Editorial

Von Menschen und Mäusen, die Wissen schaffen

Von Stephanie Krämer, Gießen


(15.07.2019) Tierversuche sind gegenwärtig vor allem in der biomedizinischen Forschung unverzichtbar. Gleichzeitig rückt der Tierschutz immer mehr in den Fokus. Für einen Kompromiss müssen Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen im Zuge der 3R-Forschung zusammenarbeiten.

Essays
Illustr. : iStock / MHJ

Scientia – die Wissenschaft! Die Lexika dieser Welt können dieses gewaltige Wort nicht mit nur einem Begriff umschreiben. Vielmehr spiegelt Scientia die Gesamtheit allen Wissens, vereint Systeme und bildet Prozesse ab, die der Erlangung von Erkenntnissen dienen und kann sogar als Oberbegriff für wissenschaftliche Einrichtungen, einschließlich der beteiligten Menschen, verwendet werden. Die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes geht dabei auf scindere – „schneiden“ zurück. Daraus entwickelte sich scire – „unterscheiden/unterteilen“ und bildete die Basis für Scientia – die Wissenschaft.

Warum betreibt der Mensch Wissenschaft? Es liegt wohl in unserer Natur, es ist uns in die Wiege gelegt worden oder besser gesagt, das menschliche Erkundungsverhalten beginnt bereits mit der Fötalentwicklung. Im Gehirn eines Fötus entwickeln sich pro Minute 250.000 neue Nervenzellen. Diese verknüpfen sich pro Sekunde 1,8 Millionen Mal. Dies geschieht so oft, bis sich circa 85 Milliarden Nervenzellen formiert haben. Bei einem Erwachsenen kommuniziert jede Nervenzelle mit ungefähr 10.000 anderen [1].

Diese Verknüpfungsprozesse werden unter anderem stark von äußeren Faktoren beeinflusst. Je komplexer diese Einflussfaktoren sind, desto intensiver verknüpfen sich die neuro­nalen Strukturen. Diese Phänomene sind nicht nur für Neurologen und Genetiker bedeutsam, sondern spielen auch in der Entwicklungspsychologie eine herausragende Rolle, da davon auszugehen ist, dass die Entwicklung des eigenen Ichs, die Einzigartigkeit des Seins, stark an diese Prozesse geknüpft ist. Die dem Menschen gegebene genetische Vielfalt wird also zusätzlich durch äußere Faktoren modifiziert und die dabei stattfindenden neuronalen Verschaltungen implizieren eine Modifizierung der Persönlichkeitsstruktur. Daher könnte man das intrinsische Verlangen nach Erkenntnisgewinn auch als einen biologischen Vorgang der Ich-Entwicklung verstehen. Die sich dahinter verbergende Vielfalt der Möglichkeiten der Verschaltungsprozesse spiegelt somit auch die individuellen Neigungen, Interessenlagen beziehungsweise Forschungsausrichtungen wider. Die einen sind den Geisteswissenschaften zugeneigt, andere orientieren sich ins Weltall, wiederum andere versuchen, genau diese komplexen Vorgänge des Lebens zu verstehen.

Die Wissenschaft hat in ihrem Ansehen einen sehr hohen Stellenwert, daher bedient man sich auch gerne des Begriffs der Auslebung einer Wissenschaftskultur. Kultur ist etwas, was der Mensch für sich als Alleinstellungsmerkmal definiert hat. Die meisten Menschen sind der festen Überzeugung, dass Kultur die Trennungslinie zwischen Mensch und Tier abbildet, da nur der Mensch in der Lage sei, einen geistigen Raum zu schaffen, in dem es möglich wird, kollektives Wissen anzuhäufen und für andere Menschen nutzbar zu machen.

Die Entwicklung dieser Räume unterliegt dynamischen Prozessen und kennzeichnet den geistigen beziehungsweise kulturellen Fortschritt. Darüber ergeben sich zwangsläufig moralische Systeme und Normen, denn die Nutzbarmachung des angesammelten Wissens für das Kollektiv setzt die Schaffung gleichberechtigter Zugänge zu diesen Systemen voraus. Die Schaffung von Normen ermöglicht das gesellschaftliche Zusammenleben und setzt sich zum Wohle der Mehrzahl daher oftmals über die Forderungen eines Individuums hinweg. Dies bringt uns zu der Frage: Was darf die Wissenschaft? Gibt es Grenzen oder gibt Wissenschaft ein Pauschalrecht, sich über diese Grenzen hinwegzusetzen? Diese Frage wird gerade in der biomedizinischen Grundlagenforschung häufig gestellt, wenn es um den Einsatz fühlender Wesen zur Klärung wissenschaftlicher Fragestellungen geht, also um den Tierversuch.

Lassen Sie uns das Rad der Geschichte noch einmal weit zurückdrehen. Es begann vor 100 bis 80 Millionen Jahren, als sich die ersten Supraprimaten oder Euarchontoglires entwickelten. Aus diesen gingen viele Jahre später Primaten und Menschen, aber auch Nagetiere (Rodentia) hervor [2]. Die Frage nach ihrer Herkunft hat die Menschheit seit jeher beschäftigt. Den Blick zurück im Jetzt zu nehmen, dient dabei der Annäherung an die Frage, was wird in Zukunft sein. Diese Frage ist faktisch nicht zu beantworten, das Wissen darum scheint jedoch zunehmend von existenzieller Bedeutung zu sein. Da der Mensch sich in seiner vermeintlichen Einzigartigkeit das Recht über die Natur zu verfügen, zu Eigen gemacht hat, sieht er sich mehr und mehr mit den daraus resultierenden Konsequenzen konfrontiert. Negative Umwelteffekte sind unübersehbar, Ressourcen verbrauchen sich, die Weltbevölkerung steigt. Die Wiege der Menschheit wird in Afrika vermutet, neuerdings wird auch Südeuropa diskutiert.

Was somit für die Menschheit aktuell nicht mit hundertprozentiger Sicherheit gesagt werden kann, ist für die Maus ziemlich eindeutig belegt. Die Familie der Muridae entstammt steppenartigen Gebieten des heutigen Indiens beziehungsweise Südostasiens. Vor ungefähr 10.000 Jahren entwickelte sich die Ausganglinie der heutigen Hausmäuse (Mus musculus). Diese entdeckte sehr schnell, dass sich lohnenswerte kommensale Beziehungen zu Menschen aufbauen ließen und beschloss fortan, den Menschen auf ihren Wegen zu folgen. Die modernen Labormauspopulationen, die zum Modellorganismus Nummer eins in der biomedizinischen Forschung avanciert sind, sind das Ergebnis eines verschlungenen Kreuzungsvorgangs, der sich aus den ursprünglichen Mus-musculus-Spezies und Generationen sogenannter Fancy Mice (Hobbyzuchten) aus Asien sowie Europa und abschließend einem komplexen Netzwerk von Inzuchtverwandtschaftsverhältnissen ergeben haben [3].

Auch wenn Mäuse den Menschen auf den ersten Blick nicht wirklich ähnlich sind, so gibt es doch eine ganze Reihe an Übereinstimmungen, die maßgeblich zu den Top-Platzierungen der Muridae im Ranking der Versuchs­tierstatistik beigetragen haben. So tragen Mäuse und Menschen eine Vielzahl gleichgearteter Gene in sich, molekulare Prozesse unterliegen vergleichbaren Steuerungsmechanismen und nicht zuletzt erkranken Mäuse wie Menschen an Krebs oder Diabetes. Der Einsatz von Mäusen und den größeren Vertretern, den Ratten, hat zu einem enormen Erkenntnisgewinn in der Biologie, der Physiologie und der Krankheitslehre geführt. Würde man alle Erfolge und Durchbrüche in der biomedizinischen Grundlagenforschung auflisten, die mit Experimenten an Mäusen gewonnen wurden, so würde man eine Art Lebenslauf eines Lebensretters erstellen können.

Betrachten wir einmal die Mensch-Maus-Beziehung, so können wir festhalten, dass sich die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung des Einsatzes von Versuchstieren stark gewandelt hat und zunehmend kritisch hinterfragt wird. Diese Veränderungen sind keinesfalls Ausdruck eines Zeitgeistes, der sich á la mode in den vergangenen fünf Jahren herauskristallisierte, sondern sind vielmehr das Resultat langwährender Prozesse, die die Bedeutung und den Stellenwert des Tieres immer wieder zur Diskussion gestellt haben. Neben rein ethischen Aspekten, die beispielsweise auf die Leidensfähigkeit der Tiere ausgerichtet sind oder auf tierrechtlichen Fragen, waren an diesem Umdenkprozess auch Kritiker aus den eigenen Reihen der biomedizinischen Forschung beteiligt. So veröffentlichten die britischen Wissenschaftler William Russell und Rex Burch bereits im Jahre 1959 das Buch „The Principles of Humane Experimental Techniques“ und haben darin als Kerngröße das sogenannte 3R-Prinzip postuliert [4]. Dieses besagt, dass idealerweise jedes Tierversuchsvorhaben durch ein Alternativverfahren zu ersetzen wäre (Replace). Ist dies nicht möglich, sollte stets die geringste Zahl an Versuchstieren eingesetzt werden (Reduce). Im Versuch sollten die Tiere so wenig wie möglich Schmerzen, Leiden oder Schäden erdulden müssen, daher sollten alle Verfahren am Tier im Sinne einer Belastungsreduzierung verfeinert werden (Refine).

Auch wenn die Ausführungen von Russell und Burch geradezu von visionärer Bedeutung waren, so muss festgehalten werden, dass die Implementierung des Konzepts nicht stetig verlief, sondern vielmehr in Etappen [5]. Die Jahre von 1959 bis 1979 können als Inkubationszeit beschrieben werden, in der das Konzept weitestgehend ruhte. Von 1980 bis 1990 fand es vermehrt Beachtung. Eine Reifephase in den Jahren 1990 bis 2007 schloss sich an und mündete schließlich in einem Paradigmenwechsel (2007 bis heute). Zu den Einflussgrößen der 90er-Jahre gehörten in Deutschland unter anderem die sichtbar werdenden Aktivitäten von Tierrechtsbewegungen, die Gründung der ZEBET (Zentrale Erfassungsstelle zur Bewertung von Ersatzmethoden im Tierversuch, Berlin) im Jahre 1989 [6] und dem wachsenden Interesse am Tierschutz im Allgemeinen.

Im Jahre 2002 wurde der Tierschutz in Deutschland zum Staatsziel erklärt. Darüber hinaus erarbeitete die Europäische Union Konzepte, die Änderungen im Chemikaliengesetz vorsahen. Hersteller und Importeure von Chemikalien müssen seit 2007 Daten zur Unbedenklichkeit ihrer Produkte erbringen, erst dann kann eine Registrierung und Marktzulassung erfolgen („No Data, no Market!“) [7]. Mit der Umsetzung dieser Verordnung wurde Gewiss, dass zur Durchführung der obligatorischen Prüfverfahren die Zahl der Versuchstiere steigen würde. Zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen erschien es daher notwendig, zeitgleich den Tierschutz in diesem Feld zu erhöhen. Die EU erkannte, dass der erste Schritt in einer Harmonisierung der europäischen Tierschutzgesetze liegen muss. In dieser Phase besann man sich des 3R-Konzepts von Russell und Burch und verankerte dieses in der EU-Direktive 2010/63 [8]. Im Jahre 2013 hatte die Implementierung der Direktive in nationales Recht zu erfolgen. Seitdem müssen Antragstellungsverfahren im Rahmen der Durchführung genehmigungspflichtiger Tierversuche unter Berücksichtigung der Erfüllung der 3R-Prinzipien geprüft werden.

Die Entwicklungen in der biomedizinischen Forschung sind naturgemäß äußerst dynamisch. Dies erfordert die stetige Anpassung beziehungsweise die Entwicklung neuer Modelle. Für die Entwicklung neuer tierbasierter Verfahren muss somit jede Technik hinsichtlich der Möglichkeiten des Refinements überprüft und im Sinne der Belastungsminimierung adaptiert werden. Die beiden Verfasser des 3R-Konzepts definierten den Begriff des Refinements mit den Worten: „Jede Maßnahme, die dazu beiträgt, die Häufigkeit oder Schwere sogenannter inhumaner Prozeduren zu verringern, an Tieren, die noch für wissenschaftliche Zwecke eingesetzt werden müssen“. Dabei basiert der Leitgedanke von 3R auf den Prinzipien der sogenannten Inhumanität (Einsatz von Versuchstieren) und Humanität (Einsatz von Alternativverfahren).

Das ultimative Ziel von 3R kann als ein kollektives Streben nach Humanität verstanden werden und ist darauf gerichtet, alle Aspekte auszulöschen, die sich unter dem Begriff der Inhumanität subsumieren lassen. Diese Definition von Refinement kann allerdings nur verstanden werden, wenn man sich die dazugehörige Interpretation der Begriffe der Inhumanität sowie Humanität nach Russell und Burch verdeutlicht. Hierbei handelt es sich um keine normative Auslegung der Worte, vielmehr um eine deskriptive auf der Basis sinnlicher Wahrnehmungen. Vereinfacht gesagt, ist der Begriff der Inhumanität gleichzusetzen mit einem unangenehmen Gefühlszustand („Distress“). Russell und Burch verstehen das 3R-Konzept dabei als Instrument, mit dessen Einsatz es möglich wird, jedes Tier-basierte Versuchsvorhaben auf der Skala der Prozeduren von „inhuman“ in Richtung „human“ zu verschieben.

Erkenntnisgewinne in der biomedizinischen Forschung waren seit jeher an einen innovativen technischen Fortschritt gekoppelt. Daher proklamieren die Akteure der Wissenschaft, dass sie den Anspruch haben, stets die beste Methode zur Beantwortung einer biomedizinischen Fragestellung einzusetzen. Das wirft die Frage auf, ob das Mausmodell tatsächlich das beste verfügbare Modell abbildet. Speziell im Segment der Toxizitätsprüfung konnten Technologien etabliert werden, die dem Tiermodell weit überlegen sind. Eine Vielzahl potenter Alternativmodelle konnte bereits entwickelt werden, wurde sogar mit renommierten Tierschutzpreisen ausgezeichnet und findet dennoch keinen Einzug in die Routine. Erklärungen für dieses Phänomen gibt es einige. Zum einen werden Kosten-Nutzen-Verhältnisse angeführt, zum anderen werden differenzierte Analysen verlangt, welche die Sicherheit der Alternativen evidenzbasiert belegen. Paradoxerweise dient das Tiermodell als Vergleichsgröße, um das methodische Potenzial zu bewerten.

Somit wird es zukünftig wohl nicht nur in den Händen der Wissenschaft liegen können, die Entwicklungen neuer alternativer Verfahren voranzutreiben, sondern es erfordert die Beteiligung der Politik. Es bedarf der Gestaltung und Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen, um die Entwicklung und Diffusion von Innovationen in diesem Feld zu gewährleisten. Dies ist ein äußerst wichtiger Faktor und verdeutlicht den Aspekt, dass 3R-Forschung nur erfolgreich sein kann, wenn auch die finanziellen Möglichkeiten gegeben sind, gute Ideen so weit voranzutreiben, dass daraus verlässliche und aussagekräftige Alternativverfahren entwickelt werden.

Natürlich sind alternative Modelle, wie auch das Tiermodell, nur ein Modell. Modelle basieren auf Ähnlichkeiten hinsichtlich ihrer Funktionsweise, ihrer Struktur oder auch hinsichtlich ihres Verhaltens zu einem Original. Das Original kann dabei der Mensch oder auch das Tier sein, denn auch die Tiermedizin ist in vergleichbarer Weise wie der Mensch auf den biomedizinischen Fortschritt angewiesen. Diese Modelle werden dann zur Problemlösung eingesetzt, denn die Durchführung am Original wäre ethisch nicht vertretbar oder grundsätzlich nicht machbar. Die Interpretation von Daten hängt dann wiederum von der genauen Kenntnis des eingesetzten Modells ab, also worin liegen dessen Stärken und Schwächen, und wie sind in diesem Kontext die gewonnenen Daten zu verstehen.

Es liegt auf der Hand, dass eine Maus kein Mensch ist, und es ist auch nicht zu leugnen, dass in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden. Daher ist es von herausragender Bedeutung, dass Misserfolge ebenso kommuniziert werden, wie die zahlreichen Erfolge, die durch den Einsatz von Tiermodellen erzielt wurden. Ein Problem in der Kommunikation von Tierversuchen mag in dem Phänomen der „Schwarz-Weiß-Argumentation“ begründet liegen. Die Dinge verlangen aber nach einer differenzierteren Betrachtungsweise. Genauso verhält es sich mit der Übertragbarkeit von Ergebnissen, diese müssen ebenso differenziert betrachtet werden, unabhängig davon, ob sie im Tierexperiment oder im Alternativverfahren gewonnen wurden. Darüber hinaus lässt eine differenzierte, problemorientierte Handlungsweise den Dialog eher zu.

Wir befinden uns gerade in der modernen Gesellschaft im Streben nach Perfektion und erklären diese zu unserem Standard. Diese Entwicklung muss speziell in der Wissenschaft als sehr kritisch erachtet werden. Der absolute Anspruch auf Perfektion und Unfehlbarkeit verringert die Offenheit, aber auch die Möglichkeiten der Innovation und Erfindungskraft. Misserfolge können dann in der Umkehr der Perfektion, in der Tabuisierung resultieren. Dies führt zum Stillstand des Dialogs und das wäre bezüglich des Tierschutzes fatal. Daher müssen alle Beteiligten gesprächsbereit bleiben, den Austausch und das kritische Gespräch suchen, denn dies führt über lange Sicht zum Erfolg, wie anhand der aktuellen Bestrebungen der zügigen Umsetzung des 3R-Gedankens deutlich zu sehen ist.

Das 3R-Prinzip erscheint einen wesentlichen Beitrag in diesem Diskurs leisten zu können. Es ist wissenschaftlich und politisch zugleich und verfolgt in erster Linie eines: das Recht des Tieres auf dessen Unversehrtheit zu respektieren – und uns somit dazu anzuhalten, mit Nachdruck Methoden zu entwickeln, die dem Tiermodell überlegen sind. In jüngster Zeit haben sich sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene verstärkt 3R-Zentren formiert. Hier arbeitet eine Community eng zusammen, die bereits zu früheren Zeitpunkten im 3R-Segment aktiv war, speziell im Bereich des Refinements. Der engagierte Personenkreis setzt sich dabei aus Tierärzten mit der Fachspezialisierung Versuchstierkunde und Tierschutz, Tierschutzbeauftragten, Tierhausleitern und im Feld tätigen Wissenschaftlern zusammen. Somit lässt sich hier klar eine Motivation zur Stärkung des 3R-Gedankens ablesen, die sich aus der Professionalisierung der Beteiligten heraus ergibt. Diesen Ansatz könnte man als disziplinär beschreiben, dies allein genügt jedoch nicht, um das 3R-Konzept nachhaltig umzusetzen, da die 3R-Idee so zwangsläufig in einem nur relativ kleinen Kreise verbliebe.

Der von Russell und Burch entwickelte Gedanke geht aber weit über eine reine Berufsgruppe hinaus. Allein anhand der verwendeten Begrifflichkeiten der Humanität und Inhumanität wird deutlich, dass das Problem eine starke ethische Komponente aufweist, sich als gesellschaftliche Angelegenheit präsentiert. Angewandter Tierschutz basiert immer auf rechtlichen Vorgaben und erfordert die juristische Prüfung, die wiederum soziale Normen berücksichtigen muss. Und tatsächlich werden innovative Techniken in der Regel von denen entwickelt, die keinen oder nur sehr selten Kontakt zu Versuchstieren haben. Daher werden Kommunikationskonzepte notwendig, die zu einer weiteren Verbreitung des 3R-Prinzips beitragen. Tatsächlich ist es so, dass es bereits Bemühungen der unterschiedlichen Berufsgruppen und Forschungsfelder gibt. Somit könnte man bereits von einem multidisziplinären Ansatz sprechen, per definitionem arbeiten Forscher aus unterschiedlichen Gebieten nebeneinander zu Aspekten eines Problems. Die Schwierigkeit liegt nachvollziehbarerweise darin, diese Erkenntnisse zusammenzutragen und darüber zu potenzieren. Auch das entspricht nicht dem Gedanken von Russell und Burch. Vielmehr sollte ein interdisziplinärer Ansatz erarbeitet werden.

Die 3R-Forschung kann als Forschungsdisziplin verstanden werden, die sich nicht allein mit biomedizinischen Fakten, sondern auch mit gesellschaftlichen und politischen Problemen auseinanderzusetzen hat. Somit kann sich diese Wissenschaftsform nicht allein auf interne Stimuli fokussieren. Ein interdisziplinärer Ansatz geht von einer gemeinsamen Er- und Bearbeitung von Hypothesen und Technologien aus, die in einem Austausch von Konzepten und Daten münden. Das Hauptziel der interdisziplinären Forschung kann in der Mehrung und Integration von Wissen verstanden werden, deren zentrales Erfolgskriterium es sein sollte, die Ergebnisse einer problemorientierten Forschung zu diffundieren [9].

Hier schließt sich der Kreis und wir kommen zurück zum Nucleus, der Scientia. Nur auf der Basis einer interdisziplinär ausgerichteten 3R-Forschung, die Naturwissenschaftler, Geisteswissenschaftler, Juristen und viele andere mehr eint, wird es uns gelingen, das Wissen zu potenzieren, die beste Methode zu identifizieren und dem fühlenden Individuum Maus wertschätzend zu begegnen.



Referenzen

[1] Front. Hum. Neurosc., 3: 31

[2] PLOS Biology, doi: 10.1371/journal.pbio.0040091

[3] Mamm. Genome, doi: 10.1007/s00335-012-9441-z.

[4] Russell, W. M. S., & Burch, R. L. (1959). The principles of humane experimental technique. London: Methuen

[5] Stephens, M. L., & Mak, N. S. (2013). History of the 3Rs in Toxicity Testing: From Russell and Burch to 21st Century Toxicology. Reducing, Refining and Replacing the Use of Animals. Toxicity Testing, 19,1.

[6] Spielmann, H., Grune-Wolff, B., Liebsch, M. (1994). ZEBET: Three Years of the National German Center for Documentation and Evaluation of Alternatives to Animal Experiments at the Federal Health Office (BGA) in Berlin. Alternatives to Animal Testing. New Ways in the Biomedical Sciences. Trends and Progress. Reinhardt, C. A. (ed.). VCH, Weinheim.

[7] REACH-Verordnung (EG) 1907/2006], Europäische Chemikalienverordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe.

[8] Directive 2010/63/EU of the European Parliament and of the Council of 22 September 2010 on the protection of animals used for scientific purposes Text with EEA relevance.

[9] Hollaender, K. (2003). Interdisziplinäre Forschung, Merkmale, Einflussfaktoren und Effekte. Inaugural-Dissertation, Philosophische Fakultät der Universität zu Köln.



Zur Autorin

Stephanie Krämer studierte nach Ausbildungen zur Tierarzthelferin und zur Medizinisch-technischen Assistentin Veterinärmedizin an der Freien Universität Berlin. Im Jahr 2014 habilitierte sie an der Universität Potsdam. Heute ist Krämer am 3R-Zentrum der Justus-Liebig-Universität Gießen Inhaberin der Professur für Tierschutz und Versuchstierkunde mit dem Schwerpunkt Refinement nach dem 3R-Prinzip.


Letzte Änderungen: 15.07.2019