Editorial

Biomarker für Gehirne auf Abwegen

Die 5. Neuauflage der "Bibel" der Psychiatrie (DSM-5) sieht noch immer keine Biomarker zur Diagnose von psychischen Erkrankungen vor. Forscher aus der Biologischen Psychiatrie  verabschieden sich daher vom DSM als Goldstandard und arbeiten an einer neuen Systematik.
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(25. November 2013) Die Biologische Psychiatrie hat im letzten Jahrzehnt versucht, möglichst gute Biomarker für Krankheitskategorien wie Depression oder Schizophrenie zu liefern. Doch ihre Laborergebnisse wollten sich einfach nicht in eine unzweideutige Beziehung zu dem Symptom-Katalog DSM bringen lassen, dem vom Amerikanischen Psychiater-Verband APA herausgegebenem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders.

Das DSM-System dient Therapeuten weltweit als Standard für die Einordnung der Patienten in eindeutige Krankheitsbilder. Die Diagnose erfolgt rein klinisch, anhand eines Clusters an Symptomen. Schizophren ist beispielsweise, wer in seinem Kopf Stimmen hört, mit denen er sich unterhält oder die ihm Befehle geben. Obwohl von der Schizophrenie seit längerem bekannt ist, dass sie eine Krankheit mit hohem genetischen Anteil ist, gehören genetische Marker nicht zur Standard-Diagnostik. Schließlich erkranken nicht alle Träger von Risiko-Genen. Umgekehrt gibt es  Schizophrenie-Patienten, deren Gene kein erhöhtes Risiko erkennen lassen. Welchen Nutzen also hätte ein so wenig eindeutiger Test für die Therapeuten?

Zeit, den Spieß umzudrehen

Aus Sicht traditioneller Praktiker ist die symptom-orientierte Diagnostik daher zuverlässiger und die Zeit noch nicht reif, die neuen Erkenntnisse aus Genetik und bildgebenden Verfahren zu integrieren - so aufregend und vielversprechend sie auch klingen mögen. Sie wollen warten bis die Neurobiologie Biomarker findet, die besser in die etablierten Kategorien passen.

Unter Biologischen Psychiatern aber regt sich immer selbstbewussterer Widerstand gegen diese Sicht der Dinge. Aus der schlechten Übereinstimmung von Symptom-Clustern und messbaren Faktoren ziehen viele inzwischen einen ganz anderen Schluss. Sie drehen den Spieß um und sagen: nicht mit den Biomarkern stimmt etwas nicht, sondern mit der Kategorisierung nach komplexen Symptomen.

"Das ist doch so, als ob man im Rest der Medizin Diagnosesysteme allein auf der Art des Brustschmerzes oder der Qualität des Fiebers aufbauen würde", wetterte Thomas Insel, Direktor des US-amerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH) im Mai, kurz vor Veröffentlichung von DSM-5, in seinem Director's Blog.

Verliert DSM den Bibel-Status?

Aus Insels Sicht besteht der Wert des DSM darin, eine gemeinsame Sprache zu definieren, um Psychopathologien zu beschreiben. Im Gegensatz zu anderen medizinischen Krankheitsbildern wie AIDS, koronarer Herzkrankheit oder Lymphomen zeichneten sich die psychiatrischen Krankheitsdefinitionen des DSM aber durch das komplette Fehlen objektiver Labordaten aus. Eine "Bibel" könne es daher nicht (mehr) sein. Dafür würde es dem Werk an Validität fehlen.

"Man muss sich nur mal vorstellen, wir würden Elektrokardiogramme (EKGs) ablehnen, nur weil nicht alle Patienten mit Brustschmerz Veränderungen im EKG zeigen. Das ist das, was wir seit Jahrzehnten tun, wenn wir neue Biomarker ablehnen, weil sie nicht die Kategorien des DSM detektieren." Und Insel bleibt nicht bei Kritik, sondern zieht deutliche Konsequenzen. Das NIHM, erklärte er, werde nicht länger mit DSM-Kategorien arbeiten.

Der Berliner Hirnforscher und Psychiater Henrik Walter nennt das "eine wirklich ernste Schlussfolgerung". Und in der Tat muss man sich das auf der Zunge zergehen lassen. Walter fasst die Situation in seinem aktuellen Artikel in Frontiers in Psychology so zusammen: "Kurz bevor der offizielle Diagnostik-Leitfaden der APA veröffentlicht wird, nach einem Jahrzehnt der Arbeit, verkündet die größte Wissenschaftsorganisation für Psychische Gesundheit, dass sie sich vom DSM als Goldstandard abwendet."

Neuer Ansatz: bottom-up statt top-down

Aus heiterem Himmel kommt dieser Donnerschlag aber nicht, arbeitet das NIMH doch schon seit einigen Jahren an einer grundsätzlich neuen Systematik für die Definition von Psychopathologien -    den Research Domain Criteria oder kurz RDoc. Die Klassifikationen sollen bottom-up aus der Verhaltensneurobiologie entwickelt werden. Statt von einer Krankheit ausgehend darunterliegende neurobiologische Grundlagen zu suchen, starten Forscher bei RDoc von unten, von bekannten Beziehungen zwischen Verhalten und Gehirn und untersuchen diese als Module, die mit verschiedenen klinischen Phänomenen verlinkt sein können.

Das macht einen enormen Unterschied in der Planung künftiger Studien. Denn es werden dann nicht mehr etwa Depressive oder bestimmte Angst-Kranke mit der Normalbevölkerung verglichen. Sondern es wird eine Gruppe von ganz unterschiedlich diagnostizierten Patienten untersucht, die  in einem bestimmten Risiko-Gen übereinstimmen oder die gemeinsam haben, dass sie eine gesteigerte Schreckhaftigkeit oder Angstempfinden haben.

Von solchen mechanistisch schon relativ gut erfassten Konstrukten ausgehend, können jetzt mehrdimensional Befunde erhoben werden - molekulare, physiologische und Imaging-Befunde sowie beobachtbares Verhalten und Selbst-Berichte. Das Ziel besteht darin, unabhängig von der sich manifestierenden Krankheit herauszufinden, welche Eigenschaften und Symptome über verschiedene Ebenen hinweg clustern.

Dritte Welle der Biologischen Psychiatrie

Gemeinsamkeiten und Querverbindungen zwischen Teilgruppen der sonst getrennt erforschten Krankheiten kennt man schon einige. Von Risiko-Genen für Schizophrenie ist bekannt, dass sie ebenfalls das Risiko für unipolare und bipolare Störungen erhöhen. Und Auffälligkeiten in  bestimmten Tests für die Emotionsregulation, wie sie sich in bildgebenden Verfahren zeigen, findet man in einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Angst- oder Depressions-Krankheiten.

Für Henrik Walter ist die Abkehr der Forschung vom DSM-System ein Zeichen von vielen, dass sich die Psychiatrie mal wieder in heftigem Umbruch befindet. Er spricht von der "Dritten Welle der Biologischen Psychiatrie", die wie ihre Vorgänger-Wellen im 19. und in der Mitte des 20. Jahrhunderts das Potenzial hat, das Verständnis von Psychopathologien wieder einmal auf ganz neue konzeptionelle Füße zu stellen.

 

Brynja Adam-Radmanic

Abb.: iStock Photo



Letzte Änderungen: 15.01.2014