Editorial

Die innere Mitte

Aus der Reihe „Erlebnisse einer (anderen) TA“

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(04. September 2012) Als ich mich vor zehn Jahren entschloss, TA zu werden, wusste ich noch nicht, wie unglaublich nervenaufreibend dieser Beruf manchmal sein würde. Sicher, ich rechnete mit missglückten Experimenten, anstrengenden Praktikanten und Kollegen – aber sonst stellte ich mir alles recht entspannt vor.

 

Womit ich nicht rechnete, war wie schwierig sich Bestellungen gestalten konnten.

 

Als ich in der Gruppe diesen Job übernahm, erwartete ich, lediglich ein paar Telefonate führen zu müssen – oder, wie in der heutigen Zeit üblich, einfach online bestellen zu können. „Was sollte also schon weiter dabei sein?“, dachte ich naiv.

 

Die folgenden Berufsjahre sollten mich mannigfach eines Besseren belehren.

 

Die vielleicht eindrucksvollste Demonstration für die ausufernde Komplexität mancher Bestellungen erlebte ich vor einiger Zeit mit der Anlieferung von Saatgut für unsere Erbsenanzucht.

 

Die Bestellung an sich verlief ja noch erfreulich einfach: Eine E-Mail an die Saatgutfirma, worauf eine nette Bestätigung vom Chef persönlich folgte – dann wartete ich.

 

Eine Woche später, Freitag gegen 13:30 Uhr – ich freute mich schon auf meinen Feierabend und das kommende Wochenende –, läutet das Telefon. Eine mir unbekannte Stimme nuschelt was von Erbsen, Lieferung und wohin denn? Nachdem ich all das in meinem Kopf entwirrt habe, verweise ich umgehend auf den Zusatz in der Adresse. Dieser erklärt eigentlich alles und hat bisher noch die meisten Lieferanten sicher zum Ziel gelotst.

 

Der Mann legt auf.

 

Eine halbe Stunde später ist der Spediteur wieder am Telefon: „Der Fahrer ist jetzt da!“

 

Ich schaue mich ungläubig im Labor um: Nirgendwo ein Fahrer, und erst recht keine 300kg Erbsen.

 

„Wo denn?“, erkundige ich mich.

 

„Das weiß der Fahrer nicht so genau, irgendwo auf dem Campus jedenfalls!“

 

Plötzlich fällt mir ein Mantra ein, das ich vor 15 Jahren bei meinem ersten und einzigen Kurs für autogenes Training gelernt hatte: Wir finden unsere innere Mitte...

 

Ich atme also tief durch.

 

„Was sehen Sie denn in Ihrer Nähe, beschreiben Sie doch mal…“. Vielleicht lässt sich ja so sein Standort ermitteln.

 

„Moment!“

 

„Hallo?“. Aufgelegt!

 

Diesmal dauert es nur 25 Minuten bis zum erneuten Anruf.

 

„Der Fahrer sagt, er steht direkt vor einer Baustelle!“, präsentiert mir der Spediteur stolz seine neuste Erkenntnis. Aha!

 

Da der Campus Riedberg, ebenso wie das gesamte Stadtviertel dieses Namens, erst entsteht, ist gerade alles im Umkreis von einem Quadratkilometer Baustelle. Wirklich eine große Hilfe, der Mann! Warum habe ich bloß mit dem autogenen Training aufgehört? Erneut atme ich tief durch. Wir finden unsere innere Mitte...

 

„Geben Sie mir doch die Telefonnummer Ihres Fahrers, dann kann er mir das vielleicht genauer beschreiben“, schlage ich hoffnungsvoll vor.

 

„Nee, geht nicht – der spricht kein Deutsch!“

 

„Ich kann englisch“, wende ich ein.

 

„Nee, auch nicht!“

 

„Französisch?“. In dieser Sprache bewegen sich meine Kenntnisse zwar auf Schulniveau, aber ich bin verzweifelt, will in mein Wochenende und für ein bisschen  ´gauche´ und ´droite´ wird es schon reichen.

 

„Nee, nee – geht alles nicht!“

 

Das erklärt immerhin, warum der gute Mann nicht einfach aussteigen und nach dem richtigen Gebäude fragen kann. Wir finden unsere innere Mitte... Ich begrabe meine „Was-ich-Schönes-mache,-wenn-ich-Freitag-früher-raus-komm“-Pläne und rufe ein paar Leute in den umliegenden Gebäuden an, ob sie denn eventuell irgendwo einen Lastwagen stehen sehen würden. Ohne Erfolg! Langsam bleibt mir nur der Trost, dass Erbsensaatgut wenigstens keine empfindliche Ware ist und weder gekühlt noch mit Trockeneis versorgt werden muss. Also kann die Spedition zur Not am Montag einen neuen Versuch starten, vielleicht sogar mit einem wenigstens französisch sprechenden Fahrer.

 

Doch in dem Moment kommt Rettung von unverhoffter Seite.

 

„Da steht ein LKW vor unserer Einfahrt. Könnten das die Erbsen sein?“, fragt unser Gärtner mich, als die Leitung einmal kurz nicht durch den Spediteur blockiert ist. Tatsächlich hat der  Fahrer mit seinem LKW fast zwei Stunden unmittelbar vor dem Gewächshaus gestanden – also ganz genau da, wohin er die Erbsen liefern sollte – und hat nicht einmal sein Führerhaus verlassen.

 

Zwar passieren solche und ähnliche Geschichten glücklicherweise nicht ständig, aber doch mit einer gewissen, perfiden Regelmäßigkeit. Vielleicht spendiert mir mein Chef ja mal einen Auffrischungskurs in autogenem Training?

 

Maike Ruprecht 



Letzte Änderungen: 19.09.2012
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