Corona-Impfstoffe und das Nagoya-Protokoll

14. Oktober 2020 von Laborjournal

Letzte Woche schickte uns ein Leser folgende Frage:

Hallo liebe Laborjournalisten, im Nachgang zu Eurem hervorragenden Artikel „Corona-Impfstoffe: Die Ziellinie im Blick?“ ist mir folgende Frage eingefallen: Wem würde gemäß dem Nagoya-Abkommen „über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile“ ein Impfstoff eigentlich gehören? Das Virus wurde in China isoliert und sequenziert: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/nuccore/MN908947.3 Hierauf basieren im Grunde alle derzeitigen Ansätze zur Impfstoff-Entwicklung, insbesondere bei den mRNA-basierten Kandidaten. Sowohl China als auch Deutschland haben das Nagoya-Protokoll ratifiziert. Wenn ich das richtig interpretiere, dürften beispielsweise BioNTech und CureVac ohne chinesische Erlaubnis gar nicht mit der Sequenz arbeiten bzw. keine eigenen Schutzrechte anmelden. Für eine diesbezügliche Recherche wäre ich Ihnen sehr dankbar. Viele Grüße…

Zunächst: Was hat es mit dem Nagoya-Protokoll auf sich? Da sich Jörg Overmann als Geschäftsführender Direktor der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig ganz besonders mit dessen Regelungen auseinandersetzen muss, sprachen wir bereits im Mai 2018 mit ihm über dieses Thema. Damals erklärte er dazu:

Das Nagoya-Protokoll steht ja am Ende eines jahrzehntelangen Prozesses. Dazu gehört etwa, dass 1993 fast alle Länder der Welt die Convention on Biological Diversity (CBD) ratifizierten. Die CBD besagt, dass die biologischen Ressourcen eines Landes gleichsam Eigentum dieses Landes sind […] und daher auch möglichst viele Vorteile für die Geberländer biologischer Ressourcen entstehen sollen — auch finanzielle. […] Das Nagoya-Protokoll […] definiert nun genauer, wie in solchen bilateralen Fällen der sogenannte Vorteilsausgleich zwischen zwei Nationen funktionieren soll.

Zum Zeitpunkt des Interviews wurde gerade diskutiert, ob nicht auch die Nutzung genetischer Ressourcen in rein digitaler Form — also deren bloße Rekrutierung aus Datenbanken — unter das Nagoya-Protokoll fallen solle. Auf die Frage, was dies für die Forschung bedeuten würde, antwortete Overmann:

Das wäre natürlich ein Schritt, der die gesamten Lebenswissenschaften in großem Umfang lahmlegen würde — zumindest in Kooperationen mit Ländern außerhalb Europas und Nordamerikas. Da gibt es keinen Zweifel. […] Weil die digitale Nutzung genetischer Ressourcen ja viel größere Kreise der Forschung betrifft — eigentlich die ganzen biomedizinischen Wissenschaften.

Die Entscheidung darüber, auch die Nutzung digitaler Sequenzinformationen den Vorteilsausgleich-Regelungen des Nagoya-Protokolls zu unterstellen, wurde Ende November 2018 erst einmal bis zum Jahr 2021 vertagt — und die weitere Bearbeitung an eine Expertengruppe übergeben.

Damit war die obige Leser-Frage eigentlich schon beantwortet. Die Entwicklung eines auf chinesischen Sequenzdaten basierenden SARS-CoV-2-Impfstoffes sollte demnach keine Erlaubnis Chinas brauchen, um mit der entsprechenden digitalen Sequenzinformation arbeiten zu dürfen. Und für die Anmeldung eigener Schutzrechte gäbe es daher erst recht keine Probleme für die  Entwickler.

Dennoch stellten wir die Leserfrage zur weiteren Abklärung auch an Jörg Overmann. Der leitete sie umgehend an die Justiziarin des DSMZ weiter — und übersandte uns anschließend ihre ausführliche Antwort:

Bei dieser Leserfrage handelt es sich um eine höchst interessante Frage. […] In Artikel 6 des Nagoya Protokolls heißt es:

Artikel 6: Zugang zu genetischen Ressourcen

(1) In Ausübung der souveränen Rechte in Bezug auf die natürlichen Ressourcen und vorbehaltlich der innerstaatlichen Gesetze oder sonstigen Vorschriften über den Zugang und die Aufteilung der Vorteile bedarf der Zugang zu genetischen Ressourcen für ihre Nutzung der auf Kenntnis der Sachlage gegründeten vorherigen Zustimmung der Vertragspartei, die diese Ressourcen zur Verfügung gestellt hat, das heißt des Ursprungslands dieser Ressourcen oder einer Vertragspartei, welche die genetischen Ressourcen in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen erworben hat, sofern diese Vertragspartei nichts anderes bestimmt hat.

Das Nagoya Protokoll benutzt also weder den Begriff des „Eigentums“ oder des „Besitzes“, sondern spricht zurückhaltender von „souveränen Rechten“.

Weitere Informationen finden Sie in dem Leitfaden zum Anwendungsbereich im Europäischen Amtsblatt unter:

2.1.2. Genetische Ressourcen fallen nur dann in den Anwendungsbereich der Verordnung, wenn die Bereitstellerländer das Protokoll ratifiziert und den Zugang zu genetischen Ressourcen geregelt haben.

Die Verordnung gilt nur für genetische Ressourcen aus Bereitstellerländern, die das Nagoya-Protokoll unterzeichnet und anwendbare Zugangsregelungen erlassen haben (2).

Nach Artikel 2 Absatz 4 gilt die Verordnung für genetische Ressourcen und traditionelles Wissen, das sich auf genetische Ressourcen bezieht, auf die bzw. auf das Zugangsregelungen (ABS-Vorschriften oder rechtliche Anforderungen) anwend­bar sind, und sofern diese Zugangsregelungen von einer Vertragspartei des Nagoya-Protokolls erlassen wurden.

Uns und dem Bundesamt für Naturschutz, mit dem wir in einem engen Austausch dazu stehen, sind Stand heute keine Gesetze bekannt, die China in Bezug auf das Nagoya-Protokoll erlassen hat. Nach unserem Kenntnisstand ist daher der Zugang zu den genetischen Ressourcen noch nicht geregelt.

Interessant ist in dem Zusammenhang mit Krankheitserregern vielleicht generell auch noch der Abschnitt in dem gleichen Dokument zu der Absichtlichkeit des Zugangs, in dem auf Krankheitserreger eingegangen wird:

5.1.1. Absichtlichkeit des Zugangs

Krankheitserreger und Schädlinge können sich in unkontrollierter Weise ausbreiten, beispielsweise durch Nahrungsmittel, die in die EU eingeführt oder zwischen Mitgliedstaaten gehandelt werden, wobei lediglich die Absicht bestand, eine Ware, nicht jedoch einen Krankheitserreger weiterzugeben. Auch Reisende können Krankheitserreger — ebenfalls unbe­absichtigt — verbreiten. (In dem Fall lässt sich häufig nicht einmal mehr feststellen, aus welchem Land die Erreger stam­men.) Mit Pflanzen oder Holz, die als Waren eingeführt werden, können Blattläuse oder Käfer, mit eingeführtem Fleisch Bakterien wie Campylobacter und von Reisenden oder anderen Personen (z. B. erkranktem medizinischem Personal), die zur Behandlung in einen EU-Mitgliedstaat verbracht werden, Ebola-Viren eingeschleppt werden. In keinem der genannten Fälle werden die Schadorganismen als genetische Ressourcen absichtlich eingeführt oder verbreitet. Deshalb gilt, dass die Verordnung auf Krankheitserreger oder Schädlinge, die zusammen mit einem Menschen, einem Tier, einer Pflanze, einem Mikroorganismus, Nahrungs- oder Futtermitteln oder anderem Material aus einem Drittland oder aus einem Mit­gliedstaat mit Zugangsregelungen unbeabsichtigt auf das Territorium der EU gelangen, keine Anwendung findet. Das ist auch der Fall, wenn solche genetischen Ressourcen aus einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen gelangen.

Jörg Overmann selbst ergänzte dazu noch:

… Soweit also der Kommentar aus unserer Rechtsabteilung. Zusätzlich möchte ich noch folgende Punkte anfügen:

– Das Nagoya-Protokoll und die zugehörige Richtlinie 511/2014 der EU erstreckt sich gerade NICHT auf Digitale Sequenzinformation (DSI). Es gibt derzeit […] zwar eine breite internationale Diskussion zum gerechten Vorteilsausgleich (an der wir auch intensiv teilnehmen), aber dazu existiert bisher kein internationales Rechtsabkommen.

– Es gibt bereits Tausende von (öffentlich verfügbaren) Genomsequenzen von SARS-CoV-2 und auch bereits viele Isolate aus verschiedenen Ländern. Es wurde von Anfang an versucht, die DSI zu SARS-CoV-2 schnellstmöglich — auch vor Begutachtung der Publikationen — für die Öffentlichkeit verfügbar zu machen, damit die Diagnostik und Impfstoffentwicklung möglichst schnell entwickelt werden kann. Ich bin mir daher nicht so sicher, dass die Entwicklungsarbeit sich auf ein einziges Isolat ausschließlich aus Wuhan konzentriert. Zudem gehen in die Entwicklung üblicherweise viele (Sequenz-)Informationen mit ein, um einen geeigneten Impfstoff zu finden.

Ich hoffe, diese Informationen helfen etwas weiter.

Darüberhinaus schickten wir die Leserfrage noch an den „Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland“ (VBIO), dessen Berliner Geschäftsstellen-Leiterin Kerstin Elbing folgendes antwortete:

Die Frage, ob digitale Sequenzinformationen zukünftig unter das Nagoya-Protokoll fallen sollen, wird derzeit noch verhandelt. Da also noch nichts entschieden ist, fallen Sequenzinformationen derzeit nicht unter das Nagoya-Protokoll (Völkerrecht). Allerdings steht es allen Herkunftsländern schon heute frei, „irgendwelche“ Beschränkungen nach nationalem Recht zu erlassen. Die Chinesen haben das aber meines Wissens nach nicht getan. Wenn, dann hätte man davon gehört, weil dann ja auch die Entwicklung diagnostischer Tests schon regelungspflichtig gewesen wären, und nicht erst die Impfstoff-Entwicklung. Zudem gibt es im Nagoya-Protokoll einen allgemeinen Hinweis auf eine WHO-Regulation, demzufolge der Austausch von Pathogenen nicht behindert werden soll.

Eine spannende Frage ist noch, ob man in Hinblick auf den Zugang zu physischen Ressourcen (Isolierung und Sequenzierung mit Material von einer deutschen Person in Deutschland) tatsächlich auf der sicheren Seite wäre. Eigentlich schon – aber wir diskutieren in anderem Kontext auch die Frage, wer „Eigentumsrechte“ an den genetischen Ressourcen der Küstenseeschwalbe hat. Es gibt da tatsächlich die Position, dass vom nördlichen Polarkreis bis Südafrika alle überflogenen Länder zu beteiligen sind. Aber dies nur am Rande…

Klingt also nach Entwarnung allenthalben, dass den SARS-CoV-2-Impfstoffentwicklern durch die Regelungen des Nagoya-Protokolls irgendwelches Unheil drohen könnte. Allerdings muss das trotz der klaren Aussagen oben nicht immer so sein. 2018 berichtete Jörg Overmann auf die Frage nach potenziellen Negativ-Auswirkungen des Nagoya-Protokolls bei globalen Krankheitsausbrüchen jedenfalls folgendes:

Das hat es in der Tat schon mit dem bestehenden Protokoll gegeben — und zwar bei Influenza. Da hielt ein Land die entsprechenden Proben zurück, weil man befürchtete, dass Pharmakonzerne diese nutzen würden, um Geld zu machen. Leider geht es am Ende ja immer um diese Diskussion. Das ist also in der Tat eine grundsätzliche Gefahr, die insbesondere bei Viruserkrankungen droht, da die Erreger ja häufig sehr schnell sequenziert und analysiert werden müssen, um weiterzukommen. Eine Verschärfung der Nutzungsregeln hätte hier also ganz sicher unmittelbare Auswirkungen auf die Krankheitsbekämpfung.

So gesehen sollten die aktuellen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie eigentlich mit dafür sorgen, dass man die Nutzung rein digitaler Sequenzinformationen am Ende vernünftigerweise nicht dem Diktat des Nagoya-Protokolls unterwirft.

Ralf Neumann

 

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