Die unheimlichen Begegnungen mit Ameisenarten

1. März 2023 von Laborjournal

Sind Sie schon mal mit Vollspeed in einen Ameisenhaufen gecrasht? Es ist ein äußerst ungünstiger Ort, zu Boden zu gehen – glauben Sie mir! Zweierlei schießt Ihnen in dem Moment durch den Kopf. Zunächst: Wo bei Wotan kam dieses [Schimpfwort Ihrer Wahl]-Ding her? Dann: Seit wann sind Krabbeltiere derart nachtragend?

Ihr Zweirad ist zwar unbeschadet, das Ameisenhaus aber erheblich zerstört – was das ansässige Ameisenvolk mehr als doof findet. Blitzschnell entscheidet es, Sie einer Leibesvisitation zu unterziehen. Die Folgeminuten verbringen Sie also damit, durch den Wald zu hüpfen und möglichst viele Mandibeln-wetzende, Säure-absondernde Ameisenkriegerinnen abzuschütteln – hoffentlich bevor die Hautflügler liebgewonnene Körperhöhlen erreichen.

 

Die 24-Stunden-Ameise produziert das schmerzhafteste Gift aller Insekten (Foto: Geoff Gallice)

Erst im Anschluss dämmern Ihnen die globalen Konsequenzen Ihrer Spontaninspektion des Ameisenbaus: Einzelne Ameisenkolonien können mehrere Jahrzehnte alt werden. Mit 29 Jahren ist eine Königin der Schwarzen Wegameise (Lasius niger) sogar das älteste bekannte Insekt der Welt. Ein Ihnen erteiltes „Hausverbot“ ist nächstes Wochenende also sicher nicht vergessen. 

Haben Sie zudem richtig Pech, war Ihr vandalisierter Ameisenhügel ein Außenposten. Die größte bekannte Ameisenkolonie erstreckt sich nämlich über 6.000 Kilometer entlang der italienischen Riviera bis in den Nordwesten Spaniens und besteht aus Millionen Nestern mit Milliarden Argentinischen Ameisen (Linepithema humile). Ihre Besonderheit: Im Allgemeinen greifen Ameisen an, was nicht ihrer eigenen kutikularen Duftsignatur entspricht. Doch nicht in dieser Superkolonie. In Laborversuchen bekämpften ihre Arbeiterinnen nicht mal Ameisen kalifornischer oder japanischer Nester. Über Containerschiffe und Frachtflugzeuge hat sich eine Ursprungskolonie offenbar bereits über mehrere Kontinente ausgebreitet (Divers Distrib. doi.org/f4hpkx).

Beten Sie somit, dass sich der Tratsch über Ihren Hausfriedensbruch nur zögerlich auf der Pheromonspur von Ameisenstraßen verbreitet. Sobald sie den süßlichen Geruch von n-Undecanen wahrnehmen – also den Alarm-Pheromonen von Formicidae – könnte Gefahr in Verzug sein. Denn Sie wissen ja: Insgesamt krabbeln auf unserem Planeten 20 Billiarden Ameisen (PNAS. doi.org/gqt4dc). Auf einen Menschen kommen 2,5 Millionen Sechsbeiner. Wir, liebe Leserin oder lieber Leser, sind also arg in der Unterzahl.

Allerdings: Beäugt Sie eine Formicidae schief, dann keine Panik! Die angeblichen Körperkräfte von Ameisen sind nur ein Taschenspielertrick: Gewicht wächst mit der dritten Potenz der Länge; die für Körperkraft maßgebliche Querschnittsfläche eines Muskels dagegen nur mit ihrem Quadrat. Die Zweimeter-Version einer zehn Millimeter langen und zehn Milligramm schweren Ameise, die das Hundertfache ihres Körpergewichts wuchtet, wöge demnach 80 Kilogramm, könnte aber nur 40 Kilogramm tragen. Also keine Konkurrenz für Sie.

Trotzdem zum Abschluss noch zwei Hinweise für Ihr Kopfkino:

(1) Die Königin der Wanderameise Dorylus molestus ist so groß wie ein Hamster. Stünde solch ein Acht-Zentimeter-Ameisen-Oschi breitbeinig vor Ihnen, grinste er sicher breiter als Sie.

(2) Laut Schmidt-Stichschmerz-Index mit einer Skala von 1,0 bis 4,0+ verursacht ein Stich der 24-Stunden-Ameise (Paraponera clavata) eine 4,0+. Dank ihres Nervengifts Poneratoxin gilt er als der schmerzhafteste Insektenstich überhaupt. Es fühlt sich an, als liefe man mit einem sieben Zentimeter langen rostigen Nagel in der Ferse über glühende Kohlen“. Zum Glück nicht für ewig: Schon nach schlappen 24 Stunden Agonie verebbt der Schmerz. Der Name der Ameisenspezies war entsprechend leicht gefunden.

Kurzum: Achten Sie bitte darauf, wem Sie auf die Tarsen treten. Laborjournal möchte Sie gern als Leser oder Leserin behalten!

Henrik Müller

P.S.: Bei der Entstehung dieses Textes kamen keine Ameisen zu Schaden. Schließlich ist es seit 2005 in Deutschland streng verboten, in die Neststrukturen hügelbauender Waldameisen einzugreifen – egal, ob mit oder ohne Zweirad. Lassen Sie uns also lieber weiter gemeinsam aus der Ferne staunen!

 

(Der Text erschien in leicht anderer Form als Editorial unseres letzten Laborjournal-NEWSLETTERS. Wer den NEWSLETTER samt solcher Editorials regelmäßig alle zwei Wochen per E-Mail zugeschickt bekommen möchte, klicke sich bitte hier entlang!)

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