Blick zurück nach vorn

9. Januar 2012 von Laborjournal

Aus der Reihe „Spontane Interviews, die es nie gab — die aber genau so hätten stattfinden können”. Heute: Prof. A. N. Gestaubt, Praeteriologisches Institut Universität Trübingen.

LJ: Hallo, Herr Gestaubt, Sie kommen aus dem Seminar. Worum ging’s?

Gestaubt: Wissenschaftsgeschichte. Heute waren die Chromosomen inklusive der Entwicklung der Cytogenetik als Disziplin dran.

LJ: Klingt nett. Apropos „nett“: Viele qualifizieren ja die Wissenschaftsgeschichte etwas süffisant als reine „Nice-to-know“-Forschung ab — also ohne großen Nutzen, und damit in bewusstem Gegensatz zur „Need-to-know“-Forschung. Wie sehen Sie das?

Gestaubt: Ach ja, das alte Vorurteil. Jetzt mal ehrlich: Wir brauchen auch keinen „Harry Potter“ und auch keinen „Faust“ zum Überleben der Menschheit. Dennoch sind verdammt viele Leute froh, dass wir die Beiden haben. Ich kann diesen Quatsch von wegen „Umso besser, je mehr Nutz“ nicht mehr hören. Zumal es in unserem Zusammenhang sowieso nicht stimmt.

LJ: Inwiefern?

Gestaubt: Schauen Sie sich doch mal die aktuelle Forschungsförderung an. Was würden die maßgeblichen Leute nicht dafür geben, wenn man ihnen sagen könnte, nach welchen Mustern und unter welchen Rahmenbedingungen ich potentiell maximale Erkenntnisse bekomme?

LJ: Und dabei hilft die Wissenschaftsgeschichte?

Gestaubt: Klar. Zumal das eine ihrer zentralen Fragestellungen ist: Die Geschichte wirklich großer Entdeckungen und Erkenntnisse zu studieren, um im Vergleich genau solche Grundmuster und -bedingungen zu identifizieren.

LJ: Aber bei vielen großen Entdeckungen war es doch einfach nur Zufall — siehe Penicillin oder genetischer Fingerabdruck.

Gestaubt: Sicher, aber nur in einigen Fällen. Und da reichte — nebenbei bemerkt — der reine Zufall nicht aus. Schon Pasteur sagte richtig: „Chance favors only the prepared mind“. Womit wir eine weitere, und wichtigere Grundbedingung hätten. Dummerweise jedoch gibt es nicht den einen Königsweg, der sicher zu jedweder Erkenntnis führt. Ist ja auch klar, denn immerhin erforscht die Wissenschaft ja das Unbekannte. Woher soll man da vorher wissen, wie man am besten dorthin gelangt.

LJ: Dann können Sie ja doch nicht helfen?

Gestaubt: Nicht so schnell, ein paar Muster gibt es schließlich doch. Wohlgemerkt — sowohl solche, nach denen man die Chance auf Erkenntnisgewinn erhöht, als auch solche, nach denen man diesen eher verhindert.

LJ: Und, können Sie uns noch ein paar verraten?

Gestaubt: Na ja, im Kleinen demonstriert das unser heutiges Seminarthema ganz gut. Viele wissen gar nicht mehr, dass man über dreißig Jahre geglaubt hatte, der Mensch besäße einen haploiden Satz von 24 Chromosomen. Das war jedenfalls die Zahl, die seinerzeit Theophilus Painter im unbehandelten Chromosomen-Durcheinander von Spermatozyten erspäht zu haben meinte. Der diploide Satz von 48 Chromosomen wurde jedenfalls zum Experten-Konsens. Womit wir bei einem wichtigen Muster zur Erkenntnis-Etablierung angelangt sind: Die Erkenntnis alleine nutzt erstmal nicht viel, solange sie nicht durch den breiten Konsens der Kollegen akzeptiert und veredelt wird.

Dummerweise kann man aber auch per Konsens falsch liegen. Und das war hier der Fall. Allerdings musste man erst auf methodische Verbesserungen warten, um dies zu erkennen. Und hier sind jetzt sogar viele Kollegen der Meinung, dass dies für den Erkenntnisfortschritt eine viel wichtigere Bedingung ist als beispielsweise gute Ideen. Anders gesagt: Die Methoden müssen zu den Fragen passen, sonst kann man sie nicht lösen. Das war übrigens mit der Entdeckung der DNA-Struktur genauso — erst als die englische Textilindustrie die Röntgenkristallographie entwickelt hatte, konnte man dieses Problem wirklich angehen.

LJ: Und wie war das jetzt bei der Chromosomenzahl?

Gestaubt: Wie gesagt, Painter konnte nur die unkondensierten Chromosomen sehen — da muss man sich sogar wundern, dass er nur so knapp daneben lag. Es brauchte schließlich noch das Einfrieren der Zellen in der Metaphase durch Colchicin sowie die Methode der Spreitung hypoton vorbehandelter Chromosomen, um 1956 die Zahl unserer Chromosomen auf 46 zu korrigieren. Erst da waren die Methoden folglich reif für das „Problem“ — und die Ergebnisse entsprechend klar, um den falschen Konsens zu kippen.

LJ: Okay, verstanden. Zum Schluss jetzt aber nochmal zurück in die Gegenwart. Hat denn die aktuelle Politik der Forschungsförderung etwas gelernt aus solchen historischen Mustern des Erkenntnisgewinns?

Gestaubt: Offenbar nicht viel. Methodenforschung ist beispielsweise schon lange ein Stiefkind der Forschungsförderung. Und der offensichtliche Versuch, Erkenntnisgewinn in vorgegebene Zeitpläne mit festen Zwischenzielen zu pressen — dass so etwas auch nur annähernd mal was gebracht hätte, dafür kenne ich in der Geschichte der Wissenschaften nun wirklich kein Beispiel.

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