Spiegel online verwirrt im Jetzt und Nun

18. August 2010 von Laborjournal

Ein Artikel auf Spiegel online von heute (18. August) gibt Rätsel auf. Es geht um eine angeblich ganz tolle, bakterizide Wandfarbe, über die leicht atemlos berichtet wird:

„Superbakterien werden in Krankenhäusern zu einem immer größeren Problem: Tausende Patienten sterben jedes Jahr an den Folgen von Infektionen, selbst starke Antibiotika sind wirkungslos gegen resistente Keime.  Jetzt stellen Forscher ein neues Gegenmittel vor: eine Wandfarbe.“

Und

„Ein US-Forscherteam ist der effektiven Bekämpfung der Bakterien in Krankenhäusern nun einen Schritt näher gekommen – mit einer Wandfarbe. Der Anstrich enthält ein Enzym, das die Zellwände der Bakterien zerstört. Dieses sogenannte Lysostaphin haben die Forscher mit mikroskopisch kleinen Kohlenstoff-Nanoröhren kombiniert, die wiederum mit gewöhnlicher Farbe gemischt werden können.“

Naja.

Schon die Wendungen „JETZT stellen Forscher ein neues Gegenmittel vor“ und „NUN [sind sie] einen Schritt näher gekommen“ sind Nonsens. Die New Yorker Gruppe um Seniorautor Jonathan S. Dordick hat diese Wunderfarbe nicht „jetzt“ oder „nun“ veröffentlicht. Nö, ganz und gar nicht. Die Publikation namens „Antistaphylococcal Nanocomposite Films Based on Enzyme-Nanotube Conjugates“, auf die sich Spiegel online bezieht, wurde am 6. Juli 2010 online publiziert. Auf deutsch: vor fünf Wochen. Richtig ist: Spiegel online hat dieses fünf Wochen alte Paper „jetzt“ endlich entdeckt. Tolle Leistung.

Ferner: Jonathan S. Dordick und seine Gruppe, bestehend aus Chemie- und Bioingenieuren, Biologen und Chemikern, sind an diesem Thema (natürlich!) bereits seit vielen Jahren dran und haben bereits jede Menge dazu veröffentlicht. Hier kann man’s nachlesen.

Beispielsweise haben sie schon vor vier Jahren einen Artikel veröffentlicht, in dem es genau um das geht, was Spiegel online als brandaktuellen Knüller verkauft: „Ein Enzym mit Nanopartikeln zu kombinieren, um es zu stabilisieren“, es anschließend irgendwo draufzustreichen und damit gegen Mikroorganismen einzusetzen.

Ja, genau das ist ein mindestens vier Jahre alter (ich hab nicht weiter gesucht, ob vielleicht sogar noch älterer) Hut.

Der betreffende Artikel ist mit „Polymer–Nanotube–Enzyme Composites as Active Antifouling Films“ überschrieben (einfach auf Dordicks Website links auf „Publications“ klicken) und von vier Autoren (einer von ihnen Jonathan S. Dordick) verfasst.

Wieso schafft es Spiegel online nicht, die Thematik als solche für die Leser interessant zu machen? Wieso muss man unbedingt das marktschreierische (und in diesem Fall grundfalsche) Wörtchen „jetzt“ auf diesen Bericht kleben? Das Thema ist doch, auch ohne derlei Tricks, hochinteressant.

Aber worüber ich ursprünglich gestolpert bin, ist etwas ganz anderes: Gegen Ende des Spiegel online-Artikels steht ein Satz, den ich absolut nicht verstehe. Aber vielleicht kann mir ja jemand auf die Beine helfen?

„Da es sich um ein natürlich auftretendes Enzym handele, sei es sehr unwahrscheinlich, dass MRSA Resistenzen dagegen entwickle.“

Hm. Dieser Satz klingt mir nicht sehr schlüssig. Ich bitte um Aufklärung: Warum sollte es Bakterien nicht möglich sein, gegen ein „natürlich auftretendes Enzym“ resistent zu werden? Aber vielleicht habe ich ja damals in meinen Mikrobiologie- und Evolutionsvorlesungen nicht richtig aufgepasst?

2 Gedanken zu „Spiegel online verwirrt im Jetzt und Nun“

  1. Dr. Glukose sagt:

    Zum letzten Satz: Ich verstehen ihn auch nicht wirklich und würde mal vorsichtig (ohne weiter recherchiert zu haben) sagen, dass es Schwachsinn ist. Spiegel hat wohl die Aussage „natürlich auftretendes Enzym“ fälschlich benutzt, da der Forscher ja meinte

    „Wir haben uns gefragt, ob es in der Natur Enzyme gibt, die wir gegen Bakterien einsetzen können“, sagt Dordick. Enzyme übernehmen zahlreiche wichtige Funktionen im Stoffwechsel von Organismen und sind an den meisten biochemischen Reaktionen beteiligt. Ihre Suche führte die Forscher zu Lysostaphin, das in einer für den Menschen ungefährlichen Art der Staphylokokken vorkommt.

    Daraus wurde dann wohl geschlossen: Aha, natürlich Enzym aus der Natur –> Krankenhauskeime sind dagegen nicht resistent –> natürliches Enzym gegen das MRSA wohl nicht resistent wird

    Falsche Schlussfolgerung, nicht zuletzt da ja die in der Molekularbiologie verwendeten Restriktionsenzyme alle natürlich sind, da sie ja in Bakterien entdeckt worden sind und aus ihnen isoliert wurden. Über eine gewisse Zeit kann sich da also sehr wohl eine Resistenz bilden!

  2. Winfried Köppelle sagt:

    @Dr.G.: So in etwa sehe ich’s auch. Wollte nur sichergehen – manchmal ist man ja betriebsblind.
    WK

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