Editorial

Buchbesprechung

Hubert Rehm




Bernhard Albrecht:
Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen.

Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
Verlag: Droemer HC (1. August 2013)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3426275945
ISBN-13: 978-3426275948
Preis: 20,00 EUR

Engagiert am Krankenbett

Ein preisgekrönter Wissenschaftsjournalist erzählt von aussichtslos erscheinenden Fällen und selbstlosen Ärzten. Kann das gut gehen?

Schon Titel und Klappentext des Buches von Bernhard Albrecht deuten darauf hin, dass es sich um ein Illustriertenbuch handelt, um rührselige Geschichten von tapferen Ärzten und noch tapfereren Patienten, um Stoff fürs Wartezimmer. Flüchtiges Blättern in den neun Geschichten bestätigt diesen Eindruck.

Was mich dennoch zum Lesen bewogen hat, ist die Geschichte „17 Grad“. Es geht um einen besoffenen Jugendlichen, der sich in einer Sylvesternacht im Alpenvorland verirrt und leblos im Schnee aufgefunden wird. Ein Arzt müht sich um seine Wiederbelebung. In Kürze: Der Junge wird um 13:05 Uhr mit einer Körperkerntemperatur unter 20 °C aufgefunden; es folgt ein zweieinhalbstündiger Transport erst zum Provinzkrankenhaus Murnau, dann zum Deutschen Herzzentrum in München. Die ganze Zeit wird der Patient einer Herzdruckmassage unterworfen und wärmt langsam auf. In Murnau stellt man eine Kerntemperatur von 17 °C fest. In München wird der Patient an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, die sein Blut aufwärmt. Um 16:35 Uhr ist eine Kerntemperatur von 25 °C erreicht: Das Herz wird durch Elektroschock wieder in Gang gesetzt. Der Patient belebt sich wieder. Nach knapp zwei Monaten stirbt er an, möglicherweise unterkühlungsbedingter, nichtinfektiöser Darmentzündung.

Die Geschichte hat mich deswegen interessiert, weil ich die heutigen ärztlichen Bemühungen mit historischen Therapien der Unterkühlung vergleichen wollte, insbesondere mit jenen, die der Dachauer KZ-Arzt Sigmund Rascher in den Jahren 1942/43 an KZ-Häftlingen ausprobierte. Die Hauptfrage damals war, ob man Unterkühlte schnell oder langsam aufwärmen solle.

Schnell oder langsam aufwärmen?

Um eine Antwort zu bekommen, kühlte Rascher, zusammen mit den Kieler Ärzten Holzlöhner und Finke, die unfreiwilligen Versuchspersonen in Eiswasser bis auf eine Kerntemperatur von 24 bis 25 °C herunter. Danach wurde wiedererwärmt: unter anderem mit Lichtbogen, geheiztem Schlafsack, Körperwärme von Frauen sowie Wasserbad. Eine Herz-Lungen-Maschine war nicht dabei, derartige Geräte kamen erst in den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf.

Nach dem Dachauer Bericht vom 10. Oktober 1942 war die wirksamste Therapie der Unterkühlung die schnelle Wiederaufwärmung in einem 50 °C heißen Wasserbad, gefolgt von Abreiben. In zwei Fällen sei schon der Herzstillstand eingetreten gewesen und dennoch hätten sich die Personen im heißen Wasserbad erholt. Ein Elektroschocker, um das Herz wieder auf Trab zu bringen, wurde im KZ Dachau nicht benutzt; derartige Geräte kamen erst zehn Jahre später in Gebrauch. Elektroschocker wären in dem Wasserbad auch nicht zu gebrauchen gewesen.

Bei den Dachauer Unterkühlungs-Experimenten kamen mindestens 15 Personen ums Leben.

Rascher alleine führte zudem im Winter 1942/43 Experimente mit bis zu 100 an der Luft bis auf 25 °C ausgekühlten Häftlingen durch. Nach seinen Angaben konnten alle mit einem heißen Wasserbad wieder gerettet werden.

Der Unterschied zwischen damals und heute liegt also nicht im Prinzip, sondern in der Technik: Auch heute wird schnell erwärmt, aber nicht im Wasserbad, sondern mit dem Wärmeaustauscher der Herz-Lungen-Maschine. Letztere hat wohl den Vorteil gleichmäßiger, reproduzierbarer und „von innen heraus“ zu erwärmen.

Ist die alte Methode geeigneter?

Das Wasserbad freilich hat auch einen Vorteil: den der leichten Verfügbarkeit. Der Patient in der „17 Grad“-Geschichte hätte mit Raschers Methode möglicherweise gerettet werden können. Statt ihn zweieinhalb Stunden lang durch die Gegend zu fliegen und ihn dabei langsam aufzuwärmen, hätte man ihn im nächsten Dorf, das nur einige hundert Meter vom Unfallort entfernt liegt, in eine Badewanne mit heißen Wasser legen und nach Erreichen einer Kerntemperatur von 25 °C herausheben, abtrocken und mit einem Defibrillator reanimieren können. Zugegeben, der Vorschlag eines Laien, und sowieso: Hinterher sind alle schlauer.

Interessant ist auch, wie damals und heute die Überlebenschancen eines Unterkühlten abgeschätzt wurden. Heute dient dazu, gemäß Patient meines Lebens, der Kaliumgehalt im Serum. Er zeige die Zellschädigung an. Normal sind 3,5 und 5,0 mmol/l. Ist er auf das Dreifache gestiegen, gilt eine Reanimation als aussichtslos. Bei dem Sylvesterpatienten lag er bei 7,55 mmol/l.

Die Dachauer KZ-Ärzte von 1942/43 bestimmten ebenfalls Blutwerte, zum Beispiel die Glucose- und Na+-Konzentration, nicht jedoch die K+-Konzentration. Gängig war damals die empfindliche (im doppelten Sinn) Fällungsmethode nach Kramer und Tisdall, die ein kompliziertes K,Na,Cobaltnitrat ergibt. Raschers morphiumsüchtiger anorganischer Chemiker, Rudolf Punzengruber, war vermutlich nicht in der Lage, diese Fällung durchzuführen. Als Indikator für eine Erholung geben Rascher, Holzlöhner und Finke vielmehr den Rigor, also die Muskelverspannung des Unterkühlten an: Wenn sich der Rigor löse, die Muskelspannung also verschwinde, sei jede Wiederaufwärmung erfolglos, heißt es in ihrem Bericht.

Anregende Lektüre ...

Patient meines Lebens regte mich also an, gab mir neue Informationen und ich war nach dem Lesen schlauer als vorher. Das Buch enthält sogar gute Tipps, zum Beispiel den, dass uralte Lehrbücher oder Artikel gelegentlich zu Geistesblitzen führen können (was sich der Arzt des Sylvesterpatienten merken könnte). Der Text liest sich leicht und Albrecht scheint auch keine Sympathien für Wunderheiler zu hegen.

Trotzdem: Mich hat das Buch angeekelt, und das liegt an den „menschlichen“, schablonenhaften, tränenseligen Ein­schüben. Sie haben durchweg Arztroman-Niveau. Das kann ich beurteilen: Meine Mutter las begeistert Groschenheftchen und ich habe schon als Zweitklässler ebenfalls darin geschmökert.

... mit ekelhaftem Kitsch-Faktor

In Albrechts „menschlichen“ Versatzstücken steht kein origineller Satz, keine berührende Schilderung, er hat alles aus Pappe gestanzt. Ödes, einfallsloses, schmalz­getränktes, süßliches Geschreibsel, das an Blümchentasse und Schäferhund in handbemaltem Porzellan erinnert. Ein Beispiel:

„Oft spielte ein undurchdringliches Lächeln um ihre Lippen, das mochte er sofort.“

Oder:
„Es waren warme, kluge Augen.“

Oder:
„Yvonne hatte das Gefühl, dass sich all die kleinen Seelen von Kilian verabschiedeten.“

Oder:
„Der Arzt kam direkt auf ihn zu, reichte ihm die Hand, blickte ihm fest in die Augen – ein Mensch trat ihm gegenüber, kein Arzt.“

All das vor dem Hintergrund pilzzerfressener Gesichter, zerwachsener Füße und verätzter Luftröhren. Zum Kotzen!

Ist das berechnend oder naiv? Schreibt das ein Zyniker oder ein Blauäugiger? Nun, Albrecht ist tatsächlich ein Illustriertenschreiber; Grundlage des Buches sind seine Artikel in GEO. Albrecht schreibt aber auch für den Stern. Sie erinnern sich: Jene Illustrierte, die einst mit den Hitlertagebüchern unsterblich wurde und seitdem eine Zombie-Existenz führt.

Zyniker also oder blauäugig? Gemäß dem Klappenfoto hat Albrecht blaue Augen und sein sympathisch verknittertes Gesicht erinnert mich an Ingo, meinen früheren Oldtimer-Mechaniker. Ingo war unheimlich nett. Wenn er mir gegenübertrat und mir die Hand reichte und mir fest in die Augen blickte – dann trat mir ein Mensch gegenüber, kein Mechaniker. Deswegen hat er auch die Kontakte falsch angeschlossen und die Bremszylinder angeschliffen (damit sie zu den ausgeleierten Radlagern passten). Meinen Oldtimer lasse ich inzwischen anderswo reparieren.

Wie Ingo, so scheint auch Bernhard Albrecht nicht den absoluten Durchblick zu haben. In Patient meines Lebens schreibt er beispielsweise: „Denn das Bindegewebe des Schweins war chemisch identisch mit dem eines Menschen, Singhs Körper würde es nicht als ‚fremd’ erkennen.“

Mensch = Schwein?

Ich glaube nicht, dass es irgendein Schwein gibt, dessen Bindegewebe chemisch identisch mit dem irgendeines Menschen ist, es sei denn, dieser ist selber eines.

Des weiteren schreibt Albrecht auf Seite 54 davon, dass Frühgeborene die Welt erblicken. Selbst normale Neugeborene sehen jedoch bei der Geburt nur 30 cm weit und Frühgeborene vermutlich gar nichts. Ferner gibt es keine Anti-NMDA-Auto­antikörper, sondern Anti-NMDA-Rezeptor-Auto­antikörper, und dementsprechend auch keine Anti-NMDA-Enzephalitis, sondern Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis. Es ist auch nicht die Leber, in der das Essen in Einzelbausteine aufgespalten wird, sondern Magen und Dünndarm – um nur die gröbsten Fehler zu nennen.

Was soll man mit solch einem Buch machen? Der praktische Arzt kann es ins Wartezimmer legen; die meisten Patienten werden es lesen – mit offenem Mund und feuchten Augen – und viele werden anschließend die engagierten Ärzte des Buchs mit ihrem eigenen Kuhdoktor verwechseln.

Ich habe damit meinen Kachelofen angefeuert. Wenn man die Seiten ordentlich und einzeln knüllt, entwickelt Patient meines Lebens genügend Hitze, um ein Klafterscheit aus Fichtenholz zu entzünden. Ganz ordentlich für so einen schmalen Band.




Letzte Änderungen: 14.03.2014