Editorial

"Mehr Licht"

Strukturbiologie im 21. Jahrhundert

von Oliver Einsle, Freiburg


(12.07.2016) Strukturbiologen sollten Röntgenstrukturanalyse, Cryo-Elektronenmikroskopie und NMR nicht länger als konkurrierende Methoden betrachten. Strukturbiologische Fragen lassen sich nur mit allen drei gemeinsam lösen.

Essays
Illustration: Fotolia / freshideas

Die Strukturbiologie bedient unseren grundlegenden Wunsch, Objekte, für die wir uns interessieren auch sehen zu können – das macht ihren ganz besonderen Reiz aus. Als echte Augentiere bauen wir Teleskope und Mikroskope oder kaufen uns zumindest einen Fernseher. In der Welt der Atome und Moleküle, der Chemie und Biochemie, stoßen Lichtmikroskope (auch höchstauflösende) aber an ihre Grenzen. Die Beugung des Lichts, auf der die vergrößernde Bildgebung basiert, funktioniert nur, solange sich die Wellenlänge des benutzten Lichts auch in der Größenordnung der untersuchten Objekte bewegt. Für die Darstellung atomarer Details benötigen wir daher Wellenlängen von etwa 0,1 bis 0,2 Nanometer. Das entspricht etwa der Länge einer C–C-Einfachbindung (0,15 nm).

Die atomare Mikroskopie hatte deshalb nur zwei Optionen aus denen letztlich zwei grundlegende Methoden der Strukturaufklärung hervorgingen: Zum einen die Röntgenstrukturanalyse, die die Beugung kurzwelliger, energiereicher Röntgenstrahlen des Lichtspektrums an bestrahlten Objekten ausnützt; zum anderen die Elektronenmikroskopie, die Elektronen (also Elementarteilchen) mit ähnlich hoher Energie und kurzer Wellenlänge einsetzt.

Dank ihrer negativen Ladung lassen sich Elektronen über elektromagnetische Linsen fokussieren, was den Bau einer bildgebenden Optik und damit eines echten Elektronenmikroskops ermöglicht. Grundsätzlich kann ein Elektronenmikroskop problemlos einzelne Atome sichtbar machen – die Schwierigkeiten beginnen jedoch beim Arbeiten mit weichen (biologischen) Proben: Elektronen haben durch ihren Teilchencharakter eine ungleich größere Masse als Photonen und damit auch einen Impuls, der sich auf die Probe überträgt und diese in kürzester Zeit schädigt und zerstört. Gleichzeitig liefern die leichten Atome biologischer Makromoleküle nur schwach kontrastierte Bilder, was durch möglichst lange Belichtungszeiten ausgeglichen werden muss.

Diese entgegengesetzten Anforderungen limitierten die atomare Elektronenmikroskopie über Jahrzehnte. Dennoch hat sie insbesondere bei der Strukturbestimmung großer Partikel wie dem Ribosom oder den Capsiden verschiedener Viren Großartiges geleistet.

Demgegenüber steht die Proteinkristallographie: Obwohl die weitgehend masselosen Röntgenphotonen eine biologische Probe weitaus weniger schädigen, finden wir in den Preislisten einschlägiger Gerätehersteller keine Röntgenmikroskope. Der Grund ist einfach: für Röntgenstrahlen existieren keine bildgebenden Optiken oder Röntgenlinsen. Wir können die Strahlen an einem Makromolekül beugen, die gebeugten Wellen lassen sich aber nicht wieder einsammeln und zu einem vergrößerten Abbild vereinigen.

Der Weg zur Lösung dieses vor mehr als einem Jahrhundert erkannten Problems war steinig. Er wurde jedoch, unter anderem gepflastert durch zahlreiche Nobelpreise, soweit gangbar gemacht, dass die Röntgenstrukturanalyse die bis heute konkurrenzlos erfolgreichste Methode der ‚atomaren Mikroskopie’ ist.

Für ihren Erfolg mussten die Pioniere der Röntgenstrukturanalyse etliche Hindernisse aus dem Weg räumen. Eines der größten war das Problem, ohne bildgebende Optiken oder Röntgenlinsen ein Bild aus den gebeugten Wellen herauszulesen. Dies gelang schließlich durch die Kristallisation von Proteinen. Die unzähligen, in Reih’ und Glied stehenden Kopien des in die Kristallstruktur eingebundenen Moleküls, verstärken die gebeugten Röntgenstrahlen durch konstruktive Interferenz um etliche Größenordnungen.

Die Kristallbildung ist grundsätzlich entropiegetrieben (durch den teilweisen Verlust der geordneten Hydrathülle der Makromoleküle) und damit exergon. Sie funktioniert also immer – worüber sich zugegebenermaßen nicht alle Proteine im Klaren sind. Die Herstellung qualitativ hochwertiger Einkristalle wird daher häufig als Flaschenhals bei der kristallographischen Strukturaufklärung angesehen. Die Probleme liegen aber eher in der Bereitstellung homogenen Proteinmaterials, also auf der Seite der präparativen Biochemie.

Auch wenn es meist anders wahrgenommen wird, ist die Situation auf Seiten der Elektronenmikroskopie keine grundsätzlich andere: Trotz direkter Bildgebung erzwingt die schwache Kontrastierung der erhaltenen Bilder eine Verstärkung durch systematische Mittelung: Die beobachteten Projektionen verschiedener Anordnungen (‚Klassen’) des untersuchten Moleküls in der gefrorenen Probe werden vielfach gemittelt. Die erhaltenen, kontrastreicheren Bilder vereint man dann zu einer dreidimensionalen Rekonstruktion.

Bei der Röntgenbeugung führen die Forscher die Kristallisation in der realen Welt durch und verlagern die Bildgebung in den Computer. Bei der Elektronenmikroskopie ist es genau umgekehrt: Auf die reale Bildgebung folgt die Verstärkung durch Mittelung im Computer. Das Ergebnis der beiden Beugungsmethoden ist so verschieden nicht: der Forscher erhält jeweils eine Karte mit der Verteilung (‚Dichte’) von Elektronen im Raum, die ihm die Grundlage für den Bau eines molekularen Modells liefert.

So viel zum technischen Aspekt. Wenn wir dieser Tage während einer verdienten Kaffeepause zum Wissenschaftsmagazin unserer Wahl greifen, seien es Science, Nature oder – bevorzugt – das Laborjournal, so wird schnell deutlich, dass sich in der Welt der Strukturbiologie etwas ereignet hat. Fast jeder Artikel, der sich nicht mit CRISPR-Cas9 oder einem Flug zum Mars befasst, beschreibt eine neue Molekülstruktur, die mit Hilfe der Elektronenmikroskopie in einer Qualität aufgeklärt wurde, die bis vor Kurzem der kristallographischen Röntgenbeugung vorbehalten war – und dies ohne die Grenzen, die durch die ­Kristallisierbarkeit gesetzt sind. Die ­Kommentare reichen von ‚The end of blob-ology’ (Nature Methods) bis zu ‚the revolution will not be crystallized’ (Nature).

Die Grundlage dieser Revolution bildet eine Reihe erstaunlicher technischer Neu- und Weiterentwicklungen der vergangenen Jahre. Insbesondere die immer weiter fortschreitende Detektor-Technologie beschert beiden Techniken durch CMOS-basierte, direkte Photonen- beziehungsweise Elektronenzähler um Größenordnungen höhere Empfindlichkeiten.

Zusammen mit der Tiefkühlung – und bald weiter verstärkt durch Phasenkontrast-Optiken (‚phase plates’) – hat insbesondere die Elektronenmikroskopie eine Darstellungsqualität erreicht, die für Jahrzehnte immer nur als vages Versprechen weit entfernt am Horizont erschien. Ribosomen, Spleißosomen, aber auch integrale Membranproteine und Enzyme werden in nie dagewesener Präzision aufgelöst, und fast täglich vermelden Strukturbiologen neue Auflösungsrekorde (derzeit ca. 1,9 Å) oder Rekorde der minimalen Proteingröße (derzeit 120-200 kDa).

Die Cryo-Elektronenmikroskopie ist für Nature Methods die Methode des Jahres, und nicht von ungefähr lautete die ursprüngliche Vorgabe des Laborjournals für diesen Essay: ”Was kann die Kristallographie noch immer besser als Cryo-EM und NMR und wo ergänzt sie diese?“ So wichtig die Klärung der Frage nach dem schnellsten Sportwagen, dem größten Pool und der besten Methode zweifellos auch unter Strukturforschern sein mag, und so verständlich es ist, bei der Beantragung eines Großgeräts die Fähigkeiten dieses Geräts auch adäquat hervorzuheben – so sehr geht der hier angesprochene Vergleich an der eigentlichen Bedeutung und Chance der gegenwärtigen Entwicklung vorbei. Die Fortschritte der jüngsten Zeit sollen und dürfen nicht zu einem Streit unter Methodikern führen. Sie sollten uns vielmehr vor Augen führen, dass die Strukturbiologie in heutiger Zeit ein multivariantes (gerne auch ‚integratives’) Werkzeug für molekulare Fragestellungen geworden ist. In seiner methodischen Vielfalt (XRD, EM, NMR, X-MS, FRET, [your favourite method here]) erlaubt sie es uns endlich, die tatsächlichen biologischen Fragestellungen anzupacken.

Wir lösen Kristallstrukturen nicht mehr länger, weil die zugehörigen Proteine zufällig gut kristallisieren. Das große Ribosom ist nicht mehr länger das ideale Objekt der Elektronenmikroskopie – und es wird nicht (viel) länger genügen, sich nur auf eine einzige Methode der Strukturaufklärung zu stützen. Alle zusammen bilden das Technik-Arsenal, mit dem wir in der nahen Zukunft unser Bild der Zelle als fundamentaler Organisationseinheit allen Lebens von Grund auf neu definieren werden.

Dies beginnt im Kleinsten, wo biochemische Fragestellungen letzten Endes mechanistische sind. Ein chemischer oder enzymatischer Mechanismus umfasst die Struktur aller relevanten Reaktionsintermediate sowie deren jeweiliger Umwandlungsraten ineinander. Im atomaren Detail ist die Röntgenbeugung hier sicherlich konkurrenzlos.

In der nächsten Stufe stellt sich die Frage nach der Interaktion und Dynamik der Proteine in der Zelle. Gerade hier greifen alle denkbaren Techniken in fast idealer Weise ineinander. Auf der nächstgrößeren Skala wiederum ist es die Elektronen-Tomographie, die uns ein nie dagewesenes Verständnis der Ultrastruktur einer Zelle ermöglicht.

Die Kristallographie kann in ihren guten Momenten durchaus auch innerhalb von Stunden zur Aufklärung einer Proteinstruktur führen. Wenn ein Komplex jedoch aufgrund seiner intrinsischen und funktionalen Flexibilität nicht kristallisiert, ist die Elektronenmikroskopie unschlagbar. Beide Techniken können wiederum Grundlage für die Untersuchung der Proteindynamik durch NMR-Spektroskopie liefern. Sie verstehen schon: Today, there’s only one Strukturbiologie. Struktur ist nur ein Vehikel auf dem Weg zum Verständnis der Funktion.

Alles gut also? Fast! Das Vorhalten aller beschriebenen Methoden ist ein teurer Spaß. Die Preise der Spitzenmodelle von Cryo-EM und NMR-Geräten sind vergleichbar. Für den Preis eines dieser Instrumente lassen sich alternativ etwa 50 moderne Röntgendiffraktometer beschaffen (die nun wirklich niemand benötigt, das gebe ich gerne zu). Die Konsequenz ist jedoch eine unvermeidliche Monopolisierung des Zugangs zu Instrumenten. Die Beschaffung eines hochauflösenden Elektronenmikroskops oder eines 1,1 GHz NMR-Spektrometers übersteigt die Möglichkeiten der meisten Universitäten – spätestens wenn die Rechnungen für Wartungsverträge eintreffen.

In der Proteinkristallographie entspricht dem am ehesten die Nutzung von Synchrotron-Strahlungsquellen, also zentralen – in aller Regel nationalen – Großforschungseinrichtungen, die mit wohletablierten Nutzungskonzepten eindeutig Erfolgsmodelle darstellen. Eine Entwicklung in dieser Richtung ist für die Elektronenmikroskopie sicherlich denkbar und wünschenswert.

Eine weitere Herausforderung liegt in der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses in verschiedenen Techniken auf höchstem Niveau. Für die besprochenen, komplexen Methoden ist dies nicht in grundständigen Studiengängen zu leisten, und ein M.Sc. Structural Biology wäre genau nicht das, was die oben propagierte Fokussierung auf die biologischen Fragestellungen unterstützen würde. Wir benötigen eine integrierte Ausbildung auf dem Niveau von Promovierenden oder Postdocs, was neue Lehrkonzepte erfordert.

Wahr ist auch, dass die Kombination von Methoden dort am besten funktioniert, wo alle an einem Ort verfügbar sind. Für Universitäten ist dies eine echte, strategische Herausforderung, die nur Fakultäten-übergreifend und mit der vollen Unterstützung der Universitätsleitung gelingen kann. Die große Sichtbarkeit der Strukturbiologie kann, soll und wird derartige Strategien nicht zuletzt zu wichtigen Bausteinen kommender Exzellenzinitiativen machen.

Die hierfür notwendigen Weichenstellungen müssen genau jetzt geschehen.

Oliver Einsle ist Professor für Biochemie am Institut für Biochemie der Universität Freiburg.


Letzte Änderungen: 12.07.2016