Editorial

Überdenken

Ohne langen Atem geht es nicht

Von Markus Enzelberger, Planegg


Essays
Illustr.: iStock / Akindo

(12.07.2017) Wieso Arzneimittel-Entwickler in 15-Jahres-Zeiträumen rechnen – und warum Misserfolge zum Pharma- und Biotech-Geschäft dazugehören.

Bei Morphosys steigt die Spannung. Die Wissenschaftler des Antikörper- und Medikamentenentwicklers aus Planegg bei München erwarten demnächst eine wegweisende regulatorische Entscheidung, die einen Durchbruch für das Unternehmen und die Erfüllung vieler Forscherträume bedeuten könnte.

Guselkumab [5] heißt der Hoffnungsträger, ein voll humaner Antikörper, der gegen einen wichtigen Botenstoff in Auto­immunerkrankungen namens Interleukin-23 gerichtet ist. Er wird vom US-amerikanischen Pharmaunternehmen Janssen in der Indikation Plaque Psoriasis (Schuppenflechte) entwickelt und hat in klinischen Phase-III-Studien bislang herausragende Ergebnisse gezeigt. Sollte die amerikanische Zulassungsbehörde FDA Janssens Antrag auf Zulassung zustimmen, könnte Guselkumab möglicherweise schon im dritten Quartal dieses Jahres auf den Markt kommen – 14 Jahre nach Beginn der Arbeiten an dem Projekt. Damit wäre Guselkumab das erste zugelassene Medikament aus der Technologieplattform von Morphosys – pünktlich zum 25-jährigen Jubiläum des deutschen Biotechnologieunternehmens.

Bei allem gewünschten, erhofften und sicherlich auch verdienten Erfolg stellen sich Wissenschaftler und Nichtwissenschaftler, die nicht jeden Tag in der Wirkstoffforschung arbeiten, die Frage: Warum dauert Medikamentenentwicklung eigentlich so lange? Beziehungsweise: Warum dauert es so lange, bis eine Technologie ein Medikament liefert?

Dies soll im folgenden am Beispiel der Antikörpertechnologie von Morphosys und dem Wirkstoff Guselkumab exemplarisch dargelegt werden.

Morphosys wurde 1992 auf Basis einer – damals vollkommen neuen – Idee gegründet: Eine Technologie zu etablieren, um rein menschliche Antikörper als Therapeutika herstellen und optimieren zu können. Das Konzept der HuCAL (Human Combinatorial Antibody Library)-Technologie, einer humanen kombinatorischen Antikörperbibliothek, wurde von Morphosys Ende der 1990er Jahre zur kommerziellen Reife entwickelt (Knappik et al., 2000). Bei dieser Technologie wird das humane Antikörperrepertoire durch kombinatorische DNA-Synthese nachgeahmt und die erhaltenen zehn Milliarden Antikörpervarianten mittels Phagendisplay auf die Bindung des entsprechenden Zielmoleküls (Antigens) getestet [2]. Die Bibliothek wurde bioinformatisch konstruiert, indem die vorhandenen humanen Antikörpersequenzen analysiert und als Vorlage für das Design genutzt wurden. Der synthetische Charakter ermöglicht die Einführung spezieller Schnittstellen, und diese wiederum eine effiziente Verbesserung und Veränderung der erhaltenen Antikörper.

Definierte Restriktionsschnittstellen, die die schwere und leichte Kette der Antikörper sowie alle CDRs (Complementarity-determining regions) flankieren, gestatten einen schnellen Austausch derselben, um beispielweise Bindungsstärken verbessern oder den Antikörper in unterschiedlichste Formate konvertieren zu können. Dieser rationale Ansatz, voll humane Antikörper herzustellen, war zu dieser Zeit ein Durchbruch in der Entwicklung biologischer Wirkstoffmoleküle. Aber der Weg von der akademischen Technologieidee zur industriellen stabilen Plattform ist lang.

Die Phagenexperten in Firmen und Universitätslaboren konnten damals zwar Antikörper isolieren, allerdings waren diese nicht selten gegen sehr einfache Antigene gerichtet oder Glücksfälle. Auch war die Anzahl der gegen ein Zielmolekül isolierten Antikörper sehr gering und erlaubte deshalb nicht viele Möglichkeiten, um Antikörper gegen bestimmte Regionen des Moleküls auszuwählen. Bevor die Technologie industriell stabil wurde, war also viel Standardisierungsarbeit zu leisten und die Erfahrung aus zahlreichen Projekten notwendig.

Ein Medikamentenkandidat muss sich auch industriell produzieren lassen können. Das aber hat man als Wissenschaftler nicht notwendigerweise gleich im Blick, wenn die Experimente im Labor gut aussehen und der Antikörper die gewünschte Effektivität in der Zellkultur und im Tiermodell zeigt. Die Erkenntnis, dass der betreffende Antikörper stabil in großen Mengen im Fermenter produziert werden muss und dass er nicht – wie viele natürliche humane Antikörper – sogenannte posttranslationale Modifikationen (Glykosylierungen, Proteaseschnittstellen, Isomierungsstellen et cetera) enthalten darf; dieses Wissen erwirbt man manchmal erst durch Rückschläge. Posttranslationale Modifikation ist für Antikörper im Serum eines Menschen relativ unbedeutend – für ein Medikament, das in hoher Reinheit, in hohen Konzentrationen und über lange Zeit gelagert werden muss, aber prohibitiv. Auch diesbezüglich war die Optimierung der Technologie ein längerer Prozess, um die Chancen zu erhöhen, am Ende ein vermarktbares, klinisch entwickelbares Produkt zu erhalten.

Ein weiterer Faktor, der den kommerziellen Erfolg einer stabilen Technologie verzögern kann, ist die Auseinandersetzung um Patente. Auch diese unangenehme Erfahrung musste Morphosys in den Frühtagen machen. Aufgrund eines Patentstreits mit der britischen Firma Cambridge Antibody Technology, der erst 2002 beigelegt werden konnte, scheuten sich potenzielle Partner anfangs, Vereinbarungen einzugehen.

Aber es gab Ausnahmen. Das 1979 gegründete und seit 1999 zum US-Konzern Johnson & Johnson gehörende Biotech-Unternehmen Centocor war schon 2000 so mutig, eine Kooperation mit Morphosys zu starten. Der Ritterschlag für eine Technologie ist sicherlich, diese bei einem Partner in einem unabhängigen Labor mit sorgfältig geschriebenen Protokollen genauso zum Laufen zu bekommen wie im eigenen Entdeckungslabor. Eben dieser Technologietransfer war ein Teil des Vertrags – und die Tatsache, dass die Wissenschaftler bei Centocor in der Lage waren, die junge Morphosys-Technologie in ihrem eigenen Labor ebenfalls zu etablieren, ein wichtiger Schritt zum Beweis der Industrietauglichkeit der HuCAL-Plattform.

Ein zweiter Teil der Vereinbarung mit Centocor beinhaltete bereits die Arbeit auf von Centocor nominierten Zielmolekülen bei Morphosys. Eines dieser Zielmoleküle, das Centocor 2003 benannte, war Interleukin-23 (IL-23).

Dieses Molekül war erst 2000 als wichtiger Botenstoff in entzündlichen Erkrankungen entdeckt worden [6]. Es besteht aus den zwei Untereinheiten p19 und p40, wobei p40 auch Teil des Botenstoffs Interleukin-12 ist, gegen den viele der damaligen Antikörper gerichtet waren. Daher war es lange unklar, dass in Entzündungsprozessen zwei verschiedene Moleküle eine Rolle spielen. Centocor wollte nun gezielt nur das Interleukin-23, also die p19 Untereinheit, treffen, um möglichst spezifisch gegen Erkrankungen wie Schuppenflechte oder Arthritis vorzugehen.

Für die Aufgabe, eine spezielle Untereinheit eines Moleküls (hier das p19) anzuvisieren, war und ist die Phagentechnologie besonders gut geeignet. Sie ermöglichte es, die Antikörperselektion im Reagenzglas zielgerichtet so zu gestalten, dass genau diese Einheit getroffen wird. Die Herausforderung war es, für das damals neue und noch weitgehend unerforschte Zielmolekül IL-23 p19 die komplette Target-Validierung inklusive Essay-Entwicklung durchzuführen, also angewandte Grundlagenforschung zu betreiben. Dies erforderte manche Überstunde im Labor und einiges an Schweiß und Gehirnschmalz, führte aber zum Erfolg. Innerhalb von zwei Jahren konnten in den Laboren von Morphosys genau solche Antikörper gegen IL-23 identifiziert, optimiert und an den Partner übergeben werden. Centocor brachte den Wirkstoff in der Folgezeit in die formale präklinische und später klinische Entwicklung.

Vier Jahre später war der Antikörper in einer Reihe von Tiermodellen getestet, unter GMP-Bedingungen produziert und formuliert sowie in toxikologischen Studien als hinreichend sicher eingeschätzt worden. Daraufhin erteilte die FDA im Mai 2009 einen IND (Investigational New Drug)-Status, also die Erlaubnis für die Durchführung der ersten klinischen Studien, in diesem Fall zunächst bei gesunden Probanden. Der Antikörper erhielt den Namen Guselkumab.

Nachdem diese sogenannten Phase-I-Studien erfolgreich abgeschlossen waren, starteten 2011 die ersten Untersuchungen des Wirkstoffs bei Psoriasis-Patienten in der klinischen Phase II. In dieser Placebo-kontrollierten Studie konnte unter anderem gezeigt werden, dass eine große Anzahl von Patienten bereits nach einer Dosis von Guselkumab eine deutliche Verbesserung der Symptome der Schuppenflechte zeigten.

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In der Zwischenzeit hatte Centocor, das 2011 in Janssen umbenannt worden war, auch noch eine weitere klinische Studie in psoriatischer Arthritis begonnen – eine Erkrankung, bei der Schuppenflechte-Patienten zusätzlich Symptome von rheumatischen Erkrankungen zeigen.

In der ersten von mehreren Phase-III-Studien bei Patienten mit moderater bis schwerer Form von Schuppenflechte, die 2014 begonnen und deren Ergebnisse im Oktober 2016 veröffentlicht wurden, konnten die positiven Ergebnisse der Phase-II-Studie nicht nur im Vergleich zu einem Scheinmedikament, sondern auch im Vergleich zu einer Standardmedikation, der Behandlung mit dem Antikörper Humira, bestätigt werden [1], [7]. Die Studie erreichte die primären und alle wesentlichen sekundären Endpunkte mit statistischer Signifikanz und zeigte bei der Herstellung reiner beziehungsweise fast reiner Haut (gemessen beispielsweise durch die Parameter IGA 0 oder 1 und PASI 90 in Behandlungswoche 16) bei Patienten die Überlegenheit der Behandlung mit Guselkumab.

Im November 2016 teilte Janssen mit, die Marktzulassung für Guselkumab bei den Gesundheitsbehörden in den USA und Europa beantragt zu haben. Im März 2017 meldete Janssen positive Ergebnisse von Guselkumab aus zwei weiteren Phase-III-Studien bei Schuppenflechte. Zudem teilte das Unternehmen im Mai 2017 mit, die möglichen Indikationsbereiche von Guselkumab ausweiten und Phase-III-Studien auch in den Indikationen psoriatische Arthritis und Morbus Crohn, einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung, starten zu wollen.

Natürlich und auch das mussten die Morphosys-Wissenschaftler, wie die anderer Biotech-Unternehmen auch, im Laufe der Jahre lernen, funktioniert Medikamentenentwicklung nicht immer so reibungslos wie bislang bei Guselkumab. Der Stopp eines Programms, das „Abstürzen“ oder auch „Attrition“ genannt, schlägt immer wieder zu. Gründe sind neben den erwähnten biophysikalischen Eigenschaften des Moleküls, die man aufgrund der Erfahrung heute zunehmend im Griff hat, unerwartet auftretende Toxizitäten oder die mangelnde Wirksamkeit des Moleküls, die meistens der Auswahl des Targets geschuldet ist.

Aber auch strategische Entscheidungen aufgrund von Marktgröße, Indikationsfokuswechsel oder Wettbewerb führen dazu, dass im Durchschnitt nur zehn Prozent der Medikamente, die eine IND erhalten, auch den Markt erreichen (Hay et al., 2014). Glücklicherweise sind die Quoten für Antikörper besser, besonders für voll humane, weil die Nebenwirkungen von Antikörpern aufgrund deren Spezifität deutlich reduziert sind. Von ihnen erreicht statistisch gesehen ein deutlich höherer Prozentsatz den Markt. Diese Erfahrungswerte tragen natürlich auch zu den relativ langen Zeitlinien von der Technologie bis hin zum vermarkteten Produkt bei.

Aktuell ist die Hoffnung bei Morphosys entsprechend groß, dass Guselkumab all diese Hürden erfolgreich genommen hat und als erstes Medikament aus der HuCAL-Technologie seinen Weg in die Apotheke findet. Guselkumab ist aber nur einer von mehr als zwanzig klinischen Kandidaten aus dieser Plattform, die aktuell im Menschen in Indikationen wie Alzheimer, Multiples Myelom, Makula-Degeneration oder soliden Tumoren getestet werden.

Inzwischen hat Morphosys das Neugeschäft im Dienstleistungsbereich weitgehend aufgegeben. Stattdessen reinvestiert das Unternehmen seine Mittel, die zum großen Teil aus dem erfolgreichen Partnergeschäft stammen, in die klinische Entwicklung und den Aufbau seiner eigenen Antikörper-Pipeline, insbesondere im Bereich Krebs. Ein erster Wirkstoff daraus, der Antikörper MOR208, hat kürzlich eine zulassungsrelevante Phase-III-Studie in der Blutkrebsindikation „diffus großzelliges B-Zell-Lymphom“ (DLBCL) gestartet.

In der Technologieentwicklung sind Wissenschaftler niemals zufrieden. Die Antikörper-Ingenieure aus Planegg haben die Grenzen ihrer Technologie kennen gelernt und sind stetig damit beschäftigt, diese den neuen Anforderungen anzupassen. So startete Morphosys vor einigen Jahren die Antikörperbibliothek der neuen Generation namens Ylanthia und brachte daraus 2016 gemeinsam mit der belgischen Biotechfirma Galapagos einen ersten Antikörperkandidaten gegen atopische Dermatitis (Neurodermitis) in die klinische Entwicklung.

Aktuell arbeitet Morphosys an den Antikörpertechnologien von morgen und von übermorgen – bis deren Früchte einmal die klinische Entwicklung oder den Markt erreichen, werden die Forscher noch viele Jahre an der Laborbank, am PC oder in der klinischen Entwicklung aktiv sein.



Zum Autor

Markus Enzelberger ist seit 2002 in leitenden Positionen in der Forschung und Entwicklung bei Morphosys tätig und seit April 2017 Interims-Forschungsvorstand. Der promovierte Chemiker ist Miterfinder der HuCAL Platinum- und Ylanthia-Antikörper-Bibiotheken und arbeitete an einer Vielzahl von Programmen der Morphosys-Pipeline, darunter Guselkumab.


Letzte Änderungen: 12.07.2017