Corona-Forschung per Glücksfall

16. Dezember 2020 von Laborjournal

 

Vieles läuft gut in der Corona-Forschung, vieles aber auch nicht.

Nehmen wir etwa die Meldung „Masken verringern Corona-Infektionsrisiko um 45 Prozent“, die in den letzten Tagen dutzendweise in diversen Medien erschien. Darin heißt es:

Ein Mund-Nasen-Schutz verringert das Corona-Infektionsrisiko einer Studie zufolge […] um durchschnittlich rund 45 Prozent. «Das sind 55 statt 100 Neuinfektionen», sagte der Mainzer Ökonom Klaus Wälde, einer der Autoren der in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlichten Studie […]. «Oder noch anschaulicher: Statt 20.000 Neuinfektionen am Tag hätten wir ohne Masken rund 38.000.»

Sicherlich erstmal eine positive Botschaft. Weil es gut ist, dass wir das jetzt wissen. Die Kehrseite jedoch ist, dass wir das eigentlich schon viel früher hätten wissen sollen.

Letzteres wollen wir hier ein wenig vertiefen. Wer sich also für die Details der Ergebnisse interessiert, muss sich an die Originalveröffentlichung halten – dazu kommt jetzt weiter nichts mehr. Denn aus allgemeinerer Sicht finden wir erstmal interessanter, wie die Studie überhaupt zustande kam. In der Meldung heißt es dazu:

Wälde hatte mit drei anderen Wirtschaftswissenschaftlern den Sonderweg Jena untersucht und mit Daten aus ähnlichen deutschen Städten verglichen. In der thüringischen Stadt wurden Schutzmasken – begleitet von einer Öffentlichkeitskampagne – bereits am 6. April eingeführt und damit rund drei Wochen früher als in den meisten anderen deutschen Kreisen und Städten. «Das war ein extremer Glücksfall, den man sich viel häufiger wünscht, um Infektionskanäle in der Wirklichkeit betrachten zu können», sagte Wälde. Die Wissenschaftler verglichen Jena mit Städten wie Trier, Darmstadt, Cloppenburg und Rostock. Dort waren Infektionsgeschehen, Bevölkerungsdichte, Durchschnittsalter, Seniorenanteil sowie die Ausstattung mit Ärzten und Apotheken ähnlich wie in Jena. «Wir haben geschaut, was in Jena und in den Vergleichsregionen drei Wochen nach der Einführung der Maskenpflicht passiert.»

Ein „extremer Glücksfall“ also. Das ist traurig!

Man sollte doch meinen, dass es oberstes Ziel sein muss, in diesen Pandemiezeiten schnellstmöglich diejenigen Fragen zu identifizieren, die wir am dringendsten klären müssen, um wissenschaftlich fundiert über geeignete Maßnahmen entscheiden zu können – und dann die Daten, die wir dazu brauchen, umgehend im Rahmen eines systematisch geplanten und aussagekräftigen Studiendesigns zu erheben. Ohne Zweifel gehört die Frage der tatsächlichen Effizienz des Maskentragens beim Eindämmen der Infektionszahlen zentral dazu. Dennoch konnten die Mainzer Forscher sie jetzt nur wegen eines „extremen Glücksfalls“ robust bearbeiten…?

Doch was wundern wir uns? Bereits vor Monaten schrieb Gerd Antes, ehemaliger Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums und Wegbereiter der evidenzbasierten Medizin in Deutschland, unter dem Titel „Wissenschaft in Corona-Zeiten – Hindernis oder Hilfe?“ in unserer Essay-Sommerausgabe:

Die Bevölkerung wurde durch ein mediales Gewitter von morgens bis abends mit der Bedrohung konfrontiert, und somit der Eindruck vermittelt, dass der Lockdown bewusste und gezielte Maßnahmen beinhalte – vom Schließen von nicht-systemrelevanten Einrichtungen und Geschäften sowie Schulen und Kitas bis hin zum Reise- und Veranstaltungsverbot und Grenzschließungen. Genau dies war jedoch nicht der Fall! Es war vielmehr ein panikartiges Dichtmachen mit plausiblen Mitteln wie Abstandhalten und Minimierung von persönlichen Kontakten, um damit mögliche Übertragungswege zu unterbrechen. […] Die Ende April eingeleitete Phase der Öffnungen wurde dann im Mai enorm beschleunigt und führte zur gleichzeitigen Öffnung von Einrichtungen jeglicher Art – ohne jegliche Begleitforschung, um ein Maß für die Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen und für die damit angerichteten Schäden zu erhalten.

Demnach blieb der Wissenschaft aufgrund des politischen Handelns keine Chance, die gewählten Maßnahmen mit systematischer und robuster Begleitforschung zu flankieren. Doch ist wirklich nur die Politik schuld? Hat sie mit ihrem teilweisen und zunehmend unkoordinierten Aktionismus die Installierung sauberer Begleitforschung schlichtweg überrannt?

Unser „Wissenschaftsnarr“ Ulrich Dirnagl sah es in unserem Novemberheft etwas anders. In seiner Kolumne schrieb er unter dem Titel „Wissenschaft berät Politik oder Survival of the Ideas that Fit“:

Vielmehr hat die Wissenschaft bisher kaum belastbare Erkenntnisse geliefert, ob und welche Maßnahmen (zum Beispiel der Lockdown) und Szenarien (beispielsweise ein funktionierendes und gut vorbereitetes Gesundheitssystem) tatsächlich wirksam waren. […]

Gerade wurde bei uns eine Sperrstunde eingeführt. Auf welcher Basis? Gehen die Leute dann aus den Kneipen nach Hause und stecken sich dort beim privaten Weiterfeiern an? Wird das Virus erst nach 23 Uhr besonders gefährlich? […] Welche Evidenz gibt es zu solchen Maßnahmen? Wurde sie berücksichtigt? Aufgrund welcher Evidenz beschließt man Beherbergungsverbote? Schulöffnungen? Schulschließungen? Und so weiter… […]

Warum haben wir nicht systematisch versucht, die fehlende Evidenz in den zurückliegenden Monaten zu generieren? Die Wirksamkeit einer Sperrstunde ist ein klassisches Beispiel für einen „Evidence Gap“ – also eine Lücke in der Beurteilung, die man zu schließen versucht, sobald man sie identifiziert hat. […]

Rationale wissenschaftliche Politikberatung hätte viel früher die relevantesten Wissenslücken identifizieren müssen – und im gleichen Atemzug die Politik dazu drängen müssen, die entsprechenden Mittel für deren Überwindung durch qualitativ hochwertige Forschung bereitzustellen.

Der Politik die Alleinschuld zu geben, ist daher wohl zu einfach. Die Wissenschaft hätte frühzeitig mit lauter Stimme klarmachen müssen, wie außerordentlich wichtig es für den weiteren Umgang mit der Pandemie ist, mit dem Verfügen beziehungsweise Aufheben der einzelnen Eindämmungs-Maßnahmen zugleich auch systematische und robuste Begleitforschung mit einzuplanen. Solange das nicht passiert, bleibt in vielen Fällen tatsächlich nur, glücklichen Zufällen hinterherzurennen, die eine solche Forschung in der erforderlichen Qualität womöglich trotzdem erlauben könnten.

Bei der Mainzer Maskenstudie hat es glücklicherweise geklappt. In vielen anderen Fällen wird man wohl vergeblich nach solchen Glückfällen suchen.

Ralf Neumann

(Foto: M. Brakemeier)

 

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Ein Gedanke zu „Corona-Forschung per Glücksfall“

  1. Karin Hollricher sagt:

    „Die Wissenschaft hätte frühzeitig mit lauter Stimme klarmachen müssen, wie außerordentlich wichtig es für den weiteren Umgang mit der Pandemie ist, mit dem Verfügen beziehungsweise Aufheben der einzelnen Eindämmungs-Maßnahmen zugleich auch systematische und robuste Begleitforschung mit einzuplanen. “

    GENAU SO IST ES. Kein Wunder, dass viele Menschen den Maßnahmen die Sinnhaftigkeit absprechen oder zumindest kritisch hinterfragen. Wird denn wenigstens jetzt den aufgeworfenen Fragen nachgegangen? Ich vermute, eher nicht.

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