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Schwestergene und Nächstenliebe

(18.6.15) Weibliche Bienen, Wespen und Ameisen sind näher mit ihren Schwestern verwandt als mit ihren Töchtern. Aber erklärt das den Altruismus dieser Insekten?
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Eine Bienenarbeiterin handelt scheinbar vollkommen selbstlos: Sie baut Waben, sammelt Futter für andere und opfert notfalls ihr Leben, um das Volk zu schützen. Dabei verzichtet sie auf die eigene Fortpflanzung und versorgt stattdessen den Nachwuchs der Königin.

Dafür gibt es eine bestechend elegante Erklärung: die Haplodiploidie. Hymenopteren – also Bienen, Hummeln, Wespen und Ameisen – können sich sowohl sexuell als auch durch Parthenogenese fortpflanzen. Sexuell gezeugte Nachkommen sind weiblich und diploid. Männchen hingegen entstehen per Jungfernzeugung und tragen bloß den einfachen Chromosomensatz.

75 Prozent verwandt

Dadurch ergibt sich für Mutter und Tochter der gewohnte Verwandtschaftsgrad von 50 Prozent. Den würde man normalerweise auch zwischen Geschwistern erwarten. Doch weil der Bienenvater ja nur einen einzigen Satz Chromosomen trägt, gibt er diesen komplett an jedes Kind weiter. Seine Töchter haben daher einen Verwandtschaftsgrad von 75 Prozent. Eine weibliche Biene ist also näher mit ihrer Schwester verwandt als mit ihrer eigenen Tochter! Ganz klar, dass es da aus Sicht der „egoistischen Gene“ lukrativer ist, die Königin beim Produzieren möglichst vieler Schwestern zu unterstützen, als in den eigenen Nachwuchs zu investieren.

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Und so hat sich die Haplodiploidie zur Mustererklärung für altruistisches Verhalten bei Hymenopteren gemausert und wird ebenso im Bio-LK wie in Insekten-Wikis und Uni-Lehrbüchern gepredigt. Doch erklärt wirklich allein die Haplodiploidie, warum die Bienen ihre Nächsten scheinbar mehr lieben als sich selbst?

Ein kleines bisschen Haplodiploidie

Das Konzept der Verwandtenselektion hat sich in der Tat bewährt, um die Evolution selbstloser Verhaltensmuster zu erklären. Schließlich setzt sich ein altruistisches Allel nur dann im Genpool einer Population durch, wenn unterm Strich genügend Nachkommen mit ebendieser Genvariante produziert werden.

Nun müssten aber auch Menschen (und viele andere Wirbeltiere) dem Bienenbeispiel folgen und ähnliche Sozialstrukturen mit enthaltsamen Arbeiterinnen bilden. Denn denkt man die Sache mathematisch exakt zu Ende, dann ist der Verwandtschaftsgrad zwischen menschlichen Schwestern ebenfalls größer als 50 Prozent – zumindest im statistischen Mittel. Auch wir Menschen sind nämlich „ein kleines bisschen haplodiploid“, nämlich in Bezug auf das X-Chromosom. Davon haben Frauen zwei, Männer aber bloß eins. Schwestern innerhalb derselben Familie haben jeweils das eine dieser X-Chromosomen vom Vater geerbt – es ist bei allen identisch!

Der Effekt mag geringer ausfallen als bei den Hymenopteren, aber er müsste sich langfristig in der Evolution niederschlagen. Doch es gibt ja auch noch die Brüder – und genau die verschweigt das Lehrbuchbeispiel bei der Haplodiploidie. Mit denen ist die Bienenarbeiterin nämlich nur zu 25 Prozent verwandt. So kommt unterm Strich dann doch wieder der übliche Verwandtschaftsgrad von durchschnittlich 50 Prozent heraus.

Die Sache ist aber noch viel schlimmer: Bienenköniginnen treiben es bei ihrem Hochzeitsflug äußerst wild, und zwar mit mehreren Partnern! Bereits 1984 hatten Laidlaw et al. gezeigt, dass die Königin der Honigbiene Spermien vieler Männchen speichert und auch für die Reproduktion nutzt. Die Autoren schätzen eine durchschnittliche Verwandtschaft von kaum mehr als 25 Prozent zwischen den Individuen eines Staates (Genetics 108: 985–97). Da ist es mit der Verwandtenselektion nicht weit her.

„War eine nette Idee“

„Wenn überhaupt, dann spielt die Haplodiploidie nur eine sehr geringe Rolle“ meint dazu der Evolutionsbiologe Laurent Keller, der sich an der Universität Lausanne ebenfalls mit Hymenopteren, insbesondere Ameisen, beschäftigt. „Das war eine nette Idee, sie funktioniert aber nicht“, so sein Fazit. Verwandtenselektion an sich spiele aber sehr wohl eine Rolle, ist er sicher. Zumindest am evolutionären Beginn einer staatenbildenden Spezies. Hier gibt es mit dem Nacktmull sogar ein Beispiel jenseits der Insektenwelt, mit „ganz normalen“ diploiden Individuen, die innerhalb einer Kolonie eng miteinander verwandt sind.

Damit das Modell mit der Haplodiploidie als alleinige Erklärung plausibel ist, müssten die Arbeiterinnen dafür sorgen, dass mehr Schwestern als Brüder produziert werden. Tatsächlich finde man solch eine Selektion bei vielen staatenlebenden Hymenopteren, bestätigt Keller. „Sie töten die Männchen und beeinflussen damit das Geschlechterverhältnis; das ist durch viele Studien belegt.“ Durch die Vielmännerei der Königinnen würden sich eigene Nachkommen aber trotzdem rentieren – rein mathematisch betrachtet. „Es gibt aber noch einen weiteren Faktor“, hakt Keller ein und fragt: „Wie wahrscheinlich ist es, dass sich ein Weibchen, das den Staat verlässt, erfolgreich reproduziert?“ Sofern die eigenen Nukleotidsequenzen sich besser verbreiten, wenn man den Staat unterstützt, wird sich diese Strategie also durchsetzen und erhalten. Dazu braucht es keine Haplodiploidie.

Mario Rembold
Foto:(c) Gregor Inkret /iStockPhoto

 

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Letzte Änderungen: 03.08.2015