Oma hat’s schon immer gewusst…

3. Juli 2015 von Laborjournal

Aus den verschiedensten Gründen müssen wir immer wieder mal in unseren alten Heften blättern. Gar nicht selten kommt es dann vor, dass wir viel mehr Zeit mit dem alten Heft verbringen, als „eben nur schnell diese eine konkrete Sache“ nachzuschauen. So brauchte ich gestern etwa eine Info aus einem Hintergrundartikel, der im Heft 5 des Jahres 2004 stand — und stieß ein paar Seiten weiter auf einen „Brief an die liebe Oma“ zum Thema Großmütter-Hypothese. Und weil dieser mal so was ganz anderes war, stelle ich ihn jetzt hier einfach nochmals hinein:

Liebe Oma,

heute muss ich Dir einfach schreiben. Erinnerst Du Dich noch an die Zeit, als ich meine Doktorarbeit machte? Und wie Du mich immer wieder gefragt hast, was genau ich denn da täte?

Verzweifelt hab’ ich damals versucht, Dir zu erklären, warum ich ausgerechnet dieses eine Protein kristallisieren würde. Warum ich hoffte, über die dreidimensionale Struktur dessen Wirkungsmechanismus in der molekularen Signalkette zu entschlüsseln, die …? Sinnlos, ich weiß.

„Herrgott“, hast Du damals immer geantwortet, „diese moderne Biologie, kommt da auch was raus, was ein Normalsterblicher verstehen kann?“ Irgendwann hatten wir dann aufgegeben. Und da ich nun ja auch schon eine ganze Weile ziemlich weit weg bin, hatte ich dieses Kapitel zwischen uns beiden auch allmählich vergessen.

Vor einer halben Stunde ist es mir auf einen Schlag wieder eingefallen. Ich saß in der Bibliothek und blätterte im neuen Nature. Das ist eine Zeitschrift, in der nur die vermeintlich allerwichtigsten Forschungsergebnisse veröffentlicht werden. Und was lese ich da plötzlich? Einen Artikel, der erklärt, warum Großmütter — oder Frauen ganz allgemein — so alt werden. Klar, dass ich da sofort an meine liebe, alte Großmutter denken musste, oder? 

Klar aber auch, was Du sofort entgegnen würdest: „Weil Hygiene und Medizin so gut sind.“ Das stimmt sicherlich für die gesamte Menschheit. Bei Frauen aber gibt es ein besonderes Problem — nämlich: Wenn der Zweck des individuellen Lebens die Fortpflanzung ist, warum leben sie dann so lange über ihre reproduktive Zeit hinaus? Oder anders gesagt: Warum gibt es überhaupt Großmütter? Und das ist kein reines Neuzeit-Phänomen. Auch zu Urzeiten gab es natürlich Großmütter; und die lebten auch damals schon deutlich über ihre Menopause hinaus.

Jetzt sind wir an dem Punkt, liebe Oma, an dem ich Dich ein bisschen mit Evolutionsbiologie belästigen muss. Aber „Darwin und so“ mochtest Du ja schon immer. Der Evolutionsbiologe muss sich nämlich angesichts dieser Tatsachen zwingend fragen, welchen evolutionären Vorteil es für Homo sapiens und seine Sozialstrukturen hatte, dass dessen Frauen so alt wurden. Und wieso die Evolution stattdessen nicht darauf hingewirkt hat, dass die Frauen länger fruchtbar blieben. Wie die Männer eben.

Als Erklärungsmöglichkeit entwickelten einige von ihnen die sogenannte Großmutter-Hypothese. Und die geht davon aus, dass Frauen in der Summe höhere Reproduktionserfolge verbuchen, wenn sie ab einem bestimmten Alter keine eigenen Kinder mehr bekommen sondern stattdessen in ihre Kindeskinder „investieren“.

Nette Hypothese, oder? Und nach dem, was ein Team um eine finnische Biologin jetzt aus den Daten von finnischen Kirchenbüchern und kanadischen Bevölkerungsregistern herausfiltern konnte, scheint da sogar richtig was dran zu sein, liebe Oma.

Die Daten von knapp 4.000 Frauen, die zwischen 1700 und 1950 lebten, haben die Leute nach dem Zusammenhang zwischen steigendem Lebensalter der Frauen und dem Wohlergehen der Enkel ausgewertet. Ergebnis: Die Länge der Lebenserwartung einer Frau nach der Menopause wirkte sich deutlich auf den Reproduktionserfolg ihrer Kinder und deren Sprösslinge aus. Wurde Oma  besonders alt und half entsprechend bei der Aufzucht der Enkel, so bekamen deren Söhne und Töchter im Schnitt früher und mehr Nachkommen. Regionale und schichtspezifische Unterschiede spielten keine Rolle.

Je älter also die Großmutter, desto mehr Enkel wurden geboren — pro Jahrzehnt nach dem 50. Geburtstag im Mittel zwei Enkel mehr, sagen die Daten. Und da die Lebenserwartung der Omas im Schnitt genau dann endete, wenn die eigenen Kinder ihre Reproduktion einstellten, schließen die Autoren, dass tatsächlich die Versorgung der Enkelkinder der selektive Faktor war, der das lange Leben der Großmütter begünstigte.

Nun, liebe Oma, in der modernen Biologie kommen eben doch noch Dinge heraus, die ein Normalsterblicher verstehen kann. Aber ich weiß, was Du jetzt entgegnen wirst: Dass Du das alles irgendwie auch „ohne dieses Nature“ schon immer gewusst hast. Aus reinem Menschenverstand.

Und ich muss sagen, irgendwie glaube ich Dir das sogar.

Dein Enkel 

(Das Foto zeigt „Elisabeth, die strickende Gr0ßmutter“, eine Marionetten-Puppe von Albrecht Roser.)  

 

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4 Gedanken zu „Oma hat’s schon immer gewusst…“

  1. Panagrellus sagt:

    Eine andere These geisterte vor 2 Jahren durch die Presse, basierend auf einem lausigen Paper in PLOS Comp Biol.: Die Männer seien schuld, dass Frauen in die Menopause kommen. Sie paaren sich einfach lieber mit jüngeren Frauen.

    Ich habe das seltsame Paper damals auf meinem Blog besprochen:
    http://panagrellus.de/sexistischer-stuss-aus-der-soziobiologie/

    Aber auch die Großmutter-Hypothese ist nicht einwandfrei belegt, trotz der schönen Daten, die oben vorgestellt werden.

    „Der Evolutionsbiologe muss sich nämlich angesichts dieser Tatsachen zwingend fragen, welchen evolutionären Vorteil es für Homo sapiens und seine Sozialstrukturen hatte, dass dessen Frauen so alt wurden.“

    Muss er das? Eine alternative Erklärung ist die „Lifespan Artefact“-Hypothese. Prähistorische Frauen wurden selten alt, einen größeren Ei-Vorrat zu haben als für die damalige Lebensspanne nötig war, macht daher keinen Sinn.

  2. Ralf Neumann sagt:

    Und warum konnten sich dann überhaupt ab einem bestimmten Zeitpunkt immer längere Lebensspannen von Frauen in der Population fixieren — bis diese reichte, um auch Großmutter zu werden? Nur wegen besserer Hygiene und Medizin?

  3. Panagrellus sagt:

    „Nur wegen besserer Hygiene und Medizin?“. Das ist wohl die Hypothese der „life span artefact“ – Vertreter, ja.
    Klingt auch erst mal plausibel, wenn man bedenkt, dass die durchschnittl. Lebenserwartung bis in die Moderne hinein bei nur ca. 35 Jahren lag und vor allem Mütter häufig bei der Geburt starben.
    Andererseits stimmt es nicht, dass es in der Steinzeit gar keine Frauen im Oma-Alter gab. Das niedrige Durchschnittsalter ist vor allem der hohen Kindersterblichkeit geschuldet. Hatte man die ersten Jahre geschafft, konnte man auch in der Steinzeit alt werden.
    Insofern ist die Großmutterhypothese schon noch im Rennen.

  4. Die Menopause hat keinen evolutionären Vorteil, denn sogar Schimpansen haben sie nicht. Außer bei den Menschen hat man die Menopause nur bei zwei Delfin-Arten festgestellt: Killer-Wale und Pilotwale.
    http://www.bbc.com/earth/story/20150304-post-menopausal-whales-take-lead
    Die Frage ist also nicht, warum es die Menopause gibt (das kann eine Nebeneffekt von sonst was wichtigem sein), sondern genau warum postmenopausale Frauen bei Menschen und Orcas denn so alt werden.
    Und da sieht man: weil man auf deren Wissen und Erfahrung weiterhin angewiesen ist, ob sie nun fruchtbar sind oder nicht. Ohne alte Frauen würde die evolutionäre Fitness einer sozialen Spezies, wie Menschen und Orcas, sinken und evtl zum Aussterben führen.

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