Zum Tod von Benno Müller-Hill

22. August 2018 von Laborjournal

Am 11. August starb im Alter von 85 Jahren Benno Müller-Hill, Professor-Emeritus am Kölner Institut für Genetik und einer der Pioniere der Molekularbiologie in Deutschland. Neben seiner Forschungsarbeit, die sich nicht nur, aber insbe­son­dere um den Lac-Repressor von E. coli drehte, wurde er einer breiten Öffentlichkeit bekannt durch sein 1984 erschienenes Buch „Tödliche Wissenschaft“, in dem er die Rolle der Forschung im Nationalsozialismus unter­­suchte.

In den Jahren 1998 bis 2000 schrieb Benno Müller-Hill auch immer wieder für Laborjournal. Zwei seiner damaligen Beiträge bringen wir nachfolgend nochmals an dieser Stelle — auch als Hommage an einen einmischungsfreudigen, „politischen“ Forscher, von dessen Typ wir gerade heute durchaus wieder mehr brauchen könnten…

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Aus unserer damaligen Reihe: Wenn ich heute Postdoc wär…

Warum spricht der Mensch?

Von Benno Müller-Hill, Laborjournal 4/2000, S. 14

Was würde ich machen, wenn ich heute Dreißig wäre und als Postdoc nach einem Problem Ausschau hielte? Welches Problem würde ich gerne lösen?

Bevor ich diese Frage beantworte, ist es angebracht, kurz zu berichten, was ich vor vierzig Jahren dachte und tat.

1960 war ich Doktorand bei dem Biochemiker Karl Wallenfels. Ich arbeitete über b-Galactosidase aus E. coli. Im Literaturseminar wurde die Comptes-Rendues-Arbeit aus dem Labor von Francois Jacob und Jacques Monod besprochen, in der zum ersten Mal von Lac-Repressor und von Lac-Operator die Rede war. Ein Assistent, der eine Ausbildung als Mikrobiologe hatte, sagte: „Das sind typisch französische Spitzfindigkeiten. E. coli hat keine Gene, denn es hat keinen Kern“. Wallenfels wiegte den Kopf. Er war sich nicht sicher. Ich und ein paar andere dachten, das Repressor-Operator-Modell muss stimmen. Es ist so elegant.     

1963 ging ich in die USA, um als Postdoc im Labor von Howard Rickenberg zu arbeiten. Dort untersuchte ich die Spezifität der Induktion von b-Galactosidase und machte meine ersten vergeblichen Versuche den Lac-Repressor zu isolieren. Damals schien mir — und nicht nur mir — dies das schwerste, interessanteste Problem. Heute ist es gelöst, eines der vielen Details der Lehrbücher.

1964 auf dem internationalen Kongress für Biochemie sprach ich James Watson an. Ich wollte den Lac-Repressor isolieren, ob er eine Stelle für mich hätte? Er hatte keine — aber Walter Gilbert, der bei ihm arbeitete, hätte vielleicht eine. So fuhr ich nach Cambridge und stellte mich vor. Gilbert hatte auch vergeblich versucht, den Lac-Repressor zu isolieren. Er nahm mich. 1966 isolierten wir dann den Lac-Repressor, den ersten Transkriptionsfaktor überhaupt. Seither habe ich mich immer wieder diesem Objekt zugewandt.

Die Zeit und die Probleme haben sich geändert. Damals konnte man zu zweit ein fundamentales Problem lösen. Heute geht das wohl nicht mehr. Was würde ich heute tun, ist also die Frage.

Ich sehe ein großes Problem: Wie funktioniert unser menschliches Sprach- und Rechenvermögen? Die Schimpansen, unsere nächsten Verwandten, haben mit uns Menschen verglichen ein äußerst primitives Sprach- und Rechenvermögen. Unsere Wege haben sich vor fünf Millionen Jahren getrennt. In dieser kurzen Zeit muss sich das Sprach- und Rechenvermögen des Menschen entwickelt haben.

Um es zu verstehen, muss man also zunächst die Sequenz des gesamten Schimpansengenoms mit der des gesamten menschlichen Genoms vergleichen. Das menschliche Genom ist in ein, zwei Jahren weitgehend aufgeklärt. Vom Schimpansengenom weiß man, dass es sich nur in etwa jedem hundertsten Basenpaar vom menschlichen Genom unterscheidet. Das entspricht etwa zwei veränderten Aminosäuren in einer Proteinseqeunz von 100 Aminosäuren. Ich würde also Himmel und Hölle in Bewegung setzen, dass das Schimpansengenom sequenziert wird [Eine erste Rohsequenz des Schimpansengenoms wurde 2005 veröffentlicht, Anm. d. Red.]. Und ich würde mich selbstverständlich daran beteiligen.

Das Sprach- und Rechenvermögen der Schimpansen ist vorhanden, aber äußerst primitiv. Eine einzelne Mutation kann nicht gereicht haben, es zu menschlicher Qualität zu verbessern. Es müssen mehrere solche vorteilhaften Mutationen in dem oder den entsprechenden Genen sitzen. Es macht keinen Sinn zu vermuten, dass die Unterschiede sich weitgehend in Protein-Sequenzen finden. Sie werden sich auch und gerade in regulierenden Promotor-Sequenzen finden — und/oder sie werden Multiplikationen eines oder weniger bestimmter Gene umfassen. Ein Gen, das — oder Gene, die — beim Schimpansen nur in wenigen Kopien vorkommen, liegen beim Menschen möglicherweise in Hunderten von Kopien vor. Ich würde also neben dem Sequenzieren gezielt nach derartigen Genen suchen, die nur beim Menschen in großer Kopienzahl vorkommen. Alternative Splice-Sites sind eine andere Möglichkeit. Sollte ich ein oder mehrere solcher mutierter Gene finden, würde ich sie bei Personen oder ethnischen Gruppen mit kleinem Sprach- und Rechen-Vermögen untersuchen — und mögliche neuere Unterschiede festhalten.

Sollte der Sequenzvergleich zwischen dem menschlichen und dem Schimpansen-Genom tatsächlich einen solchen Unterschied zeigen, stellt sich die Frage: Kann ich aus der Struktur der gefundenen Gene sowie der aus ihnen abgeleiteten Proteine in der Keimbahn und in einzelnen Hirnzellen den Aufbau und die Entwicklung der Zell-Maschine verstehen, die Sprache und Rechnungen produziert? Ich meine, das muss möglich sein.

Dabei ist mir klar, dass, so wenig wie das Verständnis der Struktur von Geigen ein Mozart-Streichquartett voraussagt, ebenso wenig die Struktur der Sprach- und Rechenmaschine unseres Gehirns etwas über den Inhalt der von ihr produzierten Gedanken und Rechnungen aussagt. Wir analysieren und verstehen hier die Hardware, die Software (Gott behüte!) ist etwas ganz anderes. Aber das Funktionieren der Hardware sollte man verstehen. Bewusstsein ist so gesehen nichts anderes als die Fähigkeit verschiedener Teile unseres Sprachvermögens, miteinander zu kommunizieren.

Stimmt diese Analyse der Struktur unserer Sprach- und Rechenmaschine? Der endgültige Beweis hierfür wäre die Einführung der entsprechenden menschlichen Gene in die Keimbahn von Schimpansen und die Schaffung eines sprach- und rechenfähigen Schimpansen. Heute mag das als eine Blasphemie erscheinen. Ich sehe das anders: Es zeigte, dass der Mensch tatsächlich beginnt, sich und die Welt zu verstehen und damit die Welt vernünftig zu verändern.

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Die Befreiung der Doktoranden

Von Benno Müller-Hill, Laborjournal 10/1999, S. 11

Die Cold Spring Harbor Laboratories haben gerade das Recht erhalten, Doktoranden auszubilden und Doktortitel zu vergeben. Deren Präsident James Watson schrieb aus diesem Anlass einen Aufsatz über die bestmögliche Doktoranden-Ausbildung (Annual Report 1998, Cold Spring Harbor Laboratory, p. 1-5). Er geht dabei autobiographisch vor, wie war das bei ihm selbst? Watson promovierte bei Salvador Luria. Als die Arbeit veröffentlicht wurde, war Luria nicht Koautor. Das hatte bei Genetikern eine gewisse Tradition. Sturtevant zum Beispiel, damals ein Diplomand, veröffentlichte die erste Genkarte eines Drosophila-Chromosoms ohne seinen Mentor Thomas Morgan.

Als Watson in den Sechzigern Professor in Harvard wurde, schrieb er sich nicht auf die Arbeiten seiner Doktoranden oder Postdocs. Das heißt, er tat es nur dann, wenn er einen Anteil an den Experimenten hatte. Und den hatte er meistens nicht.

Watsons Doktoranden erhielten gemeinhin lösbare Probleme, die sich kaum überlappten. Sie arbeiteten vier, fünf Jahre daran. Dann veröffentlichten sie selbst und allein. Zur Zeit, als ich selbst in Harvard war, waren das u. a. Jerry Adams, Joan Argetsinger-Steitz, Mario Capecchi und Jeffrey Roberts. Für die Doktoranden war das fabelhaft. Das Problem, an dem sie arbeiteten, war ihr Problem. Fast niemand, außer ihnen selbst, wusste, was da vorging. Watson konnte sich das leisten. Sein Mitarbeiter Walter Gilbert, der damals noch unbekannt war, hatte es schwerer.

Ich war von dieser Selbständigkeit der Doktoranden und Postdocs so angetan, dass ich diese Politik in meinem Labor in Köln zu verwirklichen versuchte. Zehn Jahre lang ließ ich meine Mitarbeiter allein veröffentlichen. So beschrieben 1973 mein Assistent Konrad Beyreuther und drei meiner Doktoranden die Protein-Sequenz des Lac-Repressors allein (PNAS 70, S. 3576-80). Das war über fünf Jahre hinweg die erste und einzige Sequenz eines Repressors. Mein Postdoc Jeffrey Miller veröffentlichte 1972 mit einem meiner Doktoranden die Isolierung des Trp-Repressors (PNAS 69, S. 1100-3) — wiederum ohne mich.

Aber irgendwann stellte ich fest, dass ich nicht immer auf die Koautorschaft verzichten konnte. So konstruierte etwa mein Postdoc Bruno Gronenborn 1977 zusammen mit Joachim Messing ein interessantes Derivat des Phagen M13. Messing arbeitete damals bei Peter-Hans Hofschneider im Martinsrieder MPI — und der verlangte, Koautor zu werden. Ich stand vor der Wahl entweder nicht Koautor zu werden, und damit jedermann denken zu lassen, das sei ein Projekt von Hofschneider allein — oder Koautor zu werden und damit anzudeuten, dass ich auch was damit zu tun hatte. Wie sollte ich unter solchen Umständen erfolgreich Drittmittel einwerben? So machte ich mich zum Koautor (PNAS 74, S. 3642-6).

Nach zwei weiteren Jahren gab ich endgültig auf und folgte der allgemein akzeptierten Politik, dass der Gruppenleiter (fast) immer auch Koautor ist.

Wird Watson sich jetzt in Cold Spring Harbor durchsetzen? Und wie steht es in Deutschland? Wäre das nicht auch eine interessante Norm für Institute wie das EMBL, das ebenfalls seit kurzem Doktoranden ausbilden und Doktortitel vergeben darf? Und wie steht es mit den Max-Planck-Instituten, die ein ähnliches Ziel anstreben? Da gibt es Zeit, drüber nachzudenken.

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Ein Gedanke zu „Zum Tod von Benno Müller-Hill“

  1. Hier ein Hinweis auf einen wissenschaftspolitischen Benno Müller-Hill Klassiker, auch heute noch sehr lesenswert: ‚Funding of Molecular Biology‘, ein Kommentar in Nature (351; 2 May 1991, pp.11-12). Er weist dort auf die Unterfinanzierung der universitären Forschung hin, und stellt dabei input/output Vergleiche von universitärer und ausseruniversitärer Forschung in Deutschland an.

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