Editorial

Genomik höchstpersönlich

Wegen einer mysteriösen Erbkrankheit untersucht ein Vater das Genom seiner Tochter kurzerhand im eigenen Hobbykeller. Und tatsächlich, mit Unterstützung der Sequenzierfirma Illumina fand er schließlich die Ursache des Syndroms – eine Mutation im Wachstumsfaktor TGF-β3.
editorial_bild

(2. Juli 2013) Das Herz – über dieses Organ machen sich die Eltern am meisten Sorgen, wenn sie an die Zukunft der kleinen Bea Rienhoff denken. Schon bald nach der Geburt fällt dem Kinderarzt auf, dass die Augen des Mädchens ein wenig weiter auseinander liegen als bei anderen Kindern; auch einige andere Merkmale zeigen Untersuchungsbedarf an. Vor allem Beas Muskeln entwickeln sich nicht altersgemäß – deshalb vermuten die Ärzte ein Risiko für das Herz, den wichtigsten Muskel des Menschen.

Es bestand zwar nie akute Lebensgefahr und Bea ist heute eine quicklebendige Neunjährige, die den orange Gürtel im Karate errungen hat. Aber was den Eltern keine Ruhe lässt: All die Diagnosen und Untersuchungen stellen am Ende nur fest, dass Beas Symptome zu keiner der bekannten Erbkrankheiten passen. Wie also sollen die Eltern und Ärzte wissen, wie sich die Krankheit weiter entwickeln wird? Kein Arzt kann den Eltern sagen, ob es im späteren Leben zu schweren Komplikationen kommen wird.

„Ein neuartiger genetischer Defekt, den wir nicht kennen und nicht verstehen.“ Hugh Rienhoff, Beas Vater, war nicht bereit, diese frustrierende Situation hinzunehmen. Er nahm die Sache also selbst in die Hand. Schließlich hatte er eine Ausbildung in klinischer Genetik absolviert. Als Biotech-Unternehmer hatte Rienhoff zudem Kontakt zu Wissenschaftlern und Biotechnologie-Unternehmern, die mit neuen Sequenziertechnologien arbeiteten. Sein Plan: Wenn Ärzte und Spezialisten nicht wissen, worin die genetische Ursache für Beas Symptome liegt, dann muss man es eben selbst erforschen. Und zwar schnell. Für die langen Entscheidungszeiten der Forschungseinrichtungen, mit ihren Review Boards und Genehmigungsanträgen, meinte er keine Zeit zu haben.

Ein Pionier der Do-it-Yourself Biology

Hugh Rienhoff kaufte sich also gebrauchte Laborgeräte für weniger als 2.000 Dollar und extrahierte im Keller seines Hauses die DNA seiner Tochter sowie der ganzen Familie. Er verglich ausgewählte Gene aus dem Erbgut seiner Familie mit Datenbankinformationen des Humangenomprojekts und hoffte so die entscheidende Mutation aufzuspüren. Und ganz nebenbei wurde er auf diese Weise zu einem Pionier der Do-it-Yourself-Biology.

Die Geschichte des tatkräftigen Vaters, der nichts unversucht lässt, hat über die Jahre immer wieder die Öffentlichkeit bewegt; 2007 waren Vater und Tochter Rienhoff etwa auf der Titelseite von Nature zu sehen. Und als die DNA-Arbeiten im Hobbykeller offensichtlich nicht zum Ziel führten, brachte die öffentliche Aufmerksamkeit, die dieser dickschädelige Ansatz erzeugte, ihnen wichtige Unterstützer für das ambitionierte Unterfangen in Sachen Familien-Genomik ein.

Denn richtig in Schwung kam das Projekt erst, als in der kalifornischen Sequenzierfirma Illumina einen Mitstreiter fand, der neue Sequenziertechniken samt Know-How bereit stellte.

2008 wähnten sich Riehnhoff und seine Freunde bei Illumina dann am Ziel: Im Transkriptom, also der in RNA übersetzten DNA, fand sich ein bislang wenig untersuchtes Gen, CPNE1, von dem Bea von Vater und Mutter jeweils eine mutierte Version geerbt hatte – ein ganz heißer Kandidat also. Allerdings folgte bald darauf die Enttäuschung: Diese genetische Besonderheit konnte nicht die Ursache für Beas Symptome sein. Mutationen in CPNE1 sind mit nahezu 1 zu 1.000 nämlich recht häufig – es müssten also viel mehr Menschen Beas oder ähnliche Symptome zeigen.

Es hieß also weitersuchen.

Exom-Sequenzierung bringt den Durchbruch

Hatten Rienhoff und seine Helfer bis dahin vor allem auf RNA-Sequenzierung gesetzt, so wollten sie nun mit Exom-Sequenzierung dem mutierten Gen auf die Spur kommen. „Exom“ meint dabei die Gesamtheit aller Exons – also derjenigen Abschnitte der genomischen DNA, die tatsächlich Proteine kodieren. Anders als beim RNA-Sequenzieren, das nur tatsächlich abgelesene Gene erfasst, sequenziert man mit der Exom-Methode auch solche Gene, die beispielsweise nur zu ganz bestimmten Entwicklungsphasen abgelesen werden. Weil man sich aber dennoch nur auf die Exons konzentriert, ist das Verfahren wesentlich billiger als eine Komplettsequenzierung eines Genoms. 2009 war Illumina gerade dabei, diese Methode zu etablieren – und bot den Rienhoffs an, als „Testfamilie“ mitzuwirken.

Es scheint, als hätten Rienhoff und seine Unterstützer mit dieser Methode am Ende tatsächlich die Nadel im Heuhaufen gefunden: eine De novo-Mutation im Gen für den Transforming Growth Factor β3 (TGF-β3). Beas Eltern haben unauffällige Versionen dieses Gens, aber bei Bea selbst ist eine der beiden Kopien mutiert. Diese neue Version des Gens kodiert folglich für ein TGF-β3, das nicht mehr voll funktionsfähig ist. Details zur Genetik und Zellkulturstudien zur Funktionalität des mutierten TGF-β3-Proteins sollen demnächst im American Journal of Medical Genetics erscheinen.

TGF-β3 ist ein wichtiges Signalprotein in der Embryonalentwicklung, es kontrolliert Teilung und Differenzierung der Zellen. Andere Mutationen im TGF-Signalweg sind beispielsweise Ursache des Marfan-Syndroms, das zum Teil überlappende Symptome zeigt. Vielleicht wirft die neue Entdeckung demnach auch ein neues Licht auf die molekularen Ursachen dieses sehr viel häufigeren Syndroms.

Ein absoluter Einzelfall?

Aber wird das Wissen um die Mutation in TGF-β3 Bea ganz konkret nützen – denn das war schließlich der Antrieb für das Projekt? Vom Finden der Ursache bis zu therapeutischen Ansätzen ist es sicher noch ein weiter Weg. Was die Rienhoffs aber schon bald gerne wissen würden: gibt es noch andere, eventuell ältere Patienten mit ähnlichen Mutationen im TGF-β3-Gen? So könnte man mehr über den späteren Verlauf der Krankheit erfahren – darüber also, ob sich Bea und ihre Eltern um potentielle Komplikationen sorgen müssen.

Bei aller Bewunderung für die Hartnäckigkeit und den Pioniergeist des Vaters: Die Geschichte wirft auch Fragen auf. Sollten Hobby-Forscher das Erbgut ihrer eigenen Familie analysieren (dürfen)? Egal, wie man dazu steht: Anderen Eltern von Kindern mit extrem seltenen genetischen Syndromen dürfte Rienhoffs Erfolg jedenfalls Hoffnung machen, dass die Genomik auch für individuelle Einzelfälle dringend ersehnte Antworten liefern kann.

„Personalisierte Genomik“ dieser Art steht zwar auch 2013 noch lange nicht jedem Kind zur Verfügung. Aber wäre Rienhoff heute noch einmal in der gleichen Lage wie vor zehn Jahren, so könnte er von Anfang an auf ein viel größeres Arsenal an Methoden zurückgreifen. Zugleich ziehen Genom-Sequenzierung und Bioinformatik in immer mehr Kinderkliniken ein. Eltern von Kindern wie Bea sollten heute also wirklich nicht mehr selbst zur Pipette greifen müssen.

Hans Zauner

Quellen:

- „Family First“, Nature 498: 408

- „A Father's Genetic Quest Pays Off“, Scientific American online, 28. Juni 2013

- „The Bea Projekt“, Hopkins Medicine Magazine, Fall 2012: 30-35 (01. September 2012)



Letzte Änderungen: 02.10.2013