Editorial

Überdenken

Exzellenz und Mittelmaß

Von Jürgen Mittelstraß, Konstanz


Essays
Illustr.: iStock / Akindo

(12.07.2017) Ein Plädoyer für ein breites Mittelmaß. Denn nur aus diesem erwächst wiederum breite Qualität, die der Wissenschaft am Ende Exzellenz beschert – auch ohne angestrengte Evaluation.

Früher sprach man in der Wissenschaft vornehmlich von Qualität, heute spricht man von Exzellenz. Gemeint ist meist dasselbe. Auch in der Wissenschaft, obgleich diese sich über das stolze Wort Forschung definiert, gelten die für alles menschliche Tun üblichen Unterschiede: man macht eine Sache gut oder weniger gut, manchmal auch schlecht. Das eine heißt Qualität, emphatisch, weil mit besonderen Maßstäben gemessen, Exzellenz; das andere Mangel an Qualität, Mittelmaß oder ganz einfach wissenschaftlicher Müll. Wenn da nicht die unter Wissenschaftlern – vor allem, wenn sie ihr eigenes Tun betrachten – verbreitete Vorstellung wäre, dass alles, was die Wissenschaft tut oder was im Namen der Wissenschaft getan wird, also auch das eigene Tun, qualitätsreich oder, nach neuerer inflationärer Sprachregelung, einfach exzellent wäre. Forschung, so die übliche Vorstellung, ist etwas so Besonderes, dass sie gewissermaßen per definitionem auch etwas ganz Feines, eben Exzellentes ist. Und wenn alle Welt in dieser Weise von exzellenter Forschung spricht, die es zu ermutigen und zu fördern gilt, dann ist natürlich die eigene Forschung immer mit inbegriffen.

Irgendwie scheinen der Wissenschaft, wenn derart aufdringlich von Exzellenz die Rede ist, in der Beurteilung ihrer eigenen Leistungen die Maßstäbe verloren gegangen zu sein. Zwar wird in konkreten Beurteilungszusammenhängen heftig kritisiert und im Antragswesen fleißig abgelehnt, doch bleibt davon die Vorstellung, Forschung, wenn sie nur in den gewohnten Bahnen daherkommt, sei per se etwas Positives, In-sich-Wert-Tragendes, dem Göttlichen Nahes, weitgehend unberührt. Wer forscht, hat den Alltag schon verlassen, und dessen Maßstäbe offenbar auch. Er ist nunmehr mit dem absoluten Geist im Bunde, jedenfalls mit denjenigen, die diesen und noch manches andere, mit dem sich die Wissenschaft schmückt, erfunden haben. Das waren, wenn vom absoluten Geist die Rede ist, streng genommen wiederum die Philosophen, nicht die Wissenschaftler; doch welcher Wissenschaftler lässt es sich schon nehmen, als Philosoph zu gelten oder dessen Geschäft – besser als dieser, versteht sich – zu betreiben. Isaac Newton wurde ärgerlich, als John Locke seiner Physik zur Erkenntnistheorie verhelfen wollte – und schrieb diese (schlecht und recht) selbst; Albert Einstein empfahl sich Philosophen und Theologen mit einfachen deterministischen Konzepten und der beruhigenden Mitteilung, dass Gott nicht würfle.

Hat die Wissenschaft Recht, wenn sie sich in ihren Vertretern so aus dem allgemeinen Arbeitsprozess heraushebt? Wenn sie Forschung als etwas definiert, das jenseits der üblichen Beurteilungsmaßstäbe stattfindet und daher auch von allerlei gesellschaftlichen Anmutungen, etwa ökonomischer oder ethischer Art, geschützt sein will? Wenn sie ihre eigenen Maßstäbe bildet und für diese immer wieder ihre Heroen in Erinnerung ruft? Eine Antwort auf derartige Fragen fällt nicht leicht, und sie wird unterschiedlich ausfallen dürfen. So hat die Wissenschaft Recht, wenn sie sich ein Gefühl dafür bewahrt, dass wissenschaftliche Arbeit kaum unter den üblichen gewerkschaftlichen Orientierungen und der Mentalität von Arbeitnehmern in arbeitsrechtlich streng geregelten Verhältnissen gedeihen wird. Hier geriete der wissenschaftliche Leistungswille unweigerlich unter die Bedingungen einer mehr an Durchschnittlichkeit als an „außertariflicher“ Anstrengung orientierten gesellschaftlichen Normalität.

Doch haben sich nicht längst die Rahmenbedingungen von Wissenschaft grundlegend geändert, und zwar in eine Richtung, in der schon in den 20er Jahren der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner von einer Industrialisierung der Wissenschaft sprach? Wissenschaft ist – zumindest in vielen ihrer Teile – nicht mehr ein Tun „in Einsamkeit und Freiheit“, von dem noch der Universitätsgründer Wilhelm von Humboldt sprach, und sicher nicht mehr allein die Leistung großer Individuen wie etwa Gottfried Wilhelm Leibniz, Isaac Newton, Charles Darwin und Max Planck. An ihre Seite sind große Teams und große Maschinen getreten, die von Hunderten von Wissenschaftlern bedient und betrieben werden. In manchen Publikationen der (experimentellen) Physik nimmt die Aufzählung der Autoren fast ebenso viel Raum ein wie die Mitteilung der Ergebnisse.

Auch hat sich die Zahl der Wissenschaftler in einer Weise vermehrt, dass hier schon längst nicht mehr von einer eigenen seltenen Spezies gesprochen werden kann, die mit Recht besondere Umweltbedingungen beansprucht. Beliebt (und zutreffend) ist der Hinweis, dass heute mehr Wissenschaftler arbeiten als in der gesamten Geschichte der Wissenschaft zuvor. Ist da nicht, aus der Sicht der Gesellschaft, Wissenschaft wie jede andere gesellschaftliche Arbeit auch? Und beschreiben wir nicht Wissenschaft als Institution wie andere Institutionen, zum Beispiel Finanzämter, auch? Mit anderen Worten: Hat am Ende die großartige Entwicklung der Wissenschaft selbst diese um ihre Ausnahmestellung, die sie einmal auf ihren langen Wegen seit ihrer griechischen Entdeckung beanspruchen konnte, gebracht? Hat Plessner Recht, wenn er resigniert feststellt, dass eine „Logik der Problementwicklung“ die Wissenschaft in Gang hält wie der Produktionsplan einen Betrieb und jeder Wissenschaftler jederzeit durch einen anderen ersetzbar ist? Wenn Wissenschaft die Dimension eines Großunternehmens annimmt, dann gerät sie zwangsläufig auch unter die üblichen ökonomischen und institutionellen Kategorien, die die allgemeine gesellschaftliche Arbeit bestimmen.

Selbst das politische Prinzip der Gleichheit scheint die Wissenschaft zu erreichen, wenn sie nicht mehr in großen Einzelnen, sondern in Kollektiven denkt und, vom allgegenwärtigen Funktionärswesen auch in der Wissenschaft in den Schlaf geküsst, Demokratisierung zum Maßstab auch wissenschaftlicher Entwicklungen erhebt. Nicht nur die Naturwissenschaftler, auch die Philosophen, deren Namen man sich in der bisherigen Philosophiegeschichte noch bequem merken konnte, zählen heute nach vielen grauen Tausenden. Auch Weisheit – wenn dafür die Philosophen zuständig sein sollten – gibt es heute mit Mengenrabatt. Und über allem wacht der regelnde, standardisierende und verwaltende Verstand.

In dieser Situation muss es schwer fallen, Qualität, oder gar Exzellenz, verbindlich zu messen und, wo erforderlich, auch gegen den Trend einer großzügigen Selbstbeurteilung zu sichern. Das hat die Wissenschaft längst selbst entdeckt, aber auch die Wissenschaftspolitik und die Wissenschaftsbürokratie. Allerorten regt sich der geflissentlich beurteilende Geist und befördert, von Experten unterschiedlicher Couleur manchmal schon fast selbstzweckhaft betrieben, eine Arithmetisierung aller wissenschaftlichen Verhältnisse. Der Science Citation Index wird zum heiligen Buch, der Impact Factor zur magischen Zahl. Das eigentliche Stichwort aber lautet Evaluierung. Es ist heute zum Zauberwort geworden, das offenbar alle Türen zu einer qualitätsmäßig gesicherten Zukunft öffnet. War schon zu früheren Zeiten das wissenschaftliche Begutachtungswesen üppig ausgebaut – kein Promotions- oder Habilitationsvorgang, kein Berufungsvorgang, und zwar auf allen Ebenen des Verfahrens, in dem nicht externe Gutachter tätig wurden, kein Drittmittelantrag, in dem nicht doppelt und dreifach begutachtet wurde –, so spottet es heute jeder Beschreibung. Ganze Kolonnen von Evaluierern gehen übers Land, kein Institut, keine Universität, keine andere wissenschaftliche Einrichtung, die vor ihnen sicher ist. Ein neuer Furor ist ausgebrochen; wir sind in der Wissenschaft auf dem besten Wege, ein Volk von Evaluierern zu werden.

Dabei hatte Wissenschaft stets etwas mit besonderen Formen der Prüfung, der Begründung, der konstruktiven Skepsis und Kritik zu tun, und sie ist gut damit gefahren. Nachdem sich nunmehr aber der verwaltende Verstand der Sache angenommen hat, wird aus einer Selbstverständlichkeit, aus einem Habitus, der das wissenschaftliche Tun auszeichnete, eine sich krakenhaft ausbreitende Institution. Diese macht kaum etwas besser, als dies zuvor der wissenschaftliche Verstand selbst getan hatte, aber sie lässt sich besser vorzeigen und beruhigt alle – die Prüfenden, die Geprüften und die Prüfungen Veranlassenden – ungemein. Und dies ist wohl auch der eigentliche Grund hinter dieser ungeheuren Geschäftigkeit, die sich mit dem Begriff der Evaluierung heute in der Wissenschaft, in den Universitäten ebenso wie bei der Max-Planck-Gesellschaft, verbindet: Evaluierung verschafft ein gutes Gewissen, auf allen Seiten. Seht her, wir tun was! Etwas, das uns vor Mittelmaß, Untermaß, Verschwendung, Ineffizienz, Ineffektivität, Lug und Trug schützt. Und wer derartige dornige Wege geht, der kann nicht schlecht sein. Ein blauer Engel sollte her, der in Wissenschaftsdingen umweltfreundliche Qualität attestiert. Und mehr noch: Qualität und Exzellenz ist nicht etwas, das die Wissenschaft in ihrem eigenen Tun, in Forschung und Lehre, täglich schafft, sondern ein Resultat von auferlegten Prüfungen, Evaluierungen eben. Ich bin geprüft, also bin ich (…ein toller Wissenschaftler)!

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Dabei ist in Sachen Qualitätssicherung gewiss noch viel zu tun. Nicht zuletzt infolge seines ungeheuren Wachstums ist das Wissenschaftssystem derart ­unübersichtlich geworden – auch unter Qualitätsgesichtspunkten – , dass schon lange nicht mehr als wissenschaftlich begründet und gesellschaftlich gerechtfertigt gelten kann, was nur den Ausdruck „wissenschaftlich“ im Wappen oder Schilde führt. Die Frage ist nur, ob unsere Evaluierungsfeldzüge auf diese Situation die richtige Antwort sind. Und die Antwort wird Nein lauten müssen. Evaluierungen sind zu Ritualen geworden, die weniger der tatsächlichen Qualitätsbeurteilung – mit entsprechenden negativen oder positiven Konsequenzen für die evaluierte Einrichtung – als vielmehr ­Gesichtspunkten der Legitimation dienen. Sie bestätigen meist das Bestehende, und wo nicht, bleiben sie in der Regel folgenlos. Das gilt vor allem dort, wo sich Wissenschaft selbst in den neuen Formen evaluiert. Kein System, auch nicht das wissenschaftliche, tut sich selbst gern weh, und wenn doch, dann in verträglichen Dosen oder aus anderen Gründen, zu denen allemal politische und persönliche Gründe zählen.

Wann wird in Deutschland auch eine Wissenschaftseinrichtung wirklich geschlossen? Und wenn – von wenigen mühsamen Ausnahmefällen bei der Max-Planck-Gesellschaft abgesehen sowie bewirkt durch Bemühungen des Wissenschaftsrates im Bereich der Leibniz-Institute –, dann wird, wie im Falle der Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1990 nicht aus wissenschaftlichen Gründen, nach vorausgegangener Evaluierung, sondern aus politischen Gründen geschlossen – die in diesem Falle die Ungründe der Berliner Alternativen Liste und einer schwachen Berliner SPD waren. Evaluierung hätte da womöglich Gründe gegen eine Schließung zu Tage gebracht, und die wollte keiner der politisch Beteiligten. Die Moral von der Geschicht: Evaluierungen schaden nicht, und wenn geschadet werden soll, dann besser ohne wirkliche Evaluierung.

Müssen wir uns mit der Existenz von Evaluierungen als Legitimationsritualen, der undurchschaubaren Gemengelage von Exzellenz, Qualität und Mittelmaß, dem ungelösten Problem einer Qualitätssicherung mit und ohne Evaluierung abfinden? Bleibt wissenschaftliche Exzellenz das weitgehend uneingelöste Versprechen eines Systems, das die Qualität liebt und das Durchschnittliche fördert? Ist Wissenschaft möglich ohne Durchschnittlichkeit oder Mittelmaß? Vermutlich nicht – weshalb sich auch jenseits von Pessimismus und Resignation Tröstliches zu erkennen gibt. Denn Mittelmaß ist in der Wissenschaft der Preis der Qualität und der Exzellenz. Oder anders formuliert: Damit Exzellenz wirklich werden kann, muss viel Qualität gegeben sein; und damit Qualität wirklich werden kann, muss viel Mittelmaß gegeben sein. Allein Exzellenz, nichts anderes, wollen wäre nicht nur wirklichkeitsfremd, sondern für die Entstehungsbedingungen von Exzellenz vermutlich fatal – sie verlöre die wissenschaftliche Artenvielfalt, aus der sie wächst. Und darum eben auch: Nicht nur Erbarmen mit Durchschnittlichkeit und Mittelmaß, sondern zufriedene Unzufriedenheit mit diesen. Es ist das breite Mittelmaß, das auch in der Wissenschaft das Gewohnte ist, und es ist die breite Qualität, die aus dem Mittelmaß wächst, die uns in der Wissenschaft am Ende auch die Exzellenz beschert – mit oder ohne angestrengte Evaluierung.

(Der Essay wurde zuvor bereits veröffentlicht in Gegenworte 5, 2000: 22-25)



Zum Autor

Jürgen Mittelstraß ist emeritierter Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Konstanz und Direktor des Konstanzer Wissenschaftsforums.


Letzte Änderungen: 12.07.2017