Von großen Heuschrecken- und kleinen Menschen-Genomen

22. März 2023 von Laborjournal

 

Das größte bisher bekannte Genom eines Insekts steckt in den Zellen der alpinen Heuschrecke Bryodemella tuberculata – auf deutsch: die Gefleckte Schnarrenschrecke. Nachgemessen hatte ein internationales Team um den korrespondierenden Autor Oliver Hawlitschek vom Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) im Museum der Natur Hamburg – und kam auf 21,96 Pikogramm (pg) DNA für den haploiden Chromosomensatz (1C) (PLoS ONE 18(3): e0275551. doi: 10.1371/journal.pone.0275551).

Die „Rekord-Entdeckung“ könnte allerdings schon bald abgelöst werden, schließlich liegen von den mehr als einer Million beschriebener Insekten bislang nur von 1.345 Spezies Größenangaben zu deren Genomen vor. Was aber vorerst bleibt: Damit ist das Schnarrenschrecken-Genom rund siebenmal größer als unser humanes: Bei Frauen wiegen die 3,19 Gigabasenpaare (Gb) des haploiden Kerngenoms 3,26 pg, die 3,13 Gbp ihrer männlichen Artgenossen kommen auf 3,20 pg.

Dass wir Menschen bezüglich dieses C-Werts (Gbp/1C) weit weg von einem Spitzenplatz liegen, ist indes schon lange klar. Bereits vor über zwanzig Jahren fassten wir zu diesem Thema zusammen

Rund 3,2 beträgt der humane C-Wert. Was zum Beispiel Lilien mit ihren knapp 40 Gbp locker toppen. Oder diverse Amphibien mit über 80 Gbp. Doch auch diese müssen sich weit hinter dem Lungenfisch Protopterus aethiopicus mit seinen 140 Gbp anstellen. Und den sehen einige Forscher immerhin als den nächsten lebenden Verwandten derjenigen Wirbeltiere an, die erstmals vom Wasser aus das Festland besiedelten. Auf der evolutionären Linie von ihnen zu uns Menschen könnte also ganz schön viel Genom verloren gegangen sein.

Dass da Heuschrecken auf bis zu siebenmal mehr DNA kommen, macht den berühmten Bock also auch nicht mehr fett.

Interessanter ist das Ganze hingegen, wenn man bei den Insekten bleibt. Denn die haben in aller Regel kleine Genome: die Taufliege Drosophila melanogaster kommt beispielsweise auf einen C-Wert von lediglich 0,18 Gbp, der Mehlkäfer Tenebrio molitor auf 0.51 Gbp. Ausgerechnet einige Heuschreckenarten stechen aber deutlich nach oben hinaus. Von den 50 Heuschreckenarten, deren Genomgrößen Hawlitschek et al. bestimmten, wiesen die 26 Vertreter der Feldheuschrecken (Acrididae) allesamt deutlich größere C-Werte auf als wir Menschen. Und auch die 15 Vertreter der Laubheuschrecken (Tettigoniidae) lagen allesamt noch gut über unseren rund 3,2 Gbp. Nur die drei Dornschrecken-Arten (Tetrigidae) und die sechs Echten Grillen (Gryllidae) hatten geringere C-Werte.

Warum aber ausgerechnet diese und einige andere Heuschreckenarten mit ihren Genomgrößen derart aus dem Rest der bisher bekannten Insektenwelt herausragen, ist eine offene Frage. In der Pressemeldung zum Paper heißt es dazu nur, dass Oliver Hawlitschek und Co. mit sequenzbasierten Studien jetzt mehr über die zugrundeliegenden evolutionären Mechanismen erfahren möchten, die einen derartigen Einfluss auf die Größe von Genomen ausüben.

Ja, sequenzbasierte Studien fehlen tatsächlich. Denn interessanter, als die reine Größe der Genome zu vergleichen, ist doch der Vergleich der Anzahl codierender Gene. Und auch hier wissen wir schon lange, dass wir Menschen nicht in der Spitzengruppe liegen – zumindest, was die Anzahl der proteincodierenden Gene betrifft. Für uns sind rund 20.000 notiert, eine ganze Reihe von Organismen hat jedoch deutlich mehr – darunter etwa viele Pflanzen wie Reis (60.000) oder die Fichte (56.000), aber auch wieder einige Einzeller wie beispielsweise Paramecium tetraurelia (knapp 40.000) oder Trichomonas vaginalis (fast 60.000).

Und Heuschrecken? Auf bioRXiv präsentierte ein chinesisch-kandisches Trio in einem Preprint  kürzlich entsprechende Daten für die Europäische Wanderheuschrecke (Locusta migratoria), deren Genom übrigens auch doppelt so groß ist wie unseres. In den „Results“ heißt es:

Anhand unserer eigenen und früher veröffentlichter RNA-seq-Datensätze haben wir 26.636 proteincodierende Gene mit insgesamt 37.981 Transkripten und 59.466 UTRs identifiziert. Von den 26.636 Genen wurden 19.481 durch einen Blastp-Abgleich mit den Refseq-Proteinen von Arthropoden annotiert.

Also auch mehr als wir Menschen! Was aber letztlich nicht wirklich was heißt. Schließlich ist ebenfalls schon ein älterer Hut, dass es ganz offensichtlich nicht das Nonplusultra ist, einfach nur viele proteincodierende Gene zu haben, um komplexes Leben zu entwickeln. Dass wir Menschen deutlich komplexer daherkommen als Organismen, die üppiger mit proteincodierenden Genen ausgestattet sind, verdanken wir vor allem der Tatsache, dass wir absolute Weltmeister in der multiplen Nutzung und Kombinatorik unserer Gene sind – was zusammengenommen ein einzigartig flexibles Wirken von vielfältigen und komplexen genetischen Netzwerken ermöglicht.

Und überhaupt: Proteincodierende Gene sind ja nicht alles – da sind ja noch die Gene für regulatorische RNAs. Gerade davon sollen wir ja nochmals über 20.000 haben, vor allem solche für long non-coding RNAs (lncRNAs). Aber auch für MicroRNAs waren vor knapp zwei Jahren schon 2.700 Gene  im Humangenom annotiert, und zugleich für sechzig Prozent unserer proteincodierenden Gene MicroRNA-Bindestellen identifiziert (Nat. Comm. 12: 4316). Wie gesagt, Meister der DNA-regulatorischen Netzwerke und genetischen Kombinatorik! Aber das ist bereits eine andere Geschichte, völlig jenseits aller Heuschrecken …

Ralf Neumann

(Foto: Tripadvisor / Jean925)

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