Zieht die Unis vor!

17. März 2021 von Laborjournal

Auf Twitter haben wir es mehrmals geschrieben: Bei allen Fahrplänen, wie wir aus der Corona-Krise wieder herauskommen könnten, rangiert ein wie auch immer gearteter Präsenzbetrieb an den Hochschulen sehr weit hinten. Die Studierenden sind jung, und auch diejenigen, die den normalen Lehrbetrieb aufrecht erhalten, finden sich mehrheitlich nicht in den sogenannten Prioritätsgruppen – bei den Impfungen dürften sie demnach ziemlich am Ende der Schlange stehen. Und auch jenseits dessen werden kaum umfassende Konzepte diskutiert, wie man auch während der Pandemie wenigstens teilweise eine verantwortungsvolle Präsenzlehre an den Hochschulen realisieren könnte. Warum auch, wenn die landesweiten Corona-Maßnahmen diese seit Anbeginn der Pandemie wie selbstverständlich pauschal unter­sagen?

Mehrfach haben wir daher aufgefordert, diese Haltung eingehend zu überdenken. Unser Kern-Argument: Die gesundheitlichen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie werden uns noch lange darüber hinaus intensiv beschäftigen – und die Leute, die dann all die entstandenen Scherben federführend zusammenkehren müssen, sind vor allem die Studierenden von heute. Folglich tun wir uns allen einen großen Gefallen, wenn wir sämtliche in der Pandemie vertretbaren Maßnahmen ergreifen, um ihnen schon jetzt eine Ausbildung in der angesichts der Umstände bestmöglichen Weise zu ermöglichen.

Leider bleibt es jedoch bisher nur bei einzelnen Wortmeldungen und Initiativen. So forderte Peter-André Alt, der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, etwa Anfang März von der Politik, die Hochschulen in Test- und Impfstrategien einzubeziehen. Antworten wurden offiziell keine bekannt. Ebenso sind einige wenige Unis gerade dabei, in Eigenregie Schnelltests für die Teilnahme an Präsenzprüfungen und Laborpraktika anzubieten – so beispielsweise die Uni Magdeburg, die Hochschule Bremerhaven und die Uni Heidelberg. Flächendeckende und einheitliche Konzepte fehlen jedoch weiterhin. Man hört bislang nicht einmal, dass „die Politik daran arbeiten“ würde.

Nicht zuletzt deshalb haben Studierende verschiedener Berliner Hochschulen vor einigen Wochen die Initiative #NichtNurOnline gestartet, um auf die zunehmende „Verödung der Universität“ aufmerksam zu machen. In einem Offenen Brief an den Senat und an alle Berliner Hochschulleitungen prangern sie an: „Die Selbstverständlichkeit, mit der die Universitäten geschlossen gehalten werden, entbehrt jeder Rechtfertigung.“ Und präsentieren überdies Vorschläge, wie eine vorsichtige Öffnung der Hochschulen zumindest ansatzweise angepackt werden könnte. Wir bringen den Brief daher hier im vollen Wortlaut:

 

Offener Brief für die Wiederaufnahme der Präsenzlehre
 an den Berliner Universitäten

Eine Initiative von Berliner Student:innen

An den Senat von Berlin


An alle Berliner Hochschulleitungen

Als Student:innen, studentische Hilfskräfte und Dozent:innen fordern wir den vorsichtigen und selbstverantwortlichen Übergang zur Präsenzlehre ab dem Sommersemester 2021. Universitäten sind Orte des lebendigen Austausches, der Kritik und der Erkenntnis. Die virtuelle Lehre kann dies nicht ersetzen. Wir fordern deshalb für alle Berliner Universitäten die Ermöglichung von Präsenzlehre und den Zugang zu Arbeitsplätzen unter den vom RKI empfohlenen Hygiene- und Verhaltensregeln.

Viele Student:innen leiden sehr unter der ausschließlich digitalen Lehre. Die komplette Isolation führt zu einer erheblichen physischen wie psychischen gesundheitlichen Belastung, die sich innerhalb der virtuellen Welt nicht beheben lässt. Zusätzlich wird diese Situation durch ständige technische Probleme erschwert – und in der kleinen Wohnung oder WG sind die Bedingungen für konzentriertes Arbeiten nicht gegeben. Student:innen ist es teilweise nicht möglich an Seminarsitzungen teilzunehmen und ihre Motivation schwindet. Gerade für Studienanfänger:innen ist ein weiteres rein digitales Semester nicht zumutbar. Mit mindestens drei Semestern im Home Office sehen wir den gesellschaftlichen Bildungsauftrag der Hochschulen gefährdet. Denn wer ausschließlich online studiert, hat nicht wirklich studiert.

Wir sind uns bewusst, dass Corona eine sehr ansteckende und gefährliche Krankheit ist. Auch Studierende und Dozierende gehören selbst zur Risikogruppe oder arbeiten oder leben mit Personen zusammen, die zu dieser gehören. Deswegen muss die Präsenzlehre durch digitale Formate unterstützt werden und unbedingt auf Freiwilligkeit beruhen. Wir fordern also für alle Berliner Universitäten die Ermöglichung von Präsenzlehre für kleine Seminare, Tutorien und Colloquien mit den vom RKI empfohlenen Hygienemaßnahmen. Dazu bedarf es der Bereitstellung der Vorlesungssäle samt zeitgemäßer Ausstattung: der Technik zur eventuellen simultanen digitalen Teilnahme und zu öffnender Fenster. Seminarräume wiederum sollten als Arbeitsräume zur Verfügung gestellt werden.

Das Hybridsemester, das für das Wintersemester 2020/21 angedacht war, soll für das Sommersemester 2021 realisiert werden. Uns ist bewusst, dass Präsenzlehre nur möglich ist, wenn sich Berlin nicht in einem kompletten (oder einem solidarischen) Lockdown befindet. Doch für die Universitäten sollten nicht länger Sonderregelungen gelten. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Universitäten geschlossen gehalten werden, entbehrt jeder Rechtfertigung: Es gibt keinen Grund, warum – parallel zum Online-Angebot – in den geräumigen Vorlesungssälen keine Seminare oder Tutorien stattfinden können. Das Sommersemester bietet außerdem die Möglichkeit, für kleine Kurse auch die Außenräume zu nutzen: Es könnte grundsätzlich den Dozierenden und Studierenden die Möglichkeit und Wahl gegeben werden, einzelne Sitzungen auch in den Innenhöfen der Universitäten abzuhalten.

Die Wiederaufnahme der Präsenzlehre muss auch mit einem hohen Maß an Selbstverantwortung von Seiten der Student:innen, studentischen Hilfskräfte und Dozent:innen einhergehen. Es ist selbstverständlich, dass in der Universität für alle die gängigen, vom RKI empfohlenen Hygiene- und Verhaltensregeln verbindlich sind. Im Falle einer Infektion muss dem:r jeweiligen Lehrenden Bescheid gegeben werden, woraufhin das Seminar bzw. das Tutorium digital weitergeführt wird.

Die Regeln sind inzwischen gut eingespielt und bleiben für sämtliche Teilnehmer:innen verpflichtend. Gewiss ist dies noch nicht die erhoffte Rückkehr zur Normalität des studentischen Lebens als notwendiger Voraussetzung für die Entfaltung geistiger Fähigkeiten. Doch können wir der Verödung der Universität und der Vereinsamung der Student:innen nicht länger tatenlos zusehen. Die Universität ist ein wichtiger Ort nicht nur der Wissensvermittlung und darüber hinaus der demokratischen Öffentlichkeit, sondern auch des sozialen Lebens, an dem Bekanntschaften gemacht und Freundschaften geschlossen werden. Nach einem Jahr der Lehre im Home Office ist der Zeitpunkt gekommen, Corona nicht als Begründung für einen neuen Normalzustand ohne Universität zu missbrauchen, sondern kreative Lösungen für Präsenzlehre zu diskutieren und umzusetzen. Die Universitäten dürfen nicht länger en bloc geschlossen gehalten werden.

Wir fordern die Berliner Hochschulleitungen und den Senat von Berlin auf, Student:innen Präsenzlehre auch unter Corona zu ermöglichen.

 

Auf der entsprechenden Webseite „praesenzlehre-berlin.org“ kann man den Brief unterzeichnen. Vielmehr aber wäre zu wünschen, dass das Thema „Pandemie-gerechte Öffnung der Hochschulen“ endlich auch woanders in Berlin ein deutlich aufmerksameres Gehör finden würde. Und natürlich ebenso weit darüber hinaus.

Ralf Neumann

 

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