsicherheitsfaktoren, die das Leben der jungen Biowissenschaftler prägen. Etwa die Unwägbarkeiten beim Erkenntnisgewinn, die jeder Forschung innewohnen, sowie die existentiellen Risiken, die durch die Verkettung von Zeitverträgen entstehen. Anschließend kommt sie dann zum eigentlich interessanten Punkt ihrer Dissertation: Wie gehen ihre Probanden und die Arbeits­gruppe insgesamt mit dieser Belastung um und welchen Einfluss hat sie auf die Ausrichtung ihrer Forschung?

Die Wienerin beobachtete vier unterschiedliche Strategien zur Bewältigung des auf den Forschern lastenden Drucks. Die erste und unter Biowissenschaftlern sehr beliebte Variante bezeichnet sie als Clan-Verhalten: Die Gruppe ordnet sich dem dominanten Labor- oder Gruppenleiter unter, der nicht nur die wissenschaftliche Ausrichtung der Gruppe bestimmt, sondern auch die finanziellen Mittel verteilt. Entsprechend groß ist seine Macht, aber auch seine soziale Verantwortung gegenüber den Gruppenmit­glie­dern. Klar, dass hier jedes Mitglied der Arbeitsgruppe versucht, dem Chef nicht unbe­dingt ans Bein zu pinkeln.

Die zweite Bewältigungsstrategie, das zusammenarbeitende Kollektiv, ist sicher die sympathischste Variante, die aber durch den zunehmenden wissenschaftlichen und ökonomischen Druck im Labor immer seltener anzutreffen ist. Bei dieser Form mit flachen Hierarchien und einem häufigen Erfahrungsaustausch unter den Wissen­schaft­lern steht die Gruppenarbeit im Vordergrund.

Und jetzt kommt der Teil, der für die Beantwortung der obigen Frage womöglich am interes­san­testen ist:

Mit zunehmender Forschungserfahrung treten bei Doktoranden und Postdocs neben diesen beiden gemeinschaftlichen, zwei weitere, individuelle Strategien zu Tage: die Manager- und die Tricksterstrategie.

Der Manager verwaltet seine Forschung und versucht die akademische Karriereleiter mit möglichst geringem Risiko emporzusteigen. Für diesen Jungforscher-Typus steht nicht die Forschung selbst, sondern das Karriere-Risikomanagement der Forschung im Vordergrund. Der Trickster hingegen versucht seine prekäre Situation „auszutricksen“ und versteckt seine eigenen Projekte hinter verklausulierten Anträgen, um an Geld heranzukommen. Trickster sind unter Biowissenschaftlern aber eher selten anzutreffen.

Die prekäre Lebenssituation von jungen Biowissenschaftlern fördert also, so das Fazit von Sigl, vermehrt Clan-Verhalten und Wissenschaftler, die vorwiegend Risikomana­ge­ment betreiben. Jungforscher, die aus reiner Neugier riskanten aber spannenden wis­sen­schaft­lichen Fragen und Projekten nachgehen, bringt das aktuelle Wissen­schafts­sys­tem hingegen immer seltener hervor.

Gut, die Schlussfolgerung geht damit in eine andere, mindestens ebenso spannende Richtung. Aber könnten Sigls Erkenntnisse hinsichtlich des Strategiewechsels bei zunehmender „System­erfahrung“ nicht auch eine Antwort auf die obige Eingangsfrage liefern — wenigstens in Teilen? Oder gibt es noch andere Aspekte, die dabei mitspielen, dass die „Bosse“ von heute nichts von dem ändern, worüber sie einst als Doktoranden und Postdocs selbst noch heftig meckerten?

Ralf Neumann