Editorial

Überdenken

Wissenschaft in Umbruchszeiten

Von Klement Tockner, Wien/Berlin & Jonathan Jeschke, Berlin


(12.07.2017) Die Wissenschaftslandschaft verändert sich gerade grundlegend, weltweit und teilweise unumkehrbar. Es besteht die große Gefahr, dass im Zuge dieses Prozesses das Grundrecht auf wissenschaftliche Freiheit untergraben wird.

Essays
Illustr.: iStock / Akindo

„Ich wollte etwas tun, das die anderen nicht taten“, so die grundlegende Motivation des Biologen Yoshinori Ōsumi, der im Jahr 2016 den Medizin-Nobelpreis für seine bahnbrechenden Arbeiten zu Abbau- und Recyclingprozessen in Zellen erhielt. Das klingt zwar selbstverständlich für erkenntnisgetriebene Wissenschaftler, doch scheint dies immer mehr zur Ausnahme zu werden. „Mainstream“-Forschung, von wirtschaftlichen Interessen bestimmte Themenauswahl sowie opportunistisches Verhalten gestalten zunehmend den Wissenschaftsbereich, ja gefährden diesen womöglich.

Wissenschaft und Forschung können, was ihr Ausmaß betrifft, als ein globales „Unternehmen“ bezeichnet werden. Pro Jahr werden weltweit knapp zwei Billionen US-Dollar in Forschung und Entwicklung investiert, mit jährlichen Zuwachsraten von fünf Prozent. Das Gesamtbudget entspricht somit in etwa den globalen Militärausgaben. Pro Jahr veröffentlichen neun Millionen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 2,5 Millionen Artikel in 34.500 begutachteten Zeitschriften. Die Folge ist ein enormer Anstieg an Informationen und Daten. Mehr denn je trifft zu, was John Naisbitt bereits vor 35 Jahren geschrieben hat: „we are drowning in information but starved for knowledge“.

Derzeit verändert sich diese Wissenschaftslandschaft grundlegend, weltweit und teils unumkehrbar. Wissensgenerierung wird zunehmend privatisiert, wissenschaftliche Evidenz und gesellschaftliche Einschätzung driften auseinander, die geographischen Zentren der Wissenschaft verlagern sich – und der Matthäus-Effekt führt dazu, dass der Mainstream gefördert wird und bestimmte Fragestellungen in Disziplinen dominieren, andere dagegen selten bis gar nicht adressiert werden. Nach diesem Effekt rufen frühere Erfolge und nicht gegenwärtige Leistungen immer neue Erfolge hervor – er ist auch als „The winner takes it all“-Prinzip bekannt und führt zu kritischen und unnötigen Wissenslücken.

Die OECD-Länder verzeichnen einen kontinuierlichen und deutlichen Anstieg an Investitionen durch die Industrie in Forschung und Entwicklung, während der relative Anteil an öffentlichen Forschungsmitteln abnimmt. Weniger als ein Viertel der Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung werden mittlerweile für öffentliche zivile Zwecke investiert.

Was bedeutet diese zunehmende Privatisierung der Wissenschaft? Es nimmt etwa der Druck zu, Wissen zu patentieren und Forschungseinrichtungen wie Wirtschaftsunternehmen zu führen – es geht um Profit im weitesten Sinne. Somit besteht die berechtigte Gefahr, dass das Grundrecht auf wissenschaftliche Freiheit untergraben wird.

Wirtschaftliche, aber auch machtpolitische Interessen sind mitverantwortlich, dass Zweifel an wissenschaftlicher Evidenz gestreut werden. So klaffen beim Klimawandel oder der Evolutionsbiologie Evidenz und gesellschaftliche Einschätzung zunehmend auseinander. Es gibt zweifelsohne eine Bringschuld seitens der Wissenschaft, den Dialog mit der Gesellschaft intensiv zu führen. Es benötigt aber auch ein klares Bekenntnis: Wir sind eine wissenschaftsbasierte Gesellschaft, wir sind Forschungsnationen. Denn die erkenntnisgetriebene Forschung von heute ist eine unverzichtbare Voraussetzung, um die großen Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können. Herausforderungen, die wir oft noch gar nicht kennen oder die uns noch nicht bewusst sind.

Trotz der immensen Flut an Informationen und Daten nimmt das individuelle und kollektive Wissen im Sinne von Verständnis kaum zu, womöglich sogar ab. Wie soll eine Gesellschaft mit Daten und Informatio­nen verfahren, die zwar vorhanden aber nicht zugänglich sind, etwa weil sie aus ökono­mischen oder politischen Interessen zurückgehalten werden? Wie gehen wir damit um, wenn Daten nur selektiv zugänglich gemacht werden und dadurch zur Desinformation führen? Welche Möglichkeiten bestehen, unentbehrliches Wissen zu generieren, das bisher nicht vorhanden ist, weil kein Interesse oder sogar Widerstand besteht, es zu gewinnen? Die notwendige Entwicklung von Open Science, das heißt der freie Zugang zu Informationen und Daten, darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Großteil des Wissens nicht verfügbar ist oder gemacht wird.

So ist das Budget der amerikanischen Geheimdienste (NSA & Co.) größer als die zivilen staatlichen Forschungs- und Entwicklungsausgaben von Deutschland und Frankreich zusammen. Die Ausgaben in den USA für militärische Forschung und Entwicklung sind sogar noch höher. Wer kontrolliert diese Forschung? Wer hat Zugang zu den Daten und Informationen? Welche ethischen Standards werden angewandt? Es sind öffentliche Mittel, die im Militär- und Geheimdienstbereich verwendet werden, deren Ergebnisse der Gesellschaft gar nicht, selektiv oder zeitversetzt zur Verfügung gestellt werden. Und es sind immer weniger Menschen, die das vorhandene Wissen teilen. Diesen Prozess kann man als Oligopolisierung des Wissens bezeichnen; eine große Gefahr für aufgeklärte Demokratien, für die informierte Bürgerinnen und Bürger essenziell sind.

Auch die geographischen Zentren der Wissensgenerierung verlagern sich. Zwar ist die Reputation der Universitäten im anglo­amerikanischen Raum noch sehr hoch, was sich in Gesamtrankings widerspiegelt, jedoch liegen in den Ingenieur-, Material- oder Computerwissenschaften fast alle Exzellenzzentren bereits in China (inklusive Hongkong), Singapur und Taiwan. Die eindrucksvolle Erfolgsentwicklung der Universitäten in Singapur wird etwa von hohen Repräsentanten vor Ort so erklärt: „Wir hatten eine große Vision, stellten die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung und haben alles daran gesetzt, um die besten ‚Köpfe‘ weltweit anzuziehen.“ Das klingt doch nach einem einfachen Rezept, oder?

Rankings, aber auch die Bewertung von Leistung anhand weniger Performance-Indikatoren, prägen zunehmend die Wissenschaftslandschaft. Sie sind eine Art „Aktienindex“: Studierende orientieren sich in ihrer Ortswahl nach dem Ranking einer Universität, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler messen sich anhand des Hirsch-Faktors, und Regierungen fördern insbesondere ihre topgelisteten Aushängeschilder.

Das Wissenschaftssystem reagiert daher opportunistisch auf Rankings und spezifische Indikatoren; die Entscheidungsmacht in Forschungseinrichtungen verschiebt sich hin zu den oberen Managementebenen, und Hierarchien verstärken sich. Besonders bedrohlich für den Prozess der Wissensgenerierung ist die Verlagerung von intrinsischer hin zu extrinsischer Motivation. Drittmittel und Publikationen in hochrangigen Zeitschriften sind wichtig, dürfen aber nicht zu Lasten von Neugier und der Bereitschaft gehen, Risiken einzugehen und Projekte zu starten, deren Ausgang völlig offen ist. Denn primäres Ziel muss es bleiben, Wissen zu schaffen und vermeintliches Wissen zu hinterfragen.

Forschungsförderungsorganisationen wie der Österreichische Wissenschaftsfonds (FWF) können gegensteuern. Wir müssen noch mehr die besonders risikoreichen Projekte identifizieren, alternative Förderungsformate etablieren und neue Partnerschaften bilden. Insbesondere müssen wir die kreativsten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fördern und ihnen längerfristige Perspektiven ermöglichen. Eine interdisziplinäre Herangehensweise ist oft notwendig, um die großen wissenschaftlichen Fragen unserer Zeit zu lösen. Doch Kommunika­tionsbarrieren zwischen Disziplinen, hierarchische Strukturen, wissenschaftlicher Egoismus, Mutlosigkeit und ein zunehmender Mangel an kreativer Zeit stehen dem oftmals entgegen.

Noch haben wir einen hohen Grad an Freiheit in der Forschung in Ländern wie Österreich, Deutschland und der Schweiz. Es grenzt daher an Fahrlässigkeit, wenn wir diese Freiheit nicht nutzen, um die großen Durchbrüche zu schaffen – zum Wohle der Wissenschaft und zum Wohle unserer Gesellschaft. Yoshinori Ōsumi hat gezeigt, dass es geht!



Zu den Autoren

Klement Tockner ist Präsident des Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) und Professor für aquatische Ökologie an der Freien Universität (FU) Berlin.

Jonathan Jeschke ist Professor für Ecological Novelty an der FU Berlin und dem Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), Berlin.


Letzte Änderungen: 12.07.2017